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Aus: Ausgabe vom 16.05.2024, Seite 12 / Thema
Kriegsgegner

Durch Krieg gereifter Pazifist

Statt Umkehr und Einkehr die Wiederkehr des »Para bellum«? Zum 100. Todestag von Alexander von Hohenlohe
Von Helmut Donat
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Alexander Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst, geboren am 6. August 1862 in Lindau, gestorben am 16. Mai 1924 in Badenweiler

»Der nächste Krieg wird gar nicht mehr ein Krieg gegen Soldaten sein, sondern er wird gegen die friedliche Bevölkerung hinter der Front geführt werden. Es kann deshalb kein Zweifel darüber bestehen, dass es die Hauptaufgabe ist, den Völkern die Augen zu öffnen. Ich bedaure aufrichtig, dass mein Gesundheitszustand es mir unmöglich macht, eine aufklärende Vortragsreise zu unternehmen. Wenn die Völker fortfahren, sich wie bisher nicht zu verstehen, sei es aus Unverstand oder aus Stumpfheit, dann ist Europa verloren. Da einzugreifen, wäre die Aufgabe der großen Presse. Aber wir wissen ja alle, was die große Presse heute ist. Nein, von der Seite ist nichts zu hoffen.« Ein neuer Krieg, heißt es weiter, würde »der sogenannten europäischen Kultur endgültig den Garaus machen«. Diese Gefahr besteht heute erneut – und in noch größerem Ausmaß. Es ist geradezu frappierend, dass die »große Presse« auch im gegenwärtigen Ukraine-Krieg nicht »eingreift« und sich nicht für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen einsetzt.

Hellsichtige Warnung

So zeitgerecht die Warnungen auch klingen mögen, sie sind vor hundert Jahren am 15. März 1924 von Alexander von Hohenlohe verfasst worden, wenige Wochen vor seinem Tod. Wer aber war dieser hellsichtige, in deutschen Landen heute nahezu vollkommen vergessene Mann? Und was hat ihn dazu befähigt, den Gang der Geschichte vorauszusagen?

Alexander von Hohenlohe gehört zu den bedeutenden Vertretern des deutschen Pazifismus, deren Spuren und geistige Hinterlassenschaften von ihren Gegnern ausgelöscht worden sind, eine »Tradition«, die vom Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Naziregime bis in unsere Tage reicht. Zu deutlich und selbstbewusst haben sie sich schon vor »Unzeiten« gegen den Abschreckungswahn eines Boris Pistorius gewandt sowie gegen das »Si vis pacem para bellum«, für das die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und bellizistisch gesinnte Politiker wie Anton Hofreiter, Michael Roth, Roderich Kiesewetter und viele andere keine Gelegenheit versäumen, den Krieg, den Russland und stellvertretend die USA in der Ukraine führen, zu befeuern.

Gegen solche Durchhalteparolen, die weitere Zerstörungen zur Folge haben, Menschenleben kosten und die der militärischen Pattlage im Ersten Weltkrieg entsprechen, wandte Alexander von Hohenlohe in seinem am 29. Dezember 1917 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) veröffentlichten Artikel über »Die 14 Friedensthesen des Präsidenten Wilson« ein: »Und wer durch das, was er in den drei Kriegsjahren bisher erlebt hat, nicht ganz gegen jedes menschliche Gefühl abgestumpft ist, kann nur mit Schaudern an das denken, was in den nächsten Monaten bevorsteht, wenn jede von beiden kriegführenden Gruppen auf der Entscheidung durch den militärischen Sieg besteht.« Die Leichtfertigkeit, mit welcher der zum Kriegsminister gewandelte Pistorius das »Einfrieren« des Ukraine-Krieges zum bloßen Nutzen Putins erklärt, mag andeuten, wie sehr ihm der »militärische Sieg« vor Augen steht – und ihm die Opfer offenbar egal sind. »Menschenmaterial« nannte es Kriegsminister Erich von Falkenhayn im Ersten Weltkrieg.

