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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 12 / Thema
DDR-Literatur

Schiffbruch in der Moderne

Zum 50. Jubiläum von »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura« von Irmtraud Morgner
Von Julia Keller
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Phantastik plus Realismus, plus Femiminismus auf sozialistischer Grundlage – die Schriftstellerin Irmtraud Morgner (22.8.1933–6.5.1990) hatte es in der DDR nicht immer leicht (Chemnitz, November 1962)

»

Ich bin aus der Historie ausgetreten, weil ich in die Historie eintreten wollte.« Mit diesen Worten fällt die altprovenzialische Minnesängerin Beatriz de Dia im Jahr 1160 in einen 810jährigen Zauberschlaf, der das patriarchale Feudalwesen überspringen und sie endlich in »menschliche Zeiten« bringen soll.¹ Jedoch wird sie am 6. Mai 1968 verfrüht geweckt, als eine Baufirma ihre Burgruine zugunsten einer Autobahn sprengt. Ihre daraus folgenden Irrfahrten durch das erhoffte Reich der Freiheit – von den Pariser Straßenkämpfen bis hin zu den volkseigenen Fließbändern Ostberlins – schildert die DDR-Schriftstellerin Irmtraud Morgner in ihrem sonderbaren Montageroman: »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura« von 1974. Durch buntes Genrechaos – Science Fiction und Märchen, Reiseführer und Heldenepos zugleich – lässt Morgner mittelalterliche Minnekultur mit einer Moderne kollidieren, deren raue Rückständigkeit schon fast dazu verleitet, ihre Vorgeschichte fortschrittlich erscheinen zu lassen. Messerscharfe Satire schlägt sich letztlich auf die banalst mögliche Beobachtung über 1968 nieder: Hat sich doch alles geändert – und nichts?

Die wiederauferstandene Minnesängerin Beatriz de Dia vagabundiert barfuß durch Barrikadenkämpfe, Streikwellen und LSD-Offenbarungen. Die Zeitreisende, deren Herkunft so authentisch französisch ist, dass sie Frankreich vorausging, hat keine Papiere und wird fast abgeschoben. Bald landet sie auf dem Strich. Sie lernt, sich für Dinge zu verdingen. Sie baut eine buchstäbliche Versschmiede, womit sie ­industrielle Liebesgedichte für die Massen produziert. Eines Tages hofft sie, das Geschlecht ihrer alten höfischen Muse Raimbaut von Orange in einer Schlagzeile erblickt zu haben. Jedoch handelt der Artikel von Agent Orange, ein von den USA im Vietnamkrieg eingesetzter Kampfstoff, der schwerste Schäden bei der Zivilbevölkerung verursachte. Muss Beatriz’ Wunsch, durch das dunkle Mittelalter zu schlummern, um endlich in aufgeklärten Zeiten aufzuwachen, in einem wahren Alptraum münden? Entsetzt fleht sie ihre heidnische Göttin um ein weiteres Jahrtausend Zauberschlaf an. »Kaum auferstanden und schon schlapp«, grinst die Göttin.

Ansiedlung im Paradies?

Somit führt Beatriz de Dias Sprung über ihre eigenen historischen Bedingungen hinweg zu einem Schiffbruch in einer nicht weniger zeitwidrigen Moderne, in der Menschen bereits revolutionierte industrielle Produktivkräfte anwenden, um längst überholte Naturgesetze zu reproduzieren. Doch die Erkenntnis dieser Krise führt Beatriz nicht etwa in eine Sackgasse, sondern steht am Ausgangspunkt des Romans: Deutet nicht gerade das gespenstische Fortleben zurückgebliebener Knechtschaftsverhältnisse auf das Potential, ebenso unzeitgemäße utopische Gesellschaftsentwürfe auf dem Boden des Bestehenden entwickeln zu können?

»Ansiedlung im Paradies«, gibt Beatriz als Grund für ihre Einwanderung in die DDR an, zum erheblichen Misstrauen der Grenzpolizei. Im gerühmten Sozialismus, wo Kunst weder Ware noch Museumsstück, sondern ein so grenzenloses Gemeingut wie Luft sein, wo Künstler nicht Beruf sondern Berufung ergreifen und Arbeit anstelle von Qual Spiel werden sollte,² hofft Beatriz endlich dichten zu können, ohne mit ihren Lebensbedingungen in Widerspruch zu geraten. Für politisch-ideologische Arbeit als ungeeignet zurückgewiesen, tritt sie in den Zirkus ein. Dort provozieren ihre Auftritte einen Leserbrief von einer Lokführerin namens Laura Salman, in dem sie die »Schändung des kulturellen Erbes« einer historisch fortschrittlichen Frau durch einen angeblichen Zaubertrick verurteilt, der »tatsächlich eine Stripteasenummer« sei. Doch als Beatriz die Lokführerin aufspürt, stellt sich heraus, dass eine Studentin den Leserbrief verfasst und Lauras Name dafür benutzt hatte, weil sie »eine proletarische Stimme für gewichtiger hielt«.

