4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 15 / Geschichte
Genozid

Absturz in den Völkermord

Vor 30 Jahren starben die Präsidenten Ruandas und Burundis, als ihr Flugzeug abgeschossen wurde. Das war der Auftakt zum Genozid in Ruanda
Von Christian Selz, Kapstadt
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Millionen flohen vor den völkermörderischen Handlungen in ihrem Land. Ruander an der Grenze zu Tansania (30.5.1994)

Es war bereits dunkel, als das Geschäftsreiseflugzeug vom Typ »Dassault Falcon 50« am 6. April 1994 gegen 20.20 Uhr Ortszeit zum Landeanflug auf dem Internationalen Flughafen Kigali ansetzte. Zeugen in der ruandischen Hauptstadt sollten später von zwei Raketen sprechen, die den Flieger zunächst an einer Tragfläche und dann am Heck trafen. Noch in der Luft fing die Maschine Feuer, ehe sie in den Garten des Präsidentensitzes stürzte und beim Aufprall explodierte. Alle zwölf Insassen, darunter Ruandas Staatschef Juvénal Habyarimana, sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira und eine Reihe von Ministern und ranghohen Militärs starben bei dem Angriff. Noch in derselben Nacht erschütterten schwere Kämpfe Kigali, am Folgetag töteten Militärangehörige die Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, die nach der Verfassung die Nachfolge Habyarimanas hätte antreten sollen. Es war der Auftakt zum Völkermord in Ruanda.

Militär, Polizei, Milizen und von ihnen aufgestachelte Zivilisten der Hutu-Mehrheit ermordeten innerhalb von nur gut drei Monaten 800.000 bis 1.000.000 Menschen, überwiegend Angehörige der Tutsi-Minderheit, aber auch Hutus, die als politische Gegner galten oder sich dem Morden in den Weg stellen wollten. Nachbarn töteten Nachbarn, Ehemänner ihre Ehefrauen. Angefeuert wurden die Mörder von einem Rundfunksender namens Radio-Télévision Libre des Mille Collines, der vor allem über sein Hörfunkprogramm unverhohlen dazu aufrief, »an die Arbeit« zu gehen und »die Kakerlaken« zu töten. Begünstigt wurde der Völkermord aber auch dadurch, dass die bereits im Land befindliche UN-Truppe weder das Personal noch das Mandat erhielt, den Genozid zu unterbinden. Im Gegenteil: Die ehemalige Kolonialmacht Belgien zog ihr Kontingent umgehend zurück, nachdem bei der Ermordung der Premierministerin Uwilingiyimana am 7. April auch zehn belgische Soldaten, die sie hätten schützen sollen, getötet worden waren.

Beendet wurde der Genozid letztlich, nachdem die Tutsi-Miliz Ruandische Patriotische Front (Front Patriotique Rwandais, FPR) Mitte Juli 1994 in Kigali einmarschiert war. Ihr Oberkommandierender Paul Kagame ist noch heute Staatschef des Landes. Die Hutu-Nationalisten flohen zusammen mit bis zu zwei Millionen Zivilisten ins benachbarte Zaire (heute: Demokratische Republik Kongo), was in der Folge zu den Kongokriegen führte, denen seitdem weitere fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen. Zwei Berichten von Expertenkommissionen der Vereinten Nationen zufolge unterstützt Ruanda im Kongo die Miliz M23, die dort für schwere Menschenrechtsverbrechen verantwortlich gemacht wird.

Bis heute ungeklärt bleibt die Frage, wer für den Abschuss der Präsidentenmaschine am 6. April 1994 verantwortlich war. Mindestens sechs Untersuchungen hat es bisher gegeben. Drei davon – eine durchgeführt von einem Team der Vereinten Nationen, eine in Auftrag gegeben von französischen Richtern und eine unter Führung spanischer Richter – kamen zu dem Ergebnis, dass die FPR wahrscheinlich Urheber der Attacke war. Zwei Untersuchungen im Auftrag der ruandischen Regierung machten wenig überraschend Hutu-Extremisten als Täter aus; eine weitere französische richterlicher Untersuchungskommission hielt dieses Szenario ebenfalls für wahrscheinlicher. Letztere drei Untersuchungen scheitern jedoch daran, einen Widerspruch in bezug auf die verwendeten Waffen aufzulösen.

Denn die Angreifer verwendeten schultergestützte Kurzstrecken-Boden-Luft-Raketen vom Typ »9K310 Igla-1«, die ursprünglich in den 1980er Jahren in der Sowjetunion gebaut wurden. Bei der NATO werden die Raketen als SA-16 bezeichnet. Während die Streitkräfte des Nachbarlands Uganda, das die FPR verdeckt unterstützte, über Bestände dieser Raketenart verfügten, ist vom damaligen ruandischen Militär lediglich bekannt, dass es im Besitz von Flugabwehrraketen französischer Bauart war. 1998 erklärte der französische Politiker Bernard Debré, zwischen November 1994 und Mai 1995 kurzzeitig Minister für internationale Kooperation, dass die anhand der Produktionsnummern auf den aufgefundenen Abschussrampen identifizierten Raketen von den USA im Ersten Golfkrieg im Irak erbeutet und später an Uganda weitergegeben worden seien. Pentagon und US-Außenministerium dementierten umgehend, die Waffen an die Angreifer geliefert zu haben, was ihnen strenggenommen allerdings auch niemand vorgeworfen hatte. Bekannt ist jedoch, dass US-Militärberater sowohl die ugandische Armee als auch FPR-Truppen ausgebildet haben. Kagame selbst war dazu sogar in die USA gereist, als seine Miliz noch aus der bergigen ugandisch-ruandischen Grenzregion den Guerillakrieg plante.