Bornierter Kastengeist

Alexander Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst, am 6. August 1862 in Lindau geboren, entstammte einem alten süddeutschen Adelsgeschlecht. Seine ererbte Stellung erlaubte ihm für viele Jahrzehnte ein vornehmes, unabhängiges und sorgenfreies Leben. Es war bestimmt von den verschiedenen hohen Staatsposten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1874–1885 Botschafter in Paris, 1885–1894 Statthalter in Elsass-Lothringen, 1894–1901 deutscher Reichskanzler, Minister des Auswärtigen und preußischer Ministerpräsident). Dem väterlichen Vorbild nacheifernd, strebte der Prinz zunächst einen Botschafterposten an. 1893–1903 vertrat er als Kandidat der Reichspartei sowie der Deutschkonservativen Partei den elsässischen Wahlkreis Weißenburg-Hagenau im Reichstag. 1898–1906 wirkte er als Bezirkspräsident des Ober-Elsass in Colmar. Als Vertrauter und enger Mitarbeiter seines Vaters erhielt Alexander als Legationsrat im Auswärtigen Amt Einblick in das Berliner Hofleben, den Charakter und die Auffassungen Bismarcks und Wilhelms II. Rasch durchschaute der kritisch veranlagte Hohenlohe die Mentalität der bedeutendsten preußisch-deutschen Politiker. Die Öde, Hohlheit und Nichtigkeit der sogenannten »großen Welt« erinnerte ihn an François de La Rochefoucauld Worte: »Ein gesunder Geist gewinnt bei Hofe den Geschmack an der Einsamkeit und einem zurückgezogenen Leben.«

Erstaunt registrierte der gebildete und aufgeklärte Aristokrat den »bornierten Kastengeist« des preußischen Offizierskorps, den er als eine »ausschließlich militärische und noch um ein Jahrhundert gegen die moderne Entwicklung der Menschheit zurückgebliebene Denkweise« kennzeichnete. Er erkannte den überragenden Einfluss der Junker und Militärkreise auf die preußische und deutsche Politik. Seiner scharfen Beobachtungsgabe, die sich mit dem in seiner Familie ausgeprägten »sense of humour« verband, entging nicht, dass die deutsche Außenpolitik in den Jahren vor 1914 eine Verständigung mit Frankreich kategorisch ablehnte sowie einen friedlichen Interessenausgleich mit England als unmöglich erachtete. Besorgt verfolgte er von 1899 an den »Dilettantismus« und die »unglaubliche Unfähigkeit« der deutschen Diplomatie. Erschrocken stellte er fest, mit welchem »geradezu verbrecherischen Leichtsinn von den dabei Beteiligten mit dem Schicksal von Millionen Menschen gespielt worden ist«. Die viel beschworene »Einkreisung« Deutschlands durch Frankreich, England und Russland, eine Bedrohungskulisse, die für immer höhere Rüstungsausgaben und kriegsvorbereitende Maßnahmen herhalten musste, begriff er als eine von der Politik des Auswärtigen Amtes zu verantwortende »Auskreisung«, die, so Hohenlohe, zu der unseligen Entwicklung der europäischen Lage und »letzten Endes zum Weltkrieg geführt hat«.

Eine weitere Parallele tut sich auf. Kriege sind vermeidbar. Das gilt für den Ersten Weltkrieg ebenso wie für den Ukraine-Krieg. Warum aber ist es dennoch zu einem Waffengang gekommen? Die Antwort ist einfacher als gedacht: Wenn einer der Kontrahenten nicht mehr zu Verhandlungen und der friedlichen Regelung eines Interessenkonfliktes bereit ist, gibt es Krieg. Auf dem Höhepunkt der Julikrise 1914 haben Frankreich, England und Russland den anderen Mächten mehrfach vorgeschlagen, den heraufbeschworenen Konflikt auf einer internationalen Konferenz einvernehmlich zu regeln. Deutschland aber war dazu nicht bereit und gab vor, nicht zuständig zu sein, da es sich um ein Problem handele, das allein Österreich-Ungarn und Serbien betreffe. Im Hintergrund aber hat das Hohenzollernreich den österreichisch-ungarischen Bündnispartner angestachelt, den Krieg herbeizuführen.

