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Aus: Ausgabe vom 22.06.2013, Seite 16 / Aktion

Bluttag in Rathenow

Vor 60 Jahren wurde der Kommunist Wilhelm Hagedorn bestialisch ermordet
Von Dietmar Koschmieder
Mord an Kommunisten? Spielt bei Merkel (l.) und Gauck keine Roll
Mord an Kommunisten? Spielt bei Merkel (l.) und Gauck keine Rolle
Am 17. Juni 1953 war die DDR noch nicht einmal vier Jahre alt. Und doch war sie politisch bereits am Ende.« So beginnt die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17. Juni 2013 auf der offiziellen Gedenkveranstaltung in Berlin. Was sie nicht sagt: Daß es das Dritte Reich der Hitlerfaschisten war, das da seit noch nicht einmal neun Jahren zu Ende war. Allerdings nicht politisch: Diejenigen, die Konzentrationslager und Verfolgung überlebten, sollten nun mit denen, die beim großen Völkermorden geschwiegen oder mitgemacht hatten, ein neues Deutschland aufbauen. Im Westen wurde mit Care-Paketen und Marshall- Plänen rasch das kapitalistische System restauriert, das sich bewußt in die Rechtsnachfolge des Dritten Reiches stellte. Im Osten sollte aus den Ruinen ein anderes, ein sozialistisches Deutschland auferstehen, trotz gewaltiger Reparationszahlungen und Kaltem Krieg. In nicht einmal vier Jahren?

»Die Bilder vom Volksaufstand in der DDR blieben unvergessen«, sagt Frau Merkel auf der Gedenkveranstaltung. Dieses Bild meint sie nicht: Das schwer zerbombte brandenburgische Rathenow, eines der Zentren der Unruhen vom 17. Juni 1953. Tausende auf den Straßen, der friedliche Teil der Kundgebung ist beendet. »Du Schwein, du Verräter, dich müßte man aufhängen«, wird gerufen, als der Arbeiter und Kommunist Wilhelm Hagedorn dort seinen Arbeitsplatz bei der HO verläßt, »hängt ihn auf, den Hund! Schlagt ihn tot!« Dabei wird Hagedorn bespuckt, geschlagen, getreten. »Ein älterer Mann (…) sollte an einem Blitzableiter erhängt werden.

Er schrie und wehrte sich. Er blutete am Schädel. Ein Auge schien aus der Kopfhöhle zu hängen«, berichtet ein Augenzeuge später. Als Tatort wählt man das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Es erscheint aber »zu aufwendig«, Hagedorn kann sich losreißen. Er wird von Genossen in eine Molkerei gezogen, sie holen einen Krankenwagen für den Schwerverletzten.

Doch der Krankenwagen wird von der Menge nicht durchgelassen. Hagedorn wird herausgezogen. Unter ständigen Schlägen und Tritten treibt man den blutüberströmten Mann Richtung Havelschleuse. »Ertränkt das Schwein!«, wird gerufen. Hagedorn bricht zusammen, Männer schleifen ihn trotz gebrochener Rippen und Schädelverletzungen zum Hafen. Dort will man ihn zwingen, sich selbst zu richten, ins Wasser zu springen. Er fällt in die Tiefe. Aber Hagedorn taucht immer wieder auf, schreit, holt Luft. Da setzen zwei junge Männer mit einem Ruderboot nach, schlagen ihn mit dem Ruder auf den Kopf, tauchen ihn lange unter Wasser. Halbtot gelangt Hagedorn trotzdem an das andere Ufer, Volkspolizisten ziehen ihn an Land. »Russenknechte, Russenknechte«, skandiert die gaffende Menge. Die Rettung kommt zu spät, im Krankenhaus erliegt Wilhelm Hagedorn nur kurz danach den schweren Verletzungen: Rippenbrüche, Schädelbasisbruch, Gehirnerschütterung, gebrochene Nase, Schlüsselbeinbruch… (Verlauf zusammengestellt aus diversen Aussagen und Berichten).

Man tat einiges dafür, solche Bilder vom 17. Juni 1953 vergessen zu machen. Auf dem Rathenower Friedhof gab es ein Familiengrab der Hagedorns. Auf dem schlichten Grabstein stand neben Familiendaten nur: »Menschen, ich hatte euch lieb. Seid wachsam! « Ein Zitat aus der »Reportage unter dem Strang geschrieben« des tschechischen Kommunisten Julius Fucík, der von den Nazis 1943 in Berlin- Plötzensee umgebracht wurde. Das sei ein Stein des Anstoßes, hieß es.

Deshalb wurde er 1997 von den Behörden entfernt, das Grab eingeebnet. Der verantwortliche Denkmalschützer verband die Entscheidung mit der Empfehlung, in Schulen und Medien über »Totalitarismus und Gewaltherrschaft« zu diskutieren. Ein zuvor befragter Experte meinte, die Gedenkfunktion würde wegfallen, weil Hagedorn offensichtlich ein politischer Verbrecher sei. Ähnliches erfährt man aus einer den Tätern wohlgesonnenen Reportage des Deutschlandradios vom 17. Juni 2003, wo kommentarlos aus der Niederschrift eines Zeitzeugen zitiert wird: »Dieser ›Mensch‹ Hagedorn war nachweislich ein Denunziant«. Der Mensch in Anführungszeichen gesetzt: Hagedorn ist nur scheinbar einer, die Tat wiegt also nicht schwer. Auch die meisten anderen der wenigen Medienberichte finden für die Lynchmörder viel Verständnis. Hagedorn war seit 1920 Kommunist, im Rotfrontkämpferbund, 1933 im KZ und nach 1945 SED-Mitglied, für die Volkspolizei tätig und aktiv bei der Entnazifizierung in Rathenow, arbeitete dabei mit den Sowjetbehörden zusammen. Er habe damit geprahlt, über 300 Menschen denunziert zu haben, wird behauptet; mal sei das in einer Kneipe gewesen in angetrunkenem Zustand, mal bei einer Parteiversammlung. Der politische Verbrecher war jedenfalls er. Denn der Westberliner Hetzsender RIAS hatte Wilhelm Hagedorn schon vor dem 17. Juni 1953 über den Äther als »Spitzel « gebrandmarkt.

Die DDR war an jenem Junitag im Sommer 1953 nicht am Ende, sondern stand politisch wie wirtschaftlich am Anfang. Das Schicksal des Genossen Wilhelm Hagedorn wie alle widersprüchlichen Umstände dieses Tages erinnern daran, unter welch harten Bedingungen das andere Deutschland aufgebaut werden mußte. Am Ende war die DDR erst im November 1989. Da war es nicht mehr nötig, zum Totschlagen der Kommunisten aufzurufen.

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