Allmählich erblüht zwischen den Frauen eine feste Freundschaft. Im Gegensatz zu Beatriz’ von Phantastereien beflügeltem ultralinken Voluntarismus weiß sich Laura, eine bodenständige alleinerziehende Mutter, Tatsachen zu stellen. Die Stelle als Beatriz’ Spielfrau übernimmt sie mit einem praktischen Blick auf die Anerkennung als steuerbegünstigte freiberufliche Tätigkeit und der Aussicht, Beatriz in die Kinderbetreuung einzubinden. Als diese allerdings ihrem Sohn Rezepte zur Bombenherstellung anbietet, droht Laura mit der Polizei, hält aber letztlich doch einen Vortrag über Lenins »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« für die bessere Kur. Beatriz’ Berufung als Trobadora empfindet Laura nicht für zeitgemäß: den Männern so bald nach der gesetzlichen Gleichstellung auch noch die erotische Domäne streitig zu machen, sei ein zum Scheitern verurteilter taktischer Fehler. Obgleich es inzwischen Frauen geben möge, »die sich als Subjekte empfänden«, würden ihnen unter zeitgenössischen Männern die »notwendigen besingenswerten Gegenstände« noch fehlen. Statt dessen rät Laura Beatriz, als Journalistin für ein Frauenmagazin tätig zu werden. Denn Beatriz empfindet sich für die Realität zu schade; Laura hingegen nicht schade genug.

Unversöhnliches zusammengeflickt

Als aber die desillusionierte Beatriz die Kunst überhaupt und damit auch Lauras Stelle über den Haufen zu werfen droht, verfällt die Spielfrau auf einen Kompromiss: den Montageroman. Laut Laura bildet sich der Montageroman aus einer Kette von »schnellen Würfen«, die den »gesellschaftlich, nicht biologisch bedingten Lebensrhythmus« der schreibenden Frau spiegeln. Das Bedürfnis, von den alltäglichen Handgriffen Abstand nehmen zu müssen, um sich eine neue Welt vorstellen zu können, wird durch unberechenbaren Störungen und die »Simultanität von Tätigkeiten und Gedanken« zerstreut, die die Haushaltsführung und Familienversorgung abverlangen. An Stelle eines souveränen Rückzugsortes wird das eigene Zuhause, gar der eigene Körper, zum intimen Arbeitsplatz der unbezahlten zweiten Schicht, die mit dem Feierabend erst anfängt. Diese scheinbar ungerechte Arbeitsteilung ist in der Klassengesellschaft die einzig gerechte. Denn die Arbeiterklasse verdient keinen Lohn für die Arbeit, deren Produkt im Kapitalismus wertlos ist: die Reproduktion der Arbeiterklasse selbst.³

Durch die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kapital und Lohnarbeit fegte die russische Revolution 1917 zum ersten und bislang letzten Mal all seine historischen Ausdrucksformen, darunter hierarchische Ehe, unerwünschte Schwangerschaft, binäre Geschlechterrollen und von Staat und Kirche sanktionierte Spielarten des Sexualverkehrs, auf den Trümmerhaufen der Vorgeschichte. Freilich ließ sich die befreite Gesellschaft nicht auf einen Sprung erzielen. Die erhoffte Weltrevolution blieb aus. Um das weltumspannende Kapital eines Tages auf internationaler Ebene aufzuheben, war die revolutionäre Führung zunächst genötigt, ihre eigenen Landesgrenzen zu verteidigen. Um die bürgerliche Familie aufzuheben, schmückte sie ihre fleißigsten Produzenten im Dienst der Wiederherstellung ihrer durch Krieg dezimierten Armee und beschädigten Volkswirtschaft mit Mutterschaftsmedaillen. Um die Klassen aufzuheben, verteilte sie die Produktionsmittel von den Kapitalisten an die Arbeiter um. Um die Geschlechter aufzuheben, stellte sie Mann und Frau durch sorgfältige Bilanzierung von Lohntabellen und Beschäftigungsquoten gleich.⁴ So verwirklichte sich der Sozialismus in einem Land.