Von Jean Jaurès stammt die Einsicht, wer nicht mehr verhandlungsbereit ist, will Krieg bzw. nimmt ihn sehenden Auges in Kauf. Das trifft nicht nur für die Julikrise 1914 zu, sondern auch für die Lage vor dem 24. Februar 2022. Die USA und in ihrer Gefolgschaft deren Bündnispartner haben Verhandlungen mit Russland über deren Sicherheitsinteresse schlichtweg abgelehnt und damit den Weg zu einer unausweichlichen Eskalation beschritten mit der Alternative, einen diplomatischen Erfolg zu verzeichnen und eine grandiose Machterweiterung zu erringen oder es auf einen Krieg ankommen zu lassen, der sich dem Gegner anlasten ließ.

Die mit dem »Einkreisungsspuk« künstlich erzeugten Bedrohungsängste, verbunden mit der Auffassung und dem Streben, man müsse jederzeit »kriegsbereit« sein, bestimmte die öffentliche Meinung – ähnlich dem heutigen, auf der Annahme beruhenden Mainstream, dass Russland fortan stets darauf aus sei, den Krieg in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zum unumstößlichen Mittel seines Macht- und Eroberungsdranges zu machen. Einen Beweis dafür gibt es allerdings nicht. Wie vor 1914 in deutschen Hirnen der Gedanke und die Furcht vor der »Einkreisung« tiefe Wurzeln schlug und zu einer fixen Idee wurde, so haben offenbar politische und militärische Kreise heute ein Interesse daran, Russland als einen Feind und Friedensstörer par excellence zu brandmarken. Wir haben es – wie 1914 und 1923 – mit einer »nationalen Einheitsfront« zu tun, in der Schlaubergerei, Großmäuligkeit, gepanzerte Draufgängerei und Kriegsbegeisterung den Ton angeben. Wer auch nur den leisesten Versuch unternimmt, den Betrugsmanövern und Anmaßungen der Wahrheitspächter zu widersprechen oder auch nur ein »Einfrieren« des Krieges vorschlägt, gerät in Verdacht, wird als eine Art Verräter oder Narr hingestellt.

Eines aber steht heute schon fest: Vor dem Hintergrund, dass der Westen und auch Deutschland das Sicherheitsinteresse Russlands fahrlässig ignoriert haben, dürfte der Argwohn nicht nur Russlands, sondern auch anderer Staaten gegenüber der deutschen Politik zunehmen. Und was die Gegnerschaft zum »Einfrieren« des Krieges und zu einer Verhandlungslösung betrifft, sei daran erinnert, zu welchem Urteil The Manchester Guardian am 16. Mai 1917 in einer ähnlichen Lage gelangte: »Die deutsche Regierung lässt sich in ihrer Stellung zum Friedensproblem von keinerlei Prinzip leiten. Sie wartet ab, was zur See oder zu Lande passiert, ehe sie sich entscheidet. Dies ist nicht Staatsmannskunst, sondern Negation aller politischen Führerkraft; denn für einen rechten Staatsmann darf es nicht das Kriegsglück sein, von dem die Politik abhängig gemacht wird, sondern die Politik muss Charakter und Ausdehnung des Krieges bestimmen. Die deutsche Regierung versteht nicht, dass ihr Opportunismus die allgemeine Überzeugung vertieft, dass sie der Feind des Friedens und der Zivilisation ist.«

