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Aus: Ausgabe vom 05.04.2024, Seite 14 / Medien
Monatsmonitor Medienwirtschaft

Disruption 3.0

Monatsmonitor Medienwirtschaft. Die Musikindustrie sieht sich nach den katastrophalen nuller Jahren im Aufwind. Aber die nächste Erschütterung könnte bald kommen
Von Gert Hautsch
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»Künstliche Intelligenz« auf dem Vormarsch: Das Musikbusiness rechnet mit drastischen Umsatzeinbußen

Eine Verdoppelung in drei Jahren gibt es selten in der Medienwirtschaft. In diesem Ausmaß ist die Zahl der Musik­streams in der BRD gestiegen. Im vergangenen Jahr gab es 213 Milliarden Einzelabrufe aus dem Internet, wie der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) kürzlich wissen ließ. Und weil Streaming inzwischen drei Viertel des Geschäfts ausmacht, ist auch der Branchenumsatz mit aufgenommener Musik um 6,3 Prozent auf 2,2 Milliarden Euro angewachsen.

Damit hat die Branche die kata­strophale Entwicklung nach der Jahrtausendwende hinter sich gelassen. Keine andere Medienbranche musste die Digitalisierung so früh und so desaströs erleben. Schon Mitte der 1980er Jahre hatte sich mit der CD eine digitale Speicherung von Musikstücken etabliert. Das Trägermedium war aber physisch, deshalb blieb der Markt für die fünf führenden Konzerne (»Majors«) beherrschbar. Das änderte sich Ende der 1990er Jahre, als sich das Internet und der Komprimierungsstandard MP3 durchsetzten. Danach entstanden illegale Musiktauschbörsen (z. B. Napster), bei denen sich Interessierte auf allen Erdteilen unkompliziert und kostenlos mit fast jedem Titel versorgen konnten. Plötzlich war von Disruption die Rede, der Zerstörung tradierter Geschäftsmodelle und deren Ersetzung durch neue.

Die »Majors« wurden von der Entwicklung überrumpelt und fanden kein Gegenmittel. Der Branchenumsatz in Deutschland brach zwischen 1998 und 2010 von 2,7 auf 1,5 Milliarden Euro ein, im globalen Maßstab war es ähnlich. Zwei globale Konzerne (EMI und BMG) verschwanden vom Markt, die verbliebenen (Warner, Sony, Universal) mussten zusehen, wie ihnen ein Außenseiter Teile des Geschäfts, den Musikvertrieb, wegnahm. Apple hatte 2003 mit seinem I-Pod und dem I-Tunes Store geschafft, was den »Majors« nicht gelungen war: ein integriertes Hardware- und Downloadsystem zu entwickeln, das leicht zu handhaben und für das Publikum akzeptabel war.

Der Abwärtstrend wurde dadurch gestoppt. Zwischen 2010 und 2018 stagnierte der Musikumsatz hierzulande bei rund 1,5 Milliarden Euro. Der Aufstieg seither war das Ergebnis einer erneuten Disruption, des Direktkonsums von Musik aus dem Internet – ohne Herunterladen und Speichern. Apple hatte das Potential der Streamingtechnik verschlafen, deshalb heißt der Platzhirsch heute Spotify und kommt aus Schweden. Erst dahinter folgen Apple, Amazon und andere.

Der Musikkonsum erfolgt jetzt virtuell: 1,8 Milliarden Euro sind hierzulande 2023 auf digitalen Geschäftsfeldern umgesetzt worden, davon 1,65 Milliarden durch Streaming. Mit CD-Alben wurden nur noch 250 Millionen Euro hereingeholt, ein Rückgang um 6,4 Prozent. Skurrilerweise konnte hingegen die ­Vinyl-LP ihre Nische ausbauen: 139 Millionen Euro – zwölf Prozent mehr als 2022 – brachten die Retroplatten ein.

Nach Aussagen des BVMI kommt der Siegeszug des Musikstreamings auch den Musikschaffenden zugute. Seit 2010 seien die Zahlungen für Honorare, Vorschüsse und Lizenzgebühren um 132 Prozent gestiegen, während die Einnahmen der Firmen (»Labels«) nur um 17 Prozent zugenommen hätten. Eine Studie, die die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) im September 2022 veröffentlicht hat, trübt allerdings das Bild. Demnach behielten die Labels im deutschen Musikstreamingmarkt 42 Prozent der Einnahmen bei sich, 30 Prozent gingen an die Streamingdienste und 5,3 Prozent an die Verlage. Für die Musikschaffenden blieben nur 22,4 Prozent übrig, darunter 9,7 Prozent für Urheberrechte.

Streaming bringt einen wachsenden Einfluss der globalen Plattformen auf den Konsumentengeschmack mit sich. Für den Erfolg einzelner Musikstücke spielen die Playlists von Spotify und Co. eine enorme Rolle. Sie werden von Algorithmen erstellt, die Kriterien dafür bleiben geheim. Im Ergebnis dominiert kommerziell erfolgreiche Musik, neue Werke und musikalische Nischen werden benachteiligt.

Dies könnte sich im Zuge einer dritten Disruption, die gerade Fahrt aufnimmt, verstärken: der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI). Nicht nur, weil mit den wachsenden Rechnerleistungen die Algorithmen ausgefeilter werden und die Steuerung der Kundenwünsche »optimiert« werden kann. Das Potential der Technik wird auch beim Komponieren und Schreiben von Liedtexten, bei der Aufnahme der Musikstücke sowie für Werbung und Vertrieb zum Zuge kommen. Einer Studie der GEMA vom Januar 2024 zufolge setze schon jetzt mehr als ein Drittel der 15.000 befragten Musikschaffenden KI bei ihrer Arbeit ein. Demnach könnte es in den kommenden fünf Jahren zu einem erneuten Umsatzeinbruch in der Musikindustrie um mehr als ein Viertel kommen. Das Spiel ist noch nicht zu Ende.

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