Nur im Reich des Realsozialismus konnte der Morgnerische Montageroman entstehen. Wie das Geschöpf Frankensteins lebt er von dem Zusammenflicken unversöhnlicher Widersprüche. Neben Bibelversen, schmutzigen Gedichten, Auszügen aus Sachliteratur zum Mittelalter und zur Kernphysik sowie selbstironisierenden Interviews der Autorin mit ihren Romanfiguren montiert Morgner sieben Kapitel aus ihrem unveröffentlichten Roman »Rumba auf einen Herbst« in »Beatriz« hinein. Ursprünglich 1966 zur Veröffentlichung vorgesehen, wurde »Rumba« die Druckgenehmigung vom Ministerium für Kultur entzogen.⁵ Aber im Gegensatz zu Künstlern, die aus Protest gegen staatliche Zensur in den Westen auswanderten, bekannte sich Morgner rückhaltlos zum Aufbau einer neuen Weltordnung, in der alle Produktion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vermittelt würde. Vor diesem Hintergrund stellt »Beatriz« einen höchst ambitionierten experimentellen Versuch realsozialistischer Selbstkritik dar.

Hexenhaft und negativ

Nicht ohne Augenzwinkern antwortet Morgner dabei auf den »Bitterfelder Weg«, der die ungeschönte Abbildung des Alltags der Arbeiterklasse betonte, mit ihrem einzigartigen Stil des magischen Sozialistischen Realismus. Beispielsweise beschwert sich eine Einwohnerversammlung bei dem Leiter eines Forschungsinstituts, dass die einzige Frau unter den Physikern hexenhaft über die Freileitung zur Arbeit schwebe. Jene metaphysische Verkehrsverbindung, und das in ihrem Zuge gelüftete spitzenbesetzte Perlon, gefährde die Jugend, die Stromversorgung und die materialistische Weltanschauung. Verlegen bittet der Institutsleiter die Physikerin das seltsame Gerücht auszuräumen in der Überzeugung, dass sie ihn auslachen wird. Statt dessen bestätigt sie die Nutzung überirdischer Beförderungsmittel und fragt überrascht, was er sich denn vorstelle, wie sie als alleinerziehende Mutter jeden Tag pünktlich zur Arbeit erscheinen sollte. Anderntags entdeckt ein Liebespaar, das aus dem reglementierten Alltag im volkseigenen Kreisbaubetrieb ins Jenseits zu flüchten versucht, dass inzwischen sogar Himmel und Hölle der Bürokratie unterstellt worden sind – inklusive strenger Grenzkontrollen.

So bringt die Struktur des Montageromans, indem sich Poesie und Wirklichkeit ineinander verfangen, das fruchtbare wie auch spannungsreiche Verhältnis zwischen Irmtraud Morgner und ihrem Heimatland zum Ausdruck. Eine Feministin, die den Sozialismus als einzigen Weg zur Frauenbefreiung auffasste; eine Renegatin, die den Nationalpreis für Literatur gewann und die Ausbürgerung von Staatsfeinden wie der des Dichters Wolf Biermanns unterstützte⁶; eine Marxistin, die sich sträubte, mit der »stalinistischen Männergesellschaft«⁷ gemeinsam in einer Partei zu sein; eine Staatsdichterin, die der Ankündigung des Zentralkomitees der SED, sie habe die Revolution verwirklicht und die Frauenfrage gelöst, mit Spottschriften begegnete; eine als Pornographin zensierte Künstlerin, die eine noch schärfere Zensur der Pornographie forderte⁸: nur eins ist sicher, Irmtraud Morgner entzieht sich jeder Kategorisierung.

Allerdings stuften die zuständigen Behörden Morgners »Einstellung zur Kulturpolitik der Partei« als »negativ« ein. Während der Arbeit an »Beatriz« wurde sie überwacht. Ihr zweiter Ehemann, der Dichter Paul Wiens, lieferte während ihrer Ehe von 1972 bis 1977 als inoffizieller Mitarbeiter Berichte über sie an das Ministerium für Staatssicherheit. Drohte das feministische, anarchistische und psychoanalytische Gedankengut Morgners oder aber die Subsumierung aller Gesellschaftsbereiche unter einem zusehends verzweigten Staatsapparat das welthistorische Projekt eines neuen sozialistischen Deutschlands zu verraten? In der Tat sind beide Pole, gleich der Auseinandersetzung zwischen Beatriz’ Idealismus und Lauras Pragmatismus, aufeinander angewiesen. Würden wir in einer Welt leben, in der die Revolution nur menschenwürdigen Menschen unter Einsatz menschenwürdiger Mittel gelingen könnte, wäre die Revolution gegenstandslos, weil von einer Menschheit vorangetrieben, die ihrem Begriff bereits gerecht geworden ist. Doch gerade insofern das Bestehende die Freiheit erst in negativer Form entfaltet, sind nicht die Utopisten, sondern die Realpolitiker dem Wahn verfallen, man könne die befreite Gesellschaft aus dem Nichts herbeizaubern.

Während eines Ehestreits, den Morgner aus »Rumba« in »Beatriz« montiert, liefert ein Mann die Definition: »Utopisch ist ein Bewusstsein, das sich mit dem umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet.« Demnach unterstellt er seiner Ehefrau Valeska Doppelzüngigkeit: Wie kann sie den Realsozialismus »als das beste bezeichne(n), was es gäbe«, doch sich selbst als Utopistin? Valeska erwidert: »Wenn ich historisch gerecht sein will, darf ich dir deine sittlichen Gewohnheiten nicht persönlich anlasten, sie sind die allgemein herrschenden. Unserem Staat darf ich sie aber auch nicht anlasten, sonst (verkenne ich) die großen Verbesserungen, die er gesetzlich (…) durchgesetzt hat. (…) Niemand kann aus der Historie austreten, (…) das heißt, ich muss mich prinzipiell mit meiner Lage abfinden. (…) Aber nicht passiv. Das wäre mein Ende. (…) Mein Optimismus lebt von (der) Spannung zwischen den Polen Realität und Kommunismus. (…) Ohne diese Spannung würde ich die Fähigkeit, Männer zu lieben, verlieren.«

Im anderen Körper

Nach der Scheidung ihrer ersten Ehe führt Valeska eine Liebesbeziehung mit einem Mann namens Rudolf, die auf eine harte Probe gestellt wird. Als Valeska eines Tages aus unruhigen Träumen erwacht, findet sie sich zu einem neuen Geschlecht verwandelt: mit Bart, tiefer Stimme und einem Glied jener Art, die sie bisher gewöhnlich erfreute. »Als Objekte. Anverleibt erschien ihr die Zutat« jedoch ein »übler Scherz.«

Verzweifelt reist sie nach Moskau, das im Gegensatz zu »Paris, Rom und anderen Orten der Vergangenheit« den einzig denkbaren Fluchtweg »für einen Menschen in Valeskas Zwangslage, wie dem weiblichen Geschlecht überhaupt« bietet: weder in den Westen noch in den Osten, sondern »nach vorn«. Als sie sich ihrer russischen Freundin Shenja anvertraut, deutet diese die Offenbarung als wahr gewordenes Wunder: »Um in die Historie einzutreten, musstest du aus der Historie austreten.« Wovon lebe der wissenschaftliche Sozialismus, wenn nicht von jenen ungeheuren Entwicklungen, die »mit allen bisherigen Theorien im Widerspruch stehen«? Shenja ermutigt Valeska, rücksichtslos »Natur anzueignen, zuerst die eigne: die Menschwerdung in Angriff zu nehmen«. Hingerissen küsst Valeska ihre Hand. Anschließend »Liebe in der kommunalen Wohnung«.

Während ihrer Abenteuer mit Shenja und anderen Frauen sehnt sich Valeska nach Rudolf. Aber sie hat Angst, dass Rudolf sie nicht persönlich liebt, sondern als »Vertreterin ihrer Art«. Zwar ist Valeska durch ihre Verwandlung genauso wenig zu einem Mann geworden wie sie zuvor eine Frau war. Menschen, im Gegensatz zu Dingen, sind nicht deckungsgleich mit ihrer Erscheinung. Aber wie alle Menschen, die in der kapitalistischen Gesellschaft groß geworden sind, wurde Valeska dazu erzogen, Dinge zu begehren und umgekehrt als Ding begehrt zu werden.

Als sich Valeska und Rudolf endlich nackt gegenüberstehen, erkennen sie, dass sie »notfalls die Bilder entbehren konnten, die sie sich voneinander und die andere für sie gemacht hatten«. So wird nicht nur Valeska, sondern auch Rudolf durch ihre Verwandlung zu einem Menschen. Von allen »wundert sich« dabei Valeskas Sohn »über das Wunder am wenigsten«. Er nennt sie weiterhin »Mama« und versucht, seine Erzieherinnen ebenfalls zur Verwandlung zu überreden. Denn Kindern ist das nie zuvor Denkbare eine Alltagserscheinung.

Generationenprobleme

Durch die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern bringt Morgner nicht nur die Spannung von Utopie und Wissenschaft, sondern auch den Konflikt zwischen der alten und neuen Linken zum Ausdruck, der im Roman vom Zimmermann Oskar Pakulat und seinem Sohn Benno verkörpert wird. Wie Beatriz neigt auch Oskar Pakulat zu Zeitreisen, aber nicht mit Absicht. Wenn er an einem jungen Mann vorbeiläuft, der sich an eine Straßenlaterne lehnt, erscheint es Pakulat so, als wäre er daran gefesselt. Kaum ist Pakulat drei Meter von ihm entfernt, explodiert dem jungen Mann der Kopf und wird Pakulats Gesicht mit Blut bespritzt. So wird Pakulats Genosse, mit dem er vor drei Jahrzehnten zu Zuchthaus verurteilt wurde, an jeder Straßenecke von neuem hingerichtet. Denn Pakulats Vermögen, sich in Zeit und Raum einzuordnen, ist unter den Faustschlägen der Gestapo kaputtgegangen. Um das Verhör zu überleben, bleibt Pakulat kein anderer Ausweg, als aus seiner eigenen Haut herauszutreten. Denn die Wände seiner Gefängniszelle sind, im Gegensatz zu seinem Körper, undurchdringlich. Lange nachdem er aus der Haft heimgekehrt ist, bleibt sein Körper den alten vier Wänden einverleibt, »wie die Schnecke mit ihrem Haus«. Von zärtlichen Gefühlen gegenüber seinem Sohn bleibt er scheinbar unberührt. Schließlich sind Wände, im Gegensatz zum Körper, undurchdringlich.

»Wer andere Menschen unterdrückt, kann selbst nicht frei sein, heißt es«, sagt Benno, »aber mein Vater, ein hochprozentiger Kommunist, hat keine Widerrede geduldet.« Aber der Mensch wird mündig, in dem er für den Skandal seiner Bevormundung nicht die Traditionen toter Geschlechter zur Rechenschaft zieht, sondern sich selbst. Benno hingegen, der lange Haare trägt, Kaugummi kaut, erst ab Mitternacht zu Hause eintrudelt und an seiner Schlafzimmerwand an Stelle von Stalin diverse Aktfotos hängt, spuckt Pakulats Meinung nach auf »alle, die verreckt sind, damit er leben kann, und alle, die sich abrackern, damit er lernen kann«. Zweifellos sind Menschen, die danach streben, ihre Herren abzuwerfen, während sie zugleich andere Menschen knechten oder sich der eigenen kindischen Willkür hingeben, widersprüchlich. Deutet das auf die konstitutive Gewaltförmigkeit menschlicher Beziehungen oder aber auf ihr Potential, sich aus sich selber heraus zu überwinden?

Kaum hat Pakulat mit kühnster Opferfreudigkeit ein neues Deutschland erkämpft, als er zu seinem Entsetzen feststellen muss, dass Bennos Generation von neuem beginnen will. Parolen wie »Venceremos«, die Benno im Tempus »wir werden« ruft, weist Pakulat mit dem Schluss ab: »wir haben«. Während Benno fürchtet mit der Kubakrise vor dem Weltuntergang zu stehen, beharrt Pakulat, dass alle Aussichten positiv seien, weil »gegenüber 1936 (…) die Produktion unseres Betriebes um 320 Prozent gestiegen ist«. So »predigt« die alte Linke laut Benno »von der Zukunft«, doch »misst sie mit Maßstäben aus dem Zeitalter des Handwagens«. Bleibt dem Menschen nach Erlangen seiner Freiheit nichts anderes übrig, als sich mit ihr abzufinden? Benno und seine Kommilitonen sehnen sich nach einer Gesellschaft, die ihren Fortschritt nicht an Jahresendprämien misst, sondern aus einer noch unfertigen Zukunft schöpft.