Roter Demokrat

Alexander sah vor 1914 Kriege noch als ein unvermeidbares Übel an und glaubte, dass über die Beschränkung auf eine möglichst friedliche und vernünftige Außenpolitik hinaus nichts getan werden könnte, um gewalttätige Konflikte zwischen den Völkern auszuschließen. Da er jedoch die Anwendung von Gewalt nicht für wünschenswert hielt, bemühte er sich – zunächst als persönlicher Beistand seines Vaters während dessen Statthalterschaft über Elsass-Lothringen, dann als Beamter auf einer der ersten Verwaltungsstellen des »Reichslandes« – die Bevölkerung mit den Verhältnissen auszusöhnen, die sich für sie aus der Annexion von 1871 ergeben hatten. Durch Rücksichtnahme auf ihre Gefühle und Erinnerungen, durch wohlwollende und gerechte Verwaltung und Respekt vor ihren Eigentümlichkeiten wollte er das Vertrauen der Elsässer und Lothringer für Deutschland gewinnen. Doch bereits seine Erfahrungen als Abgeordneter im Reichstag offenbarten ihm, dass eine »wahrhaft innere Teilnahme und ein wirkliches Verständnis für Elsass-Lothringen und für die Wünsche, Sorgen und Stimmungen seiner Bewohner nicht vorhanden war«. Enttäuscht stellte er schließlich fest, wie die von ihm durchaus für möglich gehaltene Hinwendung von Elsass-Lothringen zu Deutschland, durch Interesselosigkeit, nationalistische Vorurteile und militaristische Übergriffe verspielt wurde.

Im Reichstag zählte er nach einer kurzen Gastrolle bei den Konservativen, die er wegen ihrer Opposition gegen den Handelsvertrag mit Russland verließ, zu den »wilden« Abgeordneten, die offiziell keiner Partei oder Fraktion angehörten. Er war der Einzige, der sich von den Bänken der Rechten aus gegen eine, von seinem eigenen Vater zu vertretende Gesetzesvorlage wandte, mit der die Vereinsfreiheit der deutschen Arbeiterschaft beschnitten werden sollte. 1900 erhob er seine Stimme gegen die sogenannte »Lex Heinze«, die nicht nur die Strafverfolgung der Prostitution und des Zuhälterwesens vorsah, sondern auch die Kunstfreiheit einschränken sollte sowie eine politische Gängelung von Kultur und Kunstschaffenden bedeutet hätte. Aufsehen erregte zudem seine Wahlrede im Jahre 1903, in der er vor einem Kompromiss der Liberalen mit dem Zentrum warnte und sich gegen ein Bündnis mit den reaktionären Parteien im Kampf gegen die Sozialdemokratie aussprach. Hohenlohes sozialliberale Haltung und sein unabhängiges, nicht von persönlichen oder parteipolitischen Interessen diktiertes Auftreten brachte ihm den Ruf und das Stigma eines »roten Demokraten« und »roten Prinzen« ein.

Die Veröffentlichung der »Denkwürdigkeiten« bzw. Memoiren (1906), die ihm sein Vater zur Veröffentlichung anvertraut hatte, beendeten die Karriere des Prinzen. Er fiel in kaiserliche Ungnade, weil er die Gespräche seines Vaters mit Wilhelm II. und dem Großherzog von Baden über Bismarcks Entlassung hatte abdrucken lassen. Als Folge musste Alexander als Statthalter des Kaisers in Elsass-Lothringen zurücktreten.

Nach dem Tod seines Vaters (1901) erbte Hohenlohe etwa 2,5 Millionen Mark und erwarb ein Haus in Beaulieu. Doch büßte er 1910 seine finanzielle Unabhängigkeit ein, als er bei einer Börsenspekulation sein ganzes Vermögen verlor und sich mit fast einer halben Million Francs verschuldete. 1906–1914 lebte er als Privatmann in Paris. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs wählte er, inzwischen gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen, das Schweizer Exil in Zürich.

Seit August 1914 vertraute er seine Betrachtungen zu militärischen Ereignissen, gesellschaftlichen und politischen Problemen einem Tagebuch an, das bislang, obwohl eine Quelle ersten Ranges, unveröffentlicht geblieben ist. Zunächst von der Unschuld Deutschlands am Krieg überzeugt, erkannte er bald seinen Irrtum. Er sei zwar »kein Pazifist im gewöhnlichen Sinn des Worts«, zeichnete er im Mai 1916 auf, »aber doch ein Friedensfreund, d. h. ich verabscheue den Krieg, seitdem ich gesehen habe, was mit Hülfe der modernen Technik aus dem Kriegshandwerk Widerwärtiges geworden ist und wie sinnlos das Vermögen der Völker und ihr Leben geopfert wird«.

