Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Sa. / So., 01. / 2. Juni 2024, Nr. 125
Die junge Welt wird von 2775 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Aus: Ausgabe vom 17.05.2024, Seite 1 / Titel
Neukaledonien

Kolonialmacht auf Knien

Neukaledonien: Neuregelung des Wahlrechts löst Proteste aus. Frankreich verhängt Ausnahmezustand
Von Jörg Tiedjen
1.jpg
Unterdrückung gebiert Gewalt: Nach den Ausschreitungen in Neukaledoniens Hauptstadt Nouméa (15.5.2024)

Die alte Kolonialmacht Frankreich ist in Bedrängnis. Wegen der Lage im fernen Neukaledonien verzichtete Staatschef Emmanuel Macron am Donnerstag auf seine Teilnahme bei der Einweihung eines neuen Akws, Premierminister Gabriel Attal jagte von einem Krisentreffen zum nächsten, und Innenminister Gérald Darmanin kündigte an, »2.700 Polizisten und Gendarmen« zur Wiederherstellung der Ruhe in das französische Überseegebiet im Pazifik entsenden zu wollen. Angesichts anhaltender Proteste, bei denen bisher insgesamt fünf Menschen ums Leben kamen und Hunderte sowohl unter den Demonstranten als auch unter den Einsatzkräften verletzt wurden, war dort am Vorabend der Ausnahmezustand verhängt worden.

Anlass des Aufruhrs ist eine Verfassungsreform, über die am Montag in der Nationalversammlung in Paris abgestimmt wurde. Lediglich die linke Opposition wies den Entwurf geschlossen zurück, der nun noch einer weiteren Lesung bedarf, um gültig verabschiedet zu werden. Er sieht eine Ausweitung des kommunalen Wahlrechts auf den Inseln vor. Das verstößt jedoch gegen bisherige Vereinbarungen mit der dortigen Unabhängigkeitsbewegung. Im 1998 geschlossenen »Vertrag von Nouméa« und einer 2007 erfolgten Verfassungsreform war das lokale Wahlrecht auf diejenigen Einwohner und ihre Nachkommen beschränkt worden, die bereits in jenem Jahr stimmberechtigt waren. Später Hinzugekommene sollten ausgeschlossen bleiben.

Da die Einschränkung aber dazu führte, dass am Ende nur noch jeder fünfte Einwohner bei Lokalwahlen abstimmungsberechtigt war, sah Paris die Verfassung verletzt und drängte auf eine Überarbeitung der Regelung. Demnach soll die Wahlberechtigung nun zunächst auf alle französischen Staatsbürger ausgeweitet werden, die seit mindestens zehn Jahren in Neukaledonien leben. Die Unabhängigkeitsbewegung fühlt sich durch den Schritt allerdings hintergangen, zumal bis zum bevorstehenden Sommer der Status der Inseln neu geregelt werden sollte. Sie befürchtet, dass die Reform dazu dienen soll, den Einfluss der Ureinwohner zu mindern.

Die Zusammenstöße mit Einsatzkräften hatten am Montag am Rande einer Kundgebung der Unabhängigkeitsbewegung begonnen und sich in der Nacht fortgesetzt. Der Hochkommissar der Republik in Neukaledonien, Louis Le Franc, berichtete dem Fernsehsender BFM TV am Mittwoch von »gezielten Schüssen mit großkalibrigen Waffen«, die Demonstranten angeblich auf die Einsatzkräfte abgegeben hätten. Häuser seien niedergebrannt, Geschäfte und Apotheken zerstört worden. Le Franc sprach von einer »tödlichen Spirale der Gewalt« auf den Inseln. Frankreich befinde sich »auf den Knien«.

Ganze fünftausend Kilometer entfernt gibt es in einem weiteren französischen Überseeterritorium im Pazifik eine spiegelbildliche Situation. Auf Tahiti diskutieren die Unabhängigkeitsbefürworter derzeit eine Reform, die vorsieht, dass zugezogene Franzosen erst dann das kommunale Wahlrecht erhalten, wenn sie mindestens die Hälfte ihres Lebens in Polynesien verbracht haben. Auch dort sehen sich die Ureinwohner zunehmend mit Siedlern konfrontiert. Auf Neukaledonien stammen sie übrigens zum Teil aus der früheren französischen Kolonie Algerien, von wo zahlreiche Kolonisten nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges Anfang der sechziger Jahre in die Pazifikregion übersiedelten. So schreiben sich die durch den Kolonialismus aufgeworfenen Konflikte in die Gegenwart fort.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (17. Mai 2024 um 13:30 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel: Neukaledonien liegt etwa 1500 Kilometer östlich von Australien. Von 1853 bis 1946 war es eine französische Kolonie und ist heute ein Überseegebiet mit speziellem Status. Die Einwohner Neukaledoniens sind französische Staatsbürger, jedoch gehört die Inselgruppe nicht zur EU. Auslöser der jüngsten Proteste war eine Verfassungsreform, die neu zugezogenen Bewohnern das Wahlrecht und damit mehr politischen Einfluss in Neukaledonien gewähren soll. Bislang dürfen nur die Bewohner an den Provinzwahlen teilnehmen, die bereits 1998 im Wahlregister standen, sowie deren Nachkommen. Künftig sollen alle seit mindestens zehn Jahren in Neukaledonien lebenden Personen wählen dürfen. Die Inselgruppe hat 270.000 Einwohner, von denen etwa 50.000 von der Reform betroffen wären. In der Nacht auf Mittwoch nahm die französische Nationalversammlung den Gesetzentwurf mit großer Mehrheit an. Die Befürworter der Unabhängigkeit Neukaledoniens fürchten, dass der Einfluss der ursprünglichen Bevölkerung dadurch abnehmen könnte. Besonders die Kanaken, die Ureinwohner Neukaledoniens, streben schon lange nach einem eigenen Staat. Sie machen rund 40 Prozent der Bevölkerung aus.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (17. Mai 2024 um 10:29 Uhr)
    Zu ergänzen wäre vielleicht noch: Neukaledonien verfügt über große Nickelvorkommen. (Die umfangreichen lateritischen Nickel­erzvorkommen der Insel machen 8,4 Prozent aller derartigen Nickelreserven weltweit aus. Siehe: Wikipedia). Die klassische koloniale Situation: Die Profite aus der Erzausbeute streichen die weißen Kolonialherren und -damen ein. Ein Großteil der indigenen Bevölkerung indes lebt am und unter dem Existenzminimum.

Ähnliche:

  • Geht es nach Guineas Präsident Mamadi Doumbouya, sind die Zeiten...
    28.09.2023

    Klartext in New York

    »Einfach Proafrikanisch«: Mali, Burkina Faso und Guinea läuten vor UN-Generalversammlung neue Zeiten ein. Niger Rederecht verweigert
  • Uranabbau in Niger unter extrem gesundheitsschädlichen Bedingung...
    06.09.2023

    Vorteile sichern

    Niger, Afrika und der Westen. Eine Lektion über Souveränität, Demokratie und Entwicklung (Teil 1)
  • Per Atomkraft angetriebenes U-Boot der US Navy
    15.03.2023

    Atompakt im Pazifik

    Deal mit nukleargetriebenen U-Booten zwischen USA, Großbritannien und Australien. China warnt vor »gefährlichem Weg«

Regio: