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Aus: Ausgabe vom 18.05.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Quo vadis, Profifußball?

Die Bundesliga ist in einer strukturellen Krise
Von Raphael Molter
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Protest im Profifußball: Fans des 1. FC Union Berlin halten für alle Fälle eine Kette aus Tennisbällen bereit

Es war ein Paukenschlag, der da Ende Februar Fußballdeutschland erschütterte: Die Deutsche Fußballiga (DFL) scheiterte auf ganzer Linie mit ihrer Suche nach potenten Geldgebern. Die Verhandlungen mit einem potentiellen Investor mussten auch wegen anhaltender Fanproteste abgebrochen werden. Doch will man verstehen, warum das Ansinnen scheiterte, ist es notwendig, zunächst die ökonomischen Hintergründe und die Bedeutung der Investorensuche für die Struktur und die Zukunft des deutschen Profifußballs zu analysieren. Die Suche nach Investoren steht in direktem Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die internationale Wettbewerbsfähigkeit in der Konkurrenz mit anderen Ligen zu erhalten und zu verbessern, da ein vermehrtes Kapital höhere Investitionen in Spielertransfers, Infrastruktur und weitere Bereiche ermöglicht.¹ Es ging um mehr als eine kurzfristige Liquiditätserhöhung, es ging um langfristige strategische Partnerschaften, die eine stetige Finanzierung sicherstellen und eine Internationalisierung der Marke befördern sollten. Während die wiederkehrenden sportlichen Nöte deutscher Klubs medial oft im Vordergrund stehen, sind die ökonomischen und strukturellen Herausforderungen, die zur Investorensuche führen, nicht kleiner. Es geht um die langfristige Existenzsicherung der Vereine. Diese Dynamik wirkt sich auch auf die Krisenwahrnehmung und -deutung aus.

Das lässt sich gut am Beispiel der Hinrunde 2023/24 des 1. FC Union Berlin illustrieren, der es in den letzten Jahren sensationell aus der zweiten Liga bis in die Champions League gebracht hatte. Nach einer Niederlagenserie war die sportliche Krise offenkundig. Die mediale Diskussion beschränkte sich dabei auf die schlechten Ergebnisse, während die tieferliegenden Ursachen und der größere Kontext ausgeblendet blieben. Schlussendlich musste oder wollte Trainer Urs Fischer seinen Hut nehmen, die Hoffnung auf einen »Trainereffekt« wurde jedoch nur vorübergehend erfüllt. Mittlerweile musste auch Nachfolger Nenad Bjelica seinen Hut nehmen. Denn warum sollte bei einer Krise das Auswechseln des Trainers reichen? Die Unioner Ultragruppierung Hammer Hearts ’04 hat bereits zu Saisonbeginn in einem Statement zu Union Berlins Umzug ins Olympiastadion für die Heimspiele in der Champions-­League-Gruppenphase eine umfassendere Analyse präsentiert. Sie beleuchtet darin auch die finanziellen Anreize und Sachzwänge der Vereinsführung und gibt damit ein Beispiel für eine differenziertere Betrachtung von Krisen im Fußball, wie sie im Sportjournalismus nur selten vorkommt. Die Gruppe geht von einer ausführlichen Kritik am europäischen Kontinentalverband UEFA zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vereinsführung und Fanszene über. Im Mittelpunkt steht die Frage, warum der Verein ausgerechnet nach dem Erreichen des europäischen Königswettbewerbs in das städtische Olympiastadion umzog. Die Autoren erkennen eine Zwickmühle und erklären abschließend, dass »die Diskussion zu komplex ist, um die eine, allumfassende Protestform und Lösung zu wählen«.² Dass ausgerechnet die Ultras eine umfassende Analyse anbieten wollen, sollten wir im Hinterkopf behalten.