Die Erste Schlacht an der Marne im September 1914 führte Alexander die Grausamkeit eines lang andauernden Krieges vor Augen. Er hoffte auf einen raschen Verständigungsfrieden ohne Sieger und Besiegte. Die Haltung der militärischen und zivilen Leitung des deutschen Volkes und ihr mangelndes Verständnis für die »Psyche der Gegner« führte ihn zu der Einsicht, »wie schmählich meine Landsleute von ihren verantwortlichen Führern systematisch belogen wurden und wie allmählich das Gift der Lüge seine unheimliche Wirkung im ganzen Volke tat« – so Hohenlohe in dem ein Jahr nach seinem Tode erschienenen Erinnerungen »Aus meinem Leben«, die 2017 eine Neuauflage erfuhren. Er sah, dass die Oberste Heeresleitung den Krieg zum »Selbstzweck« erhob, jede Friedensmöglichkeit hintertrieb, den Ruin des Landes und »die Revolution mit mathematischer Sicherheit heraufbeschwor«. Um so mehr hielt es der liberale Aristokrat für seine »Pflicht«, seine Landsleute vom neutralen Ausland aus über die wahre Sachlage aufzuklären. Mit zahlreichen Artikeln, insbesondere in der NZZ, führte er seit Frühjahr 1915 die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen und geißelte die Verlängerung des Völkermordens durch die deutsche Kriegspolitik und die Opferung von Hunderttausenden von jungen Menschen als ein »wahnsinniges, verbrecherisches Unternehmen«. Zudem wandte er sich gegen die annexionistische Kriegstreiberei und jene »Redaktionsstuben« und »blindwütigen Professoren und Literaten«, die den Willen nach Verständigung durch hasserfülltes Kriegsgeschrei zunichtemachten und immer neue Opfer verlangten. Unter den deutschen Exilanten in der Schweiz wurde Hohenlohe zu einem der bedeutenden Kritiker der »gewissenlosen Staatskunst« bismarckscher und preußischer Prägung, die er aus traditioneller Verpflichtung gegenüber den Errungenschaften deutscher Kultur scharf kritisierte.

Bismarcks Schuld

Den Willen zum Ersten Weltkrieg führte Hohenlohe auf den »moralischen und intellektuellen Niedergang in Deutschland« zurück, hervorgerufen durch Bismarcks »Macht-geht-vor-Recht-Politik« und seit der Herrschaft Wilhelm II. noch verstärkt. Von Bismarck habe das deutsche Volk den Glauben an die alleinige Macht der Gewalt und die Geringschätzung moralischer Werte übernommen und sich vom »Volk der Denker« zu »gehorsamen, disziplinierten Untertanen« und schließlich zu einem großen Teil zu »Byzantinern« entwickelt. »Bismarck«, so Alexander, »ist es gewesen, der die Geistesrichtung der Deutschen von 1914 hervorgebracht hat«. Und über die Herrschaft Wilhelms II. schrieb er: »Erst dieses Regime hat die durch das Bismarcksche System begonnene Demoralisation des deutschen Volks, das unter ihm das selbständige Urteilen verlernt hatte, vollendet.«

Hohenlohe gehörte niemals einer pazifistischen Vereinigung an. Vor allem sein vom Preußentum nicht zu brechender aristokratischer Oppositionsgeist fand große Anerkennung. Seine Erlebnisse und Beobachtungen an der Seite seines Vaters sowie sein Respekt vor der Freiheit des Individuums, die er gegen jede Knechtung verteidigte, trete sie unter der Herrschaft einer Monarchie, Demokratie oder Autokratie auf, prädestinierten ihn geradezu dafür, den Pazifismus als das historische Gegenmodell zum Militarismus preußisch-neudeutscher Provenienz zu begreifen.