»Soyez réalistes, demandez l’impossible«, rufen die 68er – seid Realisten, verlangt das Unmögliche. Der Sieg des Sozialismus bildet nicht die Erfüllung dieser Forderung, sondern ihre Voraussetzung. Mit ihm wird ein neues Geschlecht heranwachsen, das das grundlos Gewordene zerreißt und neu zusammenflickt nach dem Muster der Utopie.⁹ Schließlich »können (wir) uns bemühen, zu werden wie (unsere Kinder)«, zitiert Benno den von den Blumenkindern gefeierten Dichter Khalil Gibran. »Aber wir dürfen sie nicht dahin bringen, zu werden wie wir. Denn das Leben geht nicht rückwärts.«

Hoffnung auf Gespenster

Dennoch dämmert im zeitgenössischen Leser der Verdacht, dass die Geburtsstunde der befreiten Gesellschaft ferner ist, als es Beatriz de Dia 1160 vorschwebte. Am 6. Mai 1990, dem zweiundzwanzigsten Jubiläum der Wiederauferstehung von Beatriz, verstarb Irmtraud Morgner viel zu früh an Krebs. Wir können sie mit einem Nelkenstrauß auf dem Sozialistenfriedhof besuchen, aber was gäbe es zu erzählen? Heute wütet der Spätkapitalismus über unsere Köpfe hinweg: Finanzkrise, Pandemie, Krieg. Schließlich hat uns auf der Schlachtbank des 20. Jahrhunderts die rote Fahne nicht in den Weltsozialismus geführt, sondern in den Landwehrkanal und das Niemandsland, worin zwei aufeinanderfolgende Generationen von Arbeitern aller Welt das Artilleriefeuer gegeneinander kehrten. Aus dem Etappensieg der Revolution in Russland ging die Selbstliquidierung der zum Selbstzweck gewordenen ­revolutionären Führung hervor, wodurch die Lebenden von den Toten begraben wurden; und aus ihrer Niederlage hierzulande die alles überschattenden Aschewolken der Krematorien unter dem Zeichen: »Arbeit macht frei.« Verheißt das 21. Jahrhundert einen erneuten Versuch der Vermenschlichung der Menschheit, oder aber ihre letzte Ruhestätte, mit Atompilzen gekrönt?

Die uns von Morgner hinterlassene Zukunftspoesie bietet uns nicht an, diese Frage im Antlitz der Vergangenheit zu beantworten, sondern fordert uns auf, sie als politisches Projekt von neuem zu stellen. Denn Morgner hält an der Hoffnung fest, dass das Gespenst, das Marx und Engels auf der Weltbühne beschworen, uns bis heute heimsucht. »Ich bin ein wandelnder Leichnam«, bekennt Beatriz. »Wie die Geschichte. Die ein Offenbarungseid ist.« Ihre Einlösung hat Morgner dem Leser überlassen.

Anmerkungen

1 Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, München 2010

2 Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie, Berlin 1980, S. 17

3 Vgl. Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1, Berlin, 1962, S. 279 ff.

4 Vgl. Wendy Goldman: Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and Social Life, 1917–1936, Cambridge 1993; Dan Healey: Homosexual Desire in Revolutionary Russia. The Regulation of Sexual and Gender Dissent, Chicago 2001; Mie Nakachi: Replacing the Dead. The Politics of Reproduction in the Postwar Soviet Union, Oxford 2021

5 Vgl. Geoffrey Westgate: Strategies Under Surveillance. Reading Irmtraud Morgner as a GDR Writer, London 2002, S. 76ff.

6 Ebd., S. 182ff.

7 Zit. n. »Morgner: Das letzte Interview«, Emma, 1.2.1990, https://www.emma.de/artikel/irmtraud-mogner-jetzt-oder-nie-die-frauen-sind-die-haelfte-des-volkes-264501

8 Ebd.

9 Vgl. Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Berlin 1962, S. 83

Julia Keller studiert und lebt in Berlin.

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    Antwort an Leserbrief von Joachim S. vom (6. Mai 2024 um 14:24 Uhr): Ihr Kommentar deckt sich weitgehend mit meiner Einschätzung. Mit dem Begriff »Sozialismusversuch« habe ich aber Probleme. Das hört sich so an, als würden Kommunisten Versuche oder »Experimente« mit Menschen machen. Als »Sozialismusversuch« könnte man die Pariser Kommune bezeichnen. Aber Marx hat daraus Schlüsse gezogen und schon die Sowjetunion hat keine »Versuche« unternommen, sondern die Forderungen von Marx umgesetzt. Das gilt erst recht für die DDR und die anderen sozialistischen Länder, die sich – bei allen nationalen Unterschieden – in grundlegenden Fragen an das Vorbild Sowjetunion gehalten haben.
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