Moralische Ökonomie

Die sportlichen Niederlagen von Klubs wie dem 1. FC Union Berlin sind nur die Schaumkronen einer Welle, die aus den systemischen Widersprüchen des Kapitalismus selbst entsteht. Der europäische Profifußball, einst stolze Domäne von Sportbegeisterten jeder Herkunft, ist zu einem Spielball finanzieller Interessen geworden, dessen informelle Regeln mittlerweile in den Vorstandsetagen und bei TV-Vermarktungsgesellschaften geschrieben werden. Die Hintergründe wissenschaftlich zu verstehen, erfordert eine Auseinandersetzung mit dem »tendenziellen Fall der Profitrate«, einem marxistischen Konzept, das die inneren Widersprüche des Kapitalismus als eine Ursache ökonomischer Krisen herausstellt. Es hilft, die strukturellen Bedingungen und Dynamiken des Profifußballs zu reflektieren, in denen die Suche nach neuen Profitquellen und die Rationalisierung von Kosten zentral sind. Karl Marx sprach vom tendenziellen Fall der Profitrate als innerem Widerspruch des Kapitalismus. Übertragen auf den Fußball heißt das: Klubs und ganze Ligen kämpfen ums ökonomische Überleben, während die Einnahmen aus TV-Lizenzen sinken und die Vermarktung an ihre Grenzen stößt. Die Kommodifizierung des Fußballs, also seine Umwandlung in eine Ware, schreitet voran – doch sie trifft auf den Widerstand von Fans, die mehr als nur passive Konsumenten sind. Sie sind Teilproduzenten des Fußballspektakels und tragen durch ihre Leidenschaft und Treue zu ihren Klubs wesentlich zum »Gesamterlebnis« bei. Das abrupte Ende der Investorensuche des deutschen Ligaverbands verdeutlicht, dass in der moralischen Ökonomie des Fußballs auch ökonomiefremde Faktoren wie protestierende Fans direkten Einfluss nehmen können.³ Auch im Profifußball ist also sichtbar, dass die kapitalistische Produktionsweise inhärente Widersprüche und Tendenzen zur Krisenbildung aufweist. Wie kann eine solche, jederzeit bedrohte, moralische Ökonomie zusammengehalten werden?

Die Krise, von der wir sprechen, ist nicht nur eine sportliche. Sie ist eine des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise des Fußballs, wie es die materialistische Staatstheorie des marxistischen Politikwissenschaftlers Joachim Hirsch beschreibt.⁴ Die Eigentumsverhältnisse, der dominante Modus der Kapitalakkumulation über den Verkauf von TV-Rechten und der Regulationsmodus im Fußball bilden ein komplexes Geflecht, das tief in der Struktur des modernen Profifußballs verwurzelt ist. Der Verkauf von TV-Rechten hat sich seit den 1990er Jahren als wichtigste Einnahmequelle für die europäische Fußballindustrie etabliert. Die »Annual Review of Football Finance 2023« der Deloitte Sports Business Group verdeutlicht, dass die TV-Übertragung in den fünf europäischen Topligen knapp die Hälfte der Gesamteinnahmen ausmacht: in England 54 Prozent, in Spanien 59 Prozent, in Deutschland 44 Prozent, in Italien 57 Prozent und in Frankreich 36 Prozent. Im Gegensatz dazu liegen die Spieltagseinnahmen in keiner dieser Ligen über 14 Prozent, Sponsoring stellt die zweitwichtigste Einnahmequelle dar.

Gespaltene Fußballwelt

Diese Dominanz der TV-Rechte im Einnahmemodell hat nicht nur die Art und Weise, wie Fußballvereine finanziell operieren, grundlegend verändert, sondern auch, wie sie sich organisieren und regulieren. Fußballverbände nehmen eine zentrale Rolle ein, indem sie als »ideelle Gesamtkapitalisten« fungieren, die die kommerzielle Entwicklung und die Ausprägung des kapitalistischen Fußballs verantworten.⁵ Sie organisieren den Fußballbetrieb in den jeweiligen Ligen und stellen somit sicher, dass die Produktion der »Ware Profifußball« den Bedürfnissen des Marktes entspricht. Diese Verbände sind ein notwendiges Amalgam zur Absicherung der herrschenden Verhältnisse im Fußball, die auf kapitalistischen Logiken basieren. Der gescheiterte Versuch der Gründung einer »Super League« und die Legitimationsschwierigkeiten der deutschen Verbände sind nur Symptome einer zutiefst gespaltenen Fußballwelt.