Unter dem zutreffenden Titel »Vergebliche Warnungen« gab er Anfang 1919 seine Artikel als Beitrag zur Überwindung des »Regimes der Unwahrhaftigkeit« und der »Lügenherrschaft« heraus. »Nur wenn es dieses Gift ausscheidet«, so die Mahnung Hohenlohes am 12. November 1918 am Schluss der Einleitung zu seinem Buch, »kann das deutsche Volk genesen, und nur wenn es seine Mitschuld erkennt und bekennt an all dem Unheil, das der bisher in ihm herrschende Geist über die Welt gebracht hat, kann es das Vertrauen der Welt wiedergewinnen, ohne das es nicht leben kann«.

Der Appell zur Selbsterkenntnis fand jedoch wenig Widerhall – nicht weil die Deutschen dazu nicht bereit gewesen wären, sondern weil diejenigen Kräfte, die im Bündnis mit den Militärs über die Macht geboten, die Bestimmungen des Versailler Vertrags durch Reparationssabotage und geheime Rüstungen umgingen und einen friedlichen Interessenausgleich mit Frankreich und Polen torpedierten. Deutlich sah Hohenlohe voraus, dass die breit angelegte und nach 1918 fortgesetzte Lügenpropaganda von der Unschuld des Kaiserreichs am Ersten Weltkrieg sowie die zur Revision des Versailler Vertrags die Psychose des Besiegten bestätigte und verstetigte. Die Weimarer Republik hielt er weit davon entfernt, auf dem Gebiet der Außenpolitik einen neuen Anfang gemacht zu haben. Statt Einkehr erlebte er die Wiederkehr der schuldigen Kreise in die Macht, was mit Scham und Gram an ihm zehrte.

Als Mitarbeiter verschiedener pazifistischer Blätter setzte er sich nach 1918 für ein föderalistisch organisiertes, von der Vorherrschaft des preußischen Militarismus und Zentralismus befreites Deutschland ein – als Garant für einen europäischen Frieden. Ohne Bruch mit der Vergangenheit und ohne Abkehr von der systematischen Geschichtsfälschung über die wirklichen Ursachen des deutschen Zusammenbruchs von 1918, »wird und kann Deutschland« – so Hohenlohes Prognose, darin einig mit Friedrich Wilhelm Foerster, dem bedeutenden Widersacher des militaristisch-nationalistischen Deutschlands – »nur noch schlimmerem Unheil, ja vielleicht seinem endgültigen Untergang entgegengehen«.

Als Mittel für den Erhalt Europas und dessen Zivilisation schlug er einen auf Verständigung und Aussöhnung beruhenden »Bund der Völker« vor und rief zur Gründung der »Vereinigten Staaten von Europa« unter Einschluss Großbritanniens auf. Andererseits war ihm bewusst, dass alle Völkerbünde nicht nützen, solange die Lehre von der »Unvermeidlichkeit des Krieges« das Denken der Völker weiter bestimme. Ohne die Schaffung eines neuen Geistes gebe es keine Hoffnung auf einen dauernden Frieden. Ein neuer europäischer Krieg ließe sich nur durch Erziehung und Aufklärungskampagnen verhindern. Den Glauben an eine schwindende Kriegsgefahr durch die vermeintlich abschreckende Wirkung immer gefährlicher werdender Waffen, noch heute vehement von Bellizisten vertreten, verwarf er als »eine Illusion – das hat man auch schon früher geglaubt und hat sich geirrt!«

Hohen Anteil an der Entfesselung künftiger Kriege maß er der systematischen Züchtung einer »künstlichen Suggestion« und eines »kriegerischen Geistes im Volke« bei. Insbesondere die Bevormundung des Menschen durch die Presse und ihren Vertretern als den Wortführern der Kriegsaufhetzung gelte es, von den Völkern überwunden zu werden. Gelänge es nicht, dieses »furchtbare Mittel der Unterdrückung in den Händen einiger wenigen Mächtigen« unschädlich zu machen, sei nicht absehbar, »wie lange es noch dauern kann, bis die Kämpfe zwischen den Nationen aufhören, und ob bei den entsetzlichen Fortschritten der Kriegswaffentechnik die europäischen Nationen sich nicht gegenseitig ruiniert und vernichtet haben werden, ehe … eine wirkliche Liga der Nationen zustande kommt«.