Der Ursprung des Konflikts liegt allerdings noch viel weiter zurück, nämlich in der Kolonialgeschichte des heutigen Ruandas. Das Gebiet war im Rahmen der Berliner Afrikakonferenz 1884/1885 dem deutschen Kaiserreich zugeschlagen worden. Zwar gab es seinerzeit bereits eine Unterscheidung von Hutu und Tutsi. Erstere galten hauptsächlich als Ackerbauern, letztere als Viehzüchter. Die Tutsi wurden zudem als größer gewachsen und hellhäutiger als die Hutu beschrieben. In der Hierarchie der Gesellschaft standen die wohlhabenderen Tutsi über den ärmeren Hutu – klar abgegrenzt als Ethnien waren die Gruppen aber nicht. Ein Hutu, der zu Reichtum kam, konnte zum Tutsi werden und umgekehrt. Die Deutschen allerdings verfestigten die Unterschiede zu Ethnien und stärkten die Tutsi-Monarchie, um die Hutu-Mehrheit zu unterdrücken. Belgien, das die Kolonie nach dem Ersten Weltkrieg verwaltete, übernahm diese Teile-und-herrsche-Praxis. In der Folge zielte die von den Hutus ausgehende antikoloniale Revolution von 1959 bis 1961 nicht nur gegen die Belgier, sondern auch gegen die Tutsi. Hunderttausende flohen in Nachbarländer, vor allem nach Uganda, wo sie zunächst ebenfalls unterdrückt wurden. Das änderte sich, als Tutsi-Milizen dem bis heute regierenden Langzeitpräsidenten Yoweri Museveni 1986 bei dessen Marsch auf die Hauptstadt Kampala an die Macht verhalfen. Mit Musevenis Unterstützung begann die FPR 1990 ihren Krieg gegen die ruandische Regierung.

Treuer Verbündeter

Zum Zeitpunkt des Angriffs auf die Präsidentenmaschine gab es jedoch bereits ein Friedensabkommen, in dessen Zuge sich Habyarimana zur Bildung einer gemeinsamen Regierung mit Kagames FPR verpflichtet hatte. Wem nutzte also der Abschuss? Im Grunde beiden Seiten: Hardliner in Habyarimanas Militär opponierten gegen die Machtteilung und hatten – das belegt auch der schnelle Beginn des Mordens – die Pläne für den Genozid bereits ausgearbeitet. Aber auch Kagame erhielt mit dem Völkermord erst die Legitimation für seinen Einmarsch in Kigali. Belegt ist damit nichts. Festzuhalten ist aber, dass die USA mit dem von ihnen selbst ausgebildeten, autokratisch herrschenden Staatschef einen treuen Verbündeten in der Region gewonnen haben. Und selbst Frankreich, dessen Militär während des Guerillakriegs ruandische Truppen gegen die FPR unterstützte und traditionell auf seiten des Hutu-Lagers stand, hat inzwischen seinen Frieden mit den neuen Machthabern gemacht. 2010 gestand der damalige Präsident Nicolas Sarkozy, der als erstes französisches Staatsoberhaupt seit dem Völkermord nach Kigali gereist war, dass »die internationale Gemeinschaft, Frankreich eingeschlossen, ihre Fehler reflektieren« müsse, die sie während des Genozids gemacht habe. Eine Entschuldigung kam Sarkozy noch nicht über die Lippen. Die lieferte schließlich der amtierende Präsident Emmanuel Macron, der im Mai 2021 ebenfalls in Kigali offiziell um Vergebung bat. Er bekam noch mehr: Kurze Zeit später entsandte Ruandas Regierung eine Eingreiftruppe in den Norden Mosambiks, wo eine islamistische Miliz eine Großanlage des französischen Ölkonzerns Total bedrohte.

Und noch einen Nutzen zog der Westen aus dem Völkermord: Ruanda wird seither als erstes Argument für die Doktrin des Right to Protect, also von Kriegseinsätzen zum vermeintlichen Schutz bedrohter Volksgruppen, herangezogen. Dass man auch in dem ostafrikanischen Land den Konflikt überhaupt erst angeheizt hatte, muss dabei selbstredend unter den Tisch fallen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (5. April 2024 um 22:18 Uhr)
    Macron hat eingestanden (endlich für die französische Regierung), dass Frankreich und seine westlichen und afrikanischen Verbündeten den Völkermord in Ruanda 1994 »hätten verhindern können«, aber nicht den Willen hatten, das Abschlachten von schätzungsweise 800.000 Menschen, hauptsächlich ethnische Tutsis, zu stoppen.

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