Die Entkopplung von Akkumulations- und Regulationsweise, wie von Joachim Hirsch beschrieben, führt zu Krisen, die im Fußball seit Beginn der Coronapandemie beobachtet werden können. Ein Blick auf das Akkumulationsproblem zeigt, dass Medienunternehmen gezwungen sind, Geld zu sparen, da die Ausgaben für TV-Lizenzen mutmaßlich zu hoch sind. Dies deutet auf eine »Marktsättigung« hin, wie der Sportökonom Sebastian Uhrich in einem Interview mit dem Journalisten Andreas Reiners erklärte, und wirft Fragen zur zukünftigen finanziellen Stabilität des europäischen Fußballs auf.⁶

Dialektik der Korruption

Diese Entwicklungen zeigen, wie tiefgreifend die Mechanismen der Kapitalakkumulation und die institutionellen Regulationsweisen den Profifußball prägen. Die Klubs sind von den hohen Einnahmen aus dem TV-Rechte-Verkauf abhängig geworden, was die Notwendigkeit einer effektiven Regulation verstärkt, um die langfristige Stabilität des Wettbewerbs zu sichern. Der Profifußball steckt in einer Identitätskrise, die auch eine materielle ist. Er schwankt zwischen der Sehnsucht nach dem »good old football« und der gnadenlosen Kommerzialisierung. Beides sind Ideale, deren Realisierung unmöglich ist, wie sich vom Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi lernen lässt. Mit ihm lässt sich der Fußball als Teil der »fiktiven Waren« verstehen, die zwar immer im Begriff sind, Ware zu werden, aber sowohl Tausch- als auch Gebrauchswert nie voll verwirklichen. Eine »Dialektik der Korruption«. Die Kommerzialisierung des Fußballs ist zweischneidig, sie unterstellt nicht nur eine bislang nicht ökonomische Sphäre der Marktlogik, sondern trägt auch den Widerstand dagegen in sich. Die Coronapandemie hat die schon bestehenden Risse nur noch weiter vertieft, indem sie die finanziellen Abhängigkeiten offengelegt hat.

Was also ist die Lösung? Einige blicken neidisch auf das nordamerikanische Sportmodell mit seinen geschlossenen Ligen und strengeren Regulierungen, andere fordern eine stärkere staatliche Kontrolle und politische Intervention, wie sie beispielsweise in England bereits unternommen werden. Dort existiert seit der abgewendeten »Super League«-Gründung eine staatliche Aufsichtsbehörde, die den Sport regulieren und seine Autonomie einschränken soll. Zwar ist der Fußball in Deutschland juristisch gesehen autonom, die reellen Verhältnisse lehren uns jedoch zweierlei: erstens ist diese Autonomie eher eine halbe. Schließlich überlappen sich die institutionellen Zuständigkeiten von Fußballverbänden und staatlichen Apparaten. Der Stadionbetreiber kann das jeweilige Bundesland oder die Stadt sein, die Breitenförderung wird ebenfalls von Bund und Ländern getragen usw. Zweitens werden die Rahmenbedingungen des europäischen Profifußballs größtenteils »im Bereich des europäischen Binnenmarktes festgelegt«.⁷ Die Politik kann großen Einfluss auf den Fußball nehmen, sei es durch das Arbeitsrechts (vgl. Bosman-Urteil 1995 durch den Europäischen Gerichtshof) oder mit Vorgaben für die Vergabe von Medienrechten (Abnahme des DFL-Ausschreibungsmodells durch das Bundeskartellamt). Bewegung ist also möglich, auch in der Fußballindustrie Europas. Nur ist nicht jeder Pfad gleichermaßen gangbar. So wäre die Etablierung eines nordamerikanischen Sportmodells nur durch die Ablösung des jetzigen Regulationsmodus und eine veränderte Beziehung zwischen Sport und Politik in Europa erreichbar. Zudem stellt sich die Frage, ob ein geschlossenes Ligensystem mit strengeren Regulierungen das Allheilmittel für die jetzigen Probleme wäre. Klubtradition, Auf- und Abstiege und lokale Rivalitäten sind tief in der Tradition des europäischen Fußballs verankert und haben einen wichtigen Anteil an seiner Anziehungskraft. Die englischen Proteste gegen die versuchte Gründung der »Super League« dürften dies bekräftigen.