In der Matratzengruft

Wie Heinrich Heine verbrachte Hohenlohe seine letzten Jahre in der »Matratzengruft«. Aufgrund der Inflation mehr und mehr verarmt, kehrte Alexander 1922 nach Deutschland zurück. In Badenweiler bewohnte er ein Pensionszimmer, wo er, von einer treuen Freundin aufopferungsvoll gepflegt, auf seinem Krankenbett lag und, umgeben von Zeitungen, in Dutzenden Artikeln und Hunderten Briefen für die Organisation des Friedens warb.

Die ebenfalls in Badenweiler lebende Schriftstellerin Annette Kolb, wie Alexander leidenschaftlich für deutsch-französische Aussöhnung, rühmte im Berliner Tageblatt vom 19. Mai 1924 seine »Charaktergröße, die Unbeirrbarkeit seines Urteils und seinen erlesenen Verstand«. Wenig später fügte sie in der Weltbühne hinzu: »Bis nachts um drei pflegte seine Lampe zu brennen, so lange arbeitete er. Seine vernünftigen, seine unerschrockenen Worte, seine vortrefflichen Ratschläge verhallten samt und sonders, er wusste es genau. Trotzdem ermüdete er nicht. Er war dem Recht und der Wahrheit eingeschworen, hier war seine Tretmühle, hier versah er seinen Dienst.«

Alexander von Hohenlohe starb am 16. Mai 1924 im Alter von nur 62 Jahren an einem Herzschlag in großer Armut. »Hyänen des Schlachtfeldes« lautet sein Artikel, der am Tag seines Todes in der pazifistischen Wochenzeitung Die Menschheit erschien. In ihm mahnt er die weithin nationalistisch gesinnte deutsche Lehrerschaft, »sich an den französischen Volksschullehrern ein nachahmenswertes Beispiel zu nehmen, denn diese sind wirklich von pazifistischer Gesinnung erfüllt und erziehen bei all ihrer Liebe zum heimischen Boden (…) ihre Schüler als wahre Friedensfreunde. Es ist traurig, dass man in der deutschen Republik immer wieder daran erinnern muss«.

Alexander von Hohenlohe war ein feinsinniger, politisch hochbegabter Mann, ein »Grandseigneur« aus einer der ersten Familien des deutschen Hochadels. Er gehörte zu jener weitblickenden Minderheit deutscher Pazifisten, deren Warnungen offenbaren, dass der Weg in das »Dritte Reich« und den Zweiten Weltkrieg nicht zwangsläufig war. So ist das Leben Alexander von Hohenlohes ein Plädoyer dafür, jenen zu vertrauen, die den Frieden und nicht den Krieg als »Ernstfall« begreifen. Der Völkerrechtslehrer Hans Wehberg charakterisierte Alexander als »eine der markantesten Persönlichkeiten und einen der feinsten Köpfe des durch den Krieg gereiften Pazifismus«. Seine Erinnerungen, von dem Historiker Gerd Fesser vor einigen Jahren sachkundig kommentiert und erläutert, zählen zu den besten und eindrucksvollsten Quellen über die wilhelminische Epoche. Stellt sich die Frage: Was tun, damit Alexander von Hohenlohe und seine Einsichten nicht weiter so unbekannt bleiben?

Literatur

Gerd Fesser (Hg.): Außenseiter im Machtzentrum Wilhelms II. Aus dem Leben eines Prinzen (1862–1924). Donat-Verlag, Bremen 2017, 384 Seiten, 16,80 Euro

Helmut Donat schrieb an dieser Stelle zuletzt in der jW-Ausgabe vom 16./17.3. über Sigmar Schollaks »Das Mädchen aus Harrys Straße«, ein Kinderbuch gegen Antisemitismus.

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