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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Repression gegen kritische Juden

Deutsche Travestie

Die Welle von Verleumdungen, Schikanen und Repression gegen kritische Juden als Alarmsignal für eine brandgefährliche Entwicklung
Von Susann Witt-Stahl
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Wegen »Beleidigung« festgenommen: Udi Raz vom Vorstand der »Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost« (Berlin, 12.4.2024)

Der jüdisch-israelische Filmemacher Dror Dayan ist deutschen Strafverfolgern unangenehm aufgefallen. Die Berliner Polizei ermittelt gegen ihn wegen Verwendung der »From the River to the Sea«-Parole. Wenn linke Oppositionelle wie Dayan damit gegen die Entrechtung der Palästinenser aufbegehren, wird sie als »Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen« betrachtet. Benjamin Netanjahus Likud-Partei hingegen, die 1977 in ihrem Gründungsmanifest alles Land zwischen dem »Meer und dem Jordanfluss« völkerrechtswidrig zu israelischem Staatsgebiet erklärt hat, wird von der Ampelregierung bedingungslos unterstützt. Aufschlussreich aber vor allem der Kriminalisierungsversuch einer weiteren Äußerung von Dayan: »Wir lassen die Geschichte nicht umschreiben. Die Palästina-Solidarität wird nicht zum Sündenbock der Nazienkel.«

Zur von Dayan kritisierten revisionistischen Vergangenheitsbewältigung gehört neben der ideologischen Ausschlachtung des Holocausts für die Abwälzung der deutschen Schuld auf die Palästinenser verstärkt auch die perfide Aneignung der Opferrolle durch übergriffige Identifikation mit dem Judenstaat: »Was jüdisch ist, darf nicht existieren. Es ist erstaunlich, dass auch Deutschland als Ganzes jetzt in diesen Bann des Antisemitismus gerät«, jammerte der ARD- und Deutschlandfunk-Journalist Sebastian Engelbrecht nach internationalen »Strike Germany!«-Boykottaufrufen (eine Reaktion auf die »reaktionäre Welle« von Repression, Zensur etc. gegen Kulturschaffende und Wissenschaftler). »Das Land der Judenfreunde wird gestrichen, wird ausradiert aus der Welt.« Wo die Anhänger der führenden Achsenmacht von gestern noch einen »Bombenholocaust« gegen das Täterland halluzinieren, viktimisieren Influencer des NATO-gestützten deutschen Imperialismus es längst schon mit gleicher Larmoyanz zum zweiten »Juden unter den Staaten« neben Israel. Für den israelischen Autor Michael Sappir ist die »Zuspitzung der Absurdität« von »Deutschlands obsessiven Proisraelismus« ein Zeichen, dass dieser gezielt als Werkzeug für die Rechtfertigung von Fremdenfeindlichkeit und anderer Rechtstendenzen eingesetzt wird. »Diese deutsche Travestie ist eine Warnung, die weit über die Landesgrenzen hinaus zu hören sein muss.«

Um genau das zu verhindern, versuchen Politik und Medien kritische Juden, die sich dieser »ekelhaften Instrumentalisierung der Holocausterfahrung« in Deutschland – wie sie der britische Schoah-Überlebende Stephen Kapos kürzlich in einem Interview anklagte – widersetzen, zum Schweigen zu bringen. Der Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« ist seit Jahren Schikanen ausgesetzt: von rufmörderischer Verleumdung bis zur Kontokündigung. Seit dem 7. Oktober auch willkürlichen Demonstrationsverboten und Drangsalierungen durch die Staatsgewalt, wie Vorstandsmitglied Udi Raz bei der rabiaten Auflösung des von der »Jüdischen Stimme« mitorganisierten Palästina-Kongresses am 12. April 2023 in Berlin erleben musste: Polizisten hätten mit Fingern auf ihn gezeigt und sich über seine Kippa lustig gemacht, berichtet Raz. Als er diese hässliche Entgleisung beim Namen genannt und dagegen protestiert habe, sei er von den Beamten wegen »Beleidigung« festgenommen worden.

