24.04.2024 / Kapital & Arbeit / Seite 9

Gringofizierung in Sinaloa

Im mexikanischen Mazatlán schützen Behörden nordamerikanische Touristen vor traditioneller Blasmusik. Verdrängung alles andere als Einzelfall

Sara Meyer, Mexiko-Stadt

Im nordmexikanischen Badeort Mazatlán wird über das Gleichgewicht zwischen Tourismus und lokalem Brauchtum gestritten. Die Betreiber großer Hotelketten wollen Ruhe für ihre Gäste, lokale Musiker an den Stränden und in den Restaurants ihrer Arbeit nachgehen.

Traditionell ziehen Blechbläser über Plätze, Strände und durch Restaurants, um Familien beim Essen zu unterhalten oder Gruppen in Feierlaune zu versetzen. Ihre Fans sind Mexikaner, oftmals aber auch in den USA aufgewachsene »Auslandsmexikaner, die nach Sinaloa kommen, um die Musik zu genießen«, erklärt Bandamusiker Geraldo Calderon Díaz. Seit sechs Jahren verdient er mit seiner Tuba in Mazatlán seinen Lebensunterhalt. »Als Mexikaner liebe ich die Bandamusik. Es ist fast eine Pflicht! Es gibt keine Worte, die meine Leidenschaft für Banda beschreiben könnten. Sie ist Teil meiner Kultur, meines Lebens«, so Calderon zu jW.

Damit soll nun Schluss sein: Banda­bands dürfen seit dem 1. April ab 19 Uhr nicht mehr an den Stränden spielen. An der Meerespromenade wurden unübersehbare Verbotsschilder aufgestellt. Tagsüber können die Musiker zwar noch ein paar Stunden ihrer Arbeit nachgehen, aber die »goldenen Stunden« seien die in der Nacht, erklärt ein anderer Künstler.

Alles begann Mitte März mit einem Vorstoß des Hotelkettenbesitzers Ernesto Coppel. »Der Chef der Kette will nicht, dass wir spielen, weil seine ausländischen Freunde aus Kanada und den USA unsere Musik nicht mögen. Sie wollen, dass wir von hier verschwinden«, erklärt Calderon, und schimpft auf die Gringotouristen: »Sie sind unverschämt, machen abfällige Handbewegungen, halten sich die Ohren zu, beschimpfen uns oder strecken uns die Zunge raus. Das sind Rassisten!« Der Musiker fragt sich, warum diese Leute nach Mexiko reisen, »wenn sie weder scharfe Tacos essen noch traditionelle Musik hören wollen«.

Als die ersten Regeln im April in Kraft traten, gingen die Musiker für ihr Recht auf Arbeit und gegen die Gentrifizierung ihrer Stadt auf die Straße. »Wir haben Hunger« und »Wir haben Familie« riefen sie und zogen mit ihren Instrumenten durch die Stadt. Der friedliche Protestzug wurde von vermummten staatlichen Sicherheitskräften gestoppt. Es gab Schläge, Festnahmen und weitere Einschüchterungsversuche. »Die Polizei hat die Waffen auf uns gerichtet und uns durch die Straßen und über die Strände verfolgt, als wären wir Verbrecher«, zeigt sich Calderon schockiert. Acht Kollegen seien sechs Stunden lang festgehalten worden.

Die Musiker sehen sich als Opfer von Verdrängung. Jeder sei in Mazatlán willkommen, aber »ich gehe auch nicht nach Deutschland und nehme die Traditionen und Bräuche weg, weil sie mir nicht gefallen. Man muss immer Respekt haben, egal, ob man als Tourist in ein Land kommt oder dort lebt«, sagt Calderon, und äußert sich bestürzt darüber, dass die Politiker den Musikern den Rücken kehren: »Wir tragen zwar nicht so viel zur Wirtschaft bei wie der Tourismus aus dem Ausland, aber wir arbeiten jeden Tag und verdienen Respekt und Unterstützung, vor allem von unserer Regierung.«

Die Bandakapellen sind fester Bestandteil der Kulturszene, wenn nicht das Aushängeschild der Stadt im Bundesstaat Sinaloa. Am späten Nachmittag suchen überall im Zentrum und in Strandnähe kleine Gruppen mit Tuba, Trompete und Posaune nach Kundschaft, die ein Lied oder mehrere hören möchte. Die Klänge erinnern entfernt an bayerische Volksmusik. Viele Mexikaner reisen nach Sinaloa, um Banda live zu erleben. Das Genre hat mit der Gruppe »Peso Pluma« auch die lateinamerikanischen Charts und das junge Publikum der Hauptstadt erobert. »Traditionell war die Bandamusik eher etwas für die Leute aus den Armenvierteln, aber seit einiger Zeit hört das ganze Land die Lieder«, sagt eine 26jährige Hauptstädterin, die für einen Kurzurlaub nach Mazatlán gekommen ist, vor einer Musikgruppe steht, sich im Takt wiegt und mitsingt.

Mazatlán ist kein Einzelfall: Seit Jahren sind in den Ballungsräumen Mexikos, vor allem in der Hauptstadt, Ausgrenzung, Verdrängung und Vertreibung zu beobachten. Ärmere, die ihr Einkommen aus informeller Arbeit wie dem Verkauf an Straßenständen beziehen, müssen Platz machen für Reichere, die Gefallen an einer Lage gefunden haben. So geschehen in den Vierteln Condesa, Roma und Merced in Mexiko-Stadt. Hier wird das Stadtbild zunehmend nach dem Geschmack derjenigen gestaltet, die Geld investieren. Carlos Slim, der reichste Mann des Landes, hat bereits Dutzende historischer Gebäude in der Innenstadt aufgekauft und zu Museen und Kulturzentren umgebaut – die bisherigen Bewohner mussten weichen. Straßenhändler, die mit den beliebten Essensständen der clases populares – der einfachen Bevölkerung – jahrzehntelang das Stadtbild prägten, sind nur noch vereinzelt anzutreffen. Das gilt selbst für die Gegend um das Viertel Merced, in dem sich der größte Markt Lateinamerikas befindet. Informelle Verkäufer gehörten hier seit der Gründung in den 1860er Jahren dazu. Doch nach den staatlichen Kontroll-, Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen der vergangenen Jahre ähnelt auch dieser Stadtteil immer mehr einem westlichen Großstadtquartier.

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