Fatale Lust auf Schwein
Von Uwe HoeringWochenlang wurden im Mai und Juni die Titelseiten von Chinas Zeitungen vom Schweinefleisch beherrscht. Preissteigerungen von annähernd 60 Prozent innerhalb eines Jahres bergen Konfliktstoff. Die Verbraucher, bereits durch Lebensmittelskandale gebeutelt, sind aufgebracht. Und die hohen Preise tragen viel zur allgemeinen Inflation bei, die im Juni offiziell 6,4 Prozent erreichte. Ein Zeichen für die Dramatik der Lage ist, daß Premierminister Wen Jiabao persönlich versicherte, er werde sich um das Problem kümmern.
In Chinas Landwirtschaft, deren Entwicklung und Modernisierung seit fünf, sechs Jahren ein Schwerpunkt der Politik ist, nimmt die Tierhaltung eine Schlüsselrolle ein. China ist heute nicht nur der gößte Verbraucher von Fleisch, sondern auch der größte Erzeuger. Mit wachsendem Wohlstand stieg der Fleischverbrauch kontinuierlich an. So verzehrt die chinesische Bevölkerung im Jahr um die 50 Millionen Tonnen Schweinefleisch. Preiswertes Schwein wird von Regierung und Bevölkerung gleichermaßen als entscheidender Indikator für Ernährungssicherheit betrachtet. Um so größer die Sensibilität, wenn diese bedroht ist.
Die Produktion von Schweinefleisch ist seit den Reformen Ende der 1970er Jahre, als den Bauern die Möglichkeit eingeräumt wurde, auf eigene Rechnung zu wirtschaften, sprunghaft gestiegen. Dann brachten vor vier Jahren der Ausbruch von Krankheiten, winterliche Kälte und Erdbeben einen drastischen Einbruch und einen ersten Preissteigerungsschub. Mit Subventionen und staatlichen Investitionen wurde die Produktion schnell wieder hochgefahren. Daß die Preise jetzt abermals steigen, läßt Politik und Beobachter daher weitgehend ratlos: Höhere Futtermittelpreise, teils verursacht durch eine zunehmende Verarbeitung von Mais zu Treibstoff, und höhere Löhne werden als Ursachen vermutet. Aber auch der Handel, der inzwischen weitgehend in den Händen mächtiger Unternehmen ist, gilt als ein möglicher Preistreiber.
Die Regierung reagiert mit der Ankündigung höherer Subventionen für die Züchter, um die Produktion anzukurbeln. Die Staatsbahnen räumen Viehtransporten Vorfahrt ein. Und die strategische Reserve, die der Staat seit dem Markteinbruch vor einigen Jahren teils in Form tiefgefrorener Tierhälften, teils lebendig auf subventionierten Spezialfarmen vorhält, könnte auf den Markt geworfen werden, um die Preise zu drücken. Außerdem kündigte die Regierung an, in diesem Jahr noch 384 Millionen US-Dollar in große Schweinefarmen zu investieren.
Unbestreitbar ist der Trend zur industriellen Tierhaltung in China seit Mitte der 1990er Jahre. Die Gründe sind vielfältig: die marktwirtschaftliche Liberalisierung der vergangenen Jahre, die massiven staatlichen Förderprogramme und die Suche privater Unternehmen nach lukrativen Investitionsmöglichkeiten. Landwirtschaftliche Nutzflächen werden knapp und zwingen zur Intensivierung der Produktion. Der Modernisierungsdruck entsteht aber auch durch das Verbraucherverhalten besonders in den Städten, wo frische, sichere und höherwertige Nahrung Konjunktur hat, durch neue Vorschriften zur Hygiene in den Schlachthöfen und bei der Verarbeitung, mit denen der Staat auf die zahlreichen Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre reagiert, und schließlich wegen der Exportambitionen des Landes, die die Einhaltung von Gesundheitsstandards und Normen der Importländer wie Japan oder Europa erforderlich machen. Das alles spielt großen Unternehmen in die Hände, die die gesamte Produktionskette vom Feld bis zum Supermarkt unter ihre Kontrolle bringen– und trägt dazu bei, daß Familienbetriebe auf der Strecke bleiben.
Rasante Industrialisierung
Dieser rapide Umbruch in der Fleischerzeugung, vorangetrieben durch eine Mischung aus Marktreformen, staatlichen Aufbauhilfen und Profitstreben ist bereits seit Mitte der 90er Jahre im Gange. Ging es zunächst vor allem um die Steigerung der Produktion und eine bessere Versorgung, tritt jetzt zunehmend die Sorge um die Nahrungsmittelsicherheit als Triebkraft hinzu: »Wilde« Schlachtungen wurden verboten, große Schlachthöfe eingeführt, die, so die Erwartung, die nötige Qualitätskontrolle sichern.Traditionell halten viele Bauern neben anderem Kleinvieh Schweine, gefüttert mit Ernte- und anderen Abfällen. Sie dienen teils der eigenen Versorgung, teils bringen sie ein kleines Zusatzeinkommen. Noch Mitte der 80er Jahre produzierten diese sogenannten Hinterhofbauern, die weniger als fünf Schweine im Jahr großziehen, 95 Prozent des gesamten Schweinefleischs in China. Doch Ende 2008 steuerten nach Angaben des Agrarministeriums in Beijing Betriebe mit 50 und mehr Tieren bereits 56 Prozent des Schlachtaufkommens bei, eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil der Hinterhofbauern auf kaum mehr als ein Viertel gesunken.