Bei der Unterdrückung von als »Antisemitismus« diskreditierter Kritik an antidemokratischen deutschen Zuständen, in denen sich Rassismus und andere Elemente des Faschismus wieder sukzessive verdichten, sind polizeistaatliche Methoden integraler Bestandteil, sogar antisemitische Schmähungen erlaubt. Juden, die universell gültige Menschenrechte verteidigten, würden »als Problem markiert«, so Raz. »Dass wir uns eine Realität vorstellen, in der Juden nicht an einem Völkermord beteiligt sind – das ist etwas, das Deutschland uns nicht erlaubt.«

Seit die Partei Die Linke sich willfährig nach der Decke der »deutschen Staatsräson der Israel-Solidarität« streckt – die der Architekt der Nürnberger Rassengesetze Hans Globke im Auftrag Adenauers designt hatte –, gibt es keine nennenswerte Opposition mehr gegen die rapide Beschleunigung einer brandgefährlichen Entwicklung, die der Dichter Erich Fried früh als »Wiederschlechtmachung« erkannt hatte. Im Gegenteil: Politiker des hegemonialen NATO-Flügels der Linkspartei betreiben eine ideologische Enteignung der Opfergeschichte von mit der »Zeitenwende« inkompatiblen jüdischen Linken: Die »Jüdische Stimme« versuche, »Begriffe des Gedenkens an NS-Opfer gezielt zu kapern und an ihre Stelle antisemitische Propaganda zu stellen«, dämonisierte Petra Pau jüngst eine Organisation, deren Mitglieder größtenteils von Holocaustüberlebenden abstammen, und sprach ihnen faktisch das historische Recht ab, aus ihrer eigenen jüdischen Erfahrung emanzipatorische Lehren zu ziehen.

»Deutschland möchte wieder zur Militärmacht aufsteigen, um jeden Preis«, erklärt Dror Dayan die ausufernde Hetze. Und er beleuchtet die materielle Basis unter dem ideologischen Nebelschleier angeblicher »Antisemitismusbekämpfung«, die immer häufiger fortschrittliche Juden ins Visier nimmt: Vom durch Adenauer ab 1961 heimlich finanzierten Nuklearwaffenprogramm in Dimona bis zum Import des Raketenabwehrsystems »Arrow 3« für den Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine – Israel fungiere als »Bollwerk« des deutschen Imperialismus im Nahen Osten. »Es geht um die NATO, nicht um Auschwitz.«

Hintergrund: Hetze gegen kritische Juden

Die Meinungsfreiheit von jüdischen Oppositionellen ist in Deutschland extrem eingeschränkt. Das »Archive of Silence« hat seit dem 7. Oktober 2023 135 Verbote und erzwungene Absagen von Veranstaltungen und Zusammenkünften, die der Kritik an der Netanjahu-Regierung verdächtig waren, registriert – mindestens ein Drittel davon wären erkennbar mit jüdischer Beteiligung gewesen (Stand 24.4.2024). Die SPD-Chefin Saskia Esken cancelte vergangenen Herbst sogar ein Treffen mit dem jüdischstämmigen US-Senator Bernie Sanders, nachdem dieser sich gegen die israelische Hungerblockade des Gazastreifens ausgesprochen hatte. Begründung: Er habe sich nicht »klar an die Seite Israels« gestellt. Die Berliner Polizei hat im April für das mittlerweile geräumte palästinasolidarische Protestcamp vor dem Reichstag ein Verbot für Reden in hebräischer Sprache erlassen.

Hetze und Stigmatisierungen, die meist auf die jüdische Herkunft zielen, werden seit Jahren auch im linksdeutschen Politikspektrum verbreitet. So war zum Beispiel in der Wochenzeitung Jungle World über den propalästinensischen Filmemacher Dror Dayan zu lesen: »Der Antisemitismus bekommt den Koscher-Stempel und der Jude seine Absolution.« Auf dem offiziellen Social-Media-Kanal des Geschäftsführers der DJU in Verdi Berlin-Brandenburg fand sich ein von einer »antideutschen« Gruppe erstellter Steckbrief von Dayan.

Es gibt auch globkedeutsche Kontinuitäten: Mit Bernd Neumann, Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien a. D., ist bis heute ein CDU-Politiker Präsident der deutschen Filmförderungsanstalt, der 1977 die Verbrennung von Gedichten des jüdischen Schriftstellers Erich Fried gefordert hatte. (sws)

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