Kampf um die Seele

Die Zukunft des europäischen Profifußballs ist ungewiss. Doch eines ist klar: Die Lösung für seine gegenwärtigen Probleme wird nicht von Investoren kommen. Sie kann nur in einer Diskussion gefunden werden, die Fans, Spieler und Vereine gleichermaßen einbezieht und sich für eine gerechtere, integrativere und nachhaltigere Form des Sports stark macht. Der Kampf um die Seele des Fußballs ist in vollem Gange, es steht viel auf dem Spiel. Nicht nur für die Klubs und Spieler, sondern für alle, die den Fußball lieben. Aus Sicht der kritischen und organisierten Fans könnte die aktuelle Situation eine Chance sein, um Mehrheiten von radikalen Ideen zu überzeugen. Die Zeit der Abwehrkämpfe scheint der Vergangenheit anzugehören – der Kampf um den Fußball hat begonnen. Eine Alternative zu dem skizzierten Reformchaos des kapitalisierten Fußballs könnte in einer von den Fans getragenen Gegenmacht liegen, die sich für einen demokratischen und transparenten Fußball einsetzt. Warum sollten Fans nicht auf Bündnissuche gehen und versuchen, Berufsspieler von einer ganz anderen Vision des Fußballs zu überzeugen? Jede Reform der letzten Jahre ist auch auf dem Rücken der Spieler ausgetragen worden, ob UEFA Nations League oder der neue Modus der FIFA Klub-WM. Dazu braucht es Engagement in den Vereins- und Fangremien, um die Macht zu bekommen, alternative Handlungsspielräume zu öffnen. Die Fans sind die Alternative zum verbandsorganisierten Fußball, sie können das Rad der Kommerzialisierung stoppen. Die Zeit naht …

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Fans des 1. FC Union Berlin beim Tennisballwurf

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Anmerkungen

1 Wie der Sportökonom Frank Schumann schreibt: »Aus sportökonomischen Untersuchungen geht hervor, dass die Bundesligavereine im strengen Sinne keine gewinnorientierten Firmen darstellen.« Die einzelnen Kapitale im Fußball, also die Vereine, verfolgen aufgrund der strukturellen Zwänge eine Umsatzmaximierung, die das Grundgerüst für den sportlichen Erfolg darstellt. Quasi eine Art Nutzenmaximierung aufgrund der instabilen Warenstruktur des sportlichen Wettbewerbs. Vgl. Frank Schumann: Effizienzsteigerung im deutschen Profifußball aus sportökonomischer Perspektive. Diss., Universität Heidelberg – Fakultät für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften 2004, S. 65ff

2 Hammer Hearts ’04: Champions-League-»Heimspiele« im Olympiastadion. https://www.hh04.de/2023/09/champions-league-heimspiele-im-olympiastadion/ (18.9.2023)

3 David Kennedy/Peter Kennedy: Towards a Marxist political economy of football supporters. Capital and Class, 34 (2), 2010, S. 181–198

4 Joachim Hirsch: Politische Form, politische Institutionen und Staat. In: Esser, J./Görg, C./Hirsch, J. (Hrsg.), Politik, Institutionen und Staat: Zur Kritik der Regulationstheorie. VSA-Verlag, Hamburg 1994, S. 157–211

5 Raphael Molter: Friede den Kurven, Krieg den Verbänden: Fußball, Fans und Funktionäre: eine Herrschaftskritik. Papyrossa-Verlag, Köln 2022, S. 139–167

6 Andreas Reiners: Das Dilemma um die TV-Rechte: Eine Gratwanderung für die Bundesliga. https://web.de/magazine/sport/fussball/bundesliga/tv-rechte-bundesliga-erfinden-38484122 (1.8.2023)

7 Timm Beichelt: Ersatzspielfelder. Zum Verhältnis von Fußball und Macht. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018, S. 101–123

Raphael Molter, Jahrgang 1998, ist Politikwissenschaftler und Autor, er arbeitet unter anderem zur materialistischen Fußballkritik. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle in der Ausgabe vom 20./21. Januar 2024 den Essay »In den Farben Palästinas« über den Antizionismus und Klassenkampf der Fans des schottischen Fußballklubs Celtic Glasgow

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