Neben diesen gibt es ein breites Feld mittelgroßer Betriebe, die von Zentralregierung und Provinzregierungen durch Unterstützungsmaßnahmen und Subventionen kräftig gefördert werden. Diese »Specialised Household Farms«, die sich auf die Schweinezucht konzentrieren, haben eine jährliche Produktionsleistung von zwischen zehn und 500 Tieren und zogen 2009 etwa die Hälfte der annähernd 500 Millionen Schweine groß. Einige werden von einzelnen Familien betrieben, andere von einer Gruppe von Hinterhofbauern oder von Genossenschaften. Die kommerzielle Produktion steht bei ihnen im Vordergrund. Häufig arbeiten sie als Vertragserzeuger für große Betriebe.
Zu den führenden industriellen Großunternehmen in der Schweinezucht gehören AgFeed, registriert an der Börse in den USA, und die staatliche China National Cereals, Oils and Foodstuff Corporation (COFCO), größter Produzent von Speiseöl und Importeur bzw. Exporteur von Agrarerzeugnissen. Viele Unternehmen setzen auf Expansion, zum Beispiel die New Hope Group, das größte private Agrarunternehmen in China, das in einer neuen Anlage in der Provinz Hebei demnächst eine Million Tiere im Jahr produzieren will, oder Hunan Tanrenshen, das in einem Joint Venture mit dem US-Schweinezüchter Whiteshire Hamroc jährlich zehn Millionen Schweine mästen und verarbeiten will.
In dieser neuen marktorientierten Agrarökonomie mit spezialisierten mittelgroßen Betrieben und Großunternehmen, die aktiv durch Politik und staatliche Investitionen unterstützt werden, können die Kleinbetriebe nicht mehr mithalten. Inzwischen sichert sich eine kleine Gruppe vertikal integrierter, vorwiegend einheimischer Firmen einen wachsenden Anteil an der Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung von Schweinefleisch, teils mit einem »Unterbau« von mehr oder weniger abhängigen Vertragserzeugern, die einen großen Teil des Risikos und der Investitionskosten tragen. Beschleunigt wird diese Entwicklung durch steigende Anforderungen an Fleischqualität und Hygiene, denen die Kleinbetriebe meist nicht gerecht werden können.
Dieser Umbruch findet analog auch in der Geflügelhaltung, der Aquakultur– China ist das Land mit dem größten Anteil an Fisch aus Zuchtfarmen – oder der Milchwirtschaft statt. So gaben zum Beispiel laut Welternährungsorganisation FAO seit Mitte der 1980er Jahre 70 Millionen Familienbetriebe die Hühnerhaltung auf, während die Zahl der industriellen Geflügelfarmen stieg. 2005 lieferten sie bereits die Hälfte des Geflügelfleischs. DaChan Food beispielsweise, zugleich einer der größten Hühner- wie auch Viehfutterproduzenten des Landes, betreibt zehn Farmen mit einer durchschnittlichen Kapazität von 20 Millionen Tieren im Jahr und plant den Bau weiterer 50 in ähnlicher Größe.
Ähnlich sieht es in der Milchwirtschaft aus, die traditionell nur eine geringe Rolle spielt, aber seit einigen Jahren ebenfalls intensiv staatlich gefördert wird und in kürzester Zeit einen gewaltigen Aufschwung durchmachte. Mehrere hundert Großbetriebe sind in den vergangenen Jahren entstanden, darunter zahlreiche Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Konzernen wie Nestlé und Danone. Der Melamin-Skandal 2008, der den Aufstieg abrupt stoppte, brachte auch hier eine Wende: Stärkere staatliche Kontrollen, der Aufbau moderner Verarbeitungsbetriebe und die Konzentration des Handels auf wenige Erzeuger und Handelsunternehmen drängen die bäuerlichen Milcherzeuger, die im Schnitt gerade einmal fünf Kühe halten, an den Rand, ebenso wie die traditionelle extensive Viehhaltung in den Steppen im nördlichen China.
Globale Auswirkungen
Auch, wenn China außer bei Milcherzeugnissen bei den meisten tierischen Produkten noch weitgehend Selbstversorger ist, stehen ausländische Exporteure Schlange, die auf den wachsenden Markt und die steigenden Ansprüche der Verbraucher setzen. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff empfahl jüngst bei einem Besuch Hühner, Rinder und Schweine aus ihrer Heimat. Die Meldung, daß Beijing den Schweinefleischmarkt für Lieferungen von brasilianischen Schlachtunternehmen geöffnet habe, beflügelt auch den Präsidenten der brasilianischen Hühnerindustrie, der auf eine Verdopplung der Exporte nach China hofft. Und Gerd Müller, Staatssekretär im Berliner Landwirtschaftsministerium, sieht »vor dem Hintergrund des boomenden chinesischen Marktes gewaltige Möglichkeiten für Milch, Butter und andere tierische Produkte aus Deutschland«, die bislang noch aus den USA, Australien und Neuseeland kommen.Auch die in China aktive niederländische Rabobank, spezialisiert auf den Agrar- und Lebensmittelbereich, sieht »großes Potential für ausländische Unternehmen« angemacht. Die Kommerzialisierung wie Restrukturierung der Versorgungsketten und die Entscheidung der Regierung, technologischer Modernisierung Priorität einzuräumen, würden Spielräume für Investoren eröffnen. Bei der weltgrößten Tierhaltungsmesse »Eurotier« im November 2010 in Hannover gab der Direktor der halbstaatlichen China Animal Agriculture Association diesen Hoffnungen neue Nahrung: Kapital, Technologietransfer, Ausbildung sowie Betrieb und Management ganzer Produktionsketten seien Bereiche, in denen ausländische Unternehmen gute Chancen hätten, erklärte er.
Vorerst wirken sich zunehmender Fleischverbrauch und Industrialisierung der Tierhaltung in China vor allem auf den globalen Futtermittelmarkt aus. Der rasch steigende Bedarf wird zunehmend auf dem Weltmarkt gedeckt, da bereits ein Drittel der einheimischen Getreideproduktion verfüttert wird und die neue »grüne« Agrarsprit-Politik die Nachfrage weiter erhöhen wird. Zugleich entstand eine privatwirtschaftliche Futtermittelindustrie im Land, die die früher weitgehend von staatlichen Agenturen getragene Versorgung der Betriebe ablöste. Ein entscheidender Einschnitt war dabei die Liberalisierung der Bedingungen für Sojaimporte nach dem WTO-Beitritt 2001. Diese führte dazu, daß der einheimische Sojaanbau durch billige Importe nahezu vollständig verdrängt wurde. Heute ist China der weltgrößte Sojaimporteur, der 2010 rund 50 Millionen Tonnen, etwa die Hälfte des globalen Handelsvolumens, aufkaufte, überwiegend aus Brasilien und den USA. Dabei handelt es sich vor allem um gentechnisch verändertes Soja. Der größte Teil davon wird von Betrieben, die einer Handvoll internationaler Konzerne gehören, verarbeitet, unter ihnen die US-Firmen ADM, Bunge und Cargill, das französische Unternehmen Louis Dreyfus und Wilmar International, eine führende asiatische Agrobusineß-Gruppe.
Ähnlich bei Mais: Zwar ist China noch der größte Produzent weltweit, da die Regierung den Anbau intensiv fördert. Doch mit dem WTO-Beitritt mußte das Land die Subventionen für den Getreideanbau zurückfahren. Trotz erheblicher Produktionssteigerungen in den vergangenen Jahren mußten 2010 große Mengen Mais aus den USA eingeführt werden. Das war zwar immer noch weniger als ein Prozent der eigenen Produktion, aber angesichts der Klimaveränderungen, der begrenzten Land- und Wasserressourcen und des Ethanolprogramms erwarten Beobachter eine wachsende Versorgungslücke. So sind chinesische Unternehmen bereits auf der Suche nach Land in Australien und Neuseeland, Tansania, Simbabwe oder Moçambique, in Argentinien und Brasilien oder im benachbarten Kasachstan.
Die Entwicklung der industriellen Tierhaltung drängt damit nicht nur die einheimischen Familienbetriebe aus dem Markt. Die Konkurrenz um Land und Wasser könnte sich bald auch in zahlreichen anderen Ländern auswirken – und dort die ländliche Bevölkerung verdrängen.
Im VSA-Verlag erschien 2007 Uwe Hoerings Buch »Agrar-Kolonialismus in Afrika. Eine andere Landwirtschaft ist möglich« (164 S., 12,80 Euro). Er ist Betreiber des Internet-Themendienstes globe-spotting.de.
Die Bilder in dieser Beilage stammen aus dem Bildband »Im Land der Mulde. Fotografien 1968–2008« mit Arbeiten von Gerhard Weber (Seiten1–5, 7 und 8) sowie aus dem Band »Am Rande der Zeit. Fotografien 1973–1989« mit Arbeiten von Roger Melis (Seite 6). Besprechung der Bücher: Seite 6.
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