4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 10.04.2024, Seite 12 / Thema
Thüringen

»Hass, Hass und wieder Hass!«

Thüringen war vor 100 Jahren ein Tummelplatz völkischer und faschistischer Organisationen. Dabei stachen Fritz Sauckel und sein Kampfblatt Der Deutsche Aar hervor
Von Manfred Weißbecker
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Antikapitalistische Demagogie, antisemitisch grundiert: Wahlplakat des Völkisch-Sozialen Blocks in Thüringen zur Reichstagswahl im Jahr 1924

Bei dem folgenden Text handelt es sich um eine stark gekürzte und redigierte Fassung eines in diesen Tagen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen erschienenen Aufsatzes des Historikers Manfred Weißbecker: »Thüringen vor 100 Jahren: Tummelplatz völkischer und faschistischer Organisationen und der nationalsozialistische Organisator Fritz Sauckel«. Wir danken Autor und Stiftung für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. Der vollständige Text kann unter https://t1p.de/sauckel heruntergeladen werden. (jW)

In den frühen 1920er Jahren galt das Land Thüringen als ein demokratisch-repu­blikanischer Hoffnungsträger und mögliches Bollwerk gegen den Ansturm von Faschisten aus Bayern.¹ Konservative und liberale Gegner der Weimarer Republik aber sahen darin nichts anderes als ein revolutionäres, die Macht der Herrschenden erschütterndes »Schreckgespenst«.² Schließlich verhängte die Reichsregierung eine militärische ­Exekution gegen Thüringen und ließ am 8. November 1923 Truppen der Reichswehr vor dem Landtag in Weimar aufmarschieren. Die demokratisch zustandegekommene und verfassungsmäßig legitimierte Koalition von SPD und KPD wurde gezwungen, sich Schritt für Schritt aufzulösen.

Kooperation mit Faschisten

In einer politisch außerordentlich aufgeheizten Atmosphäre bereiteten die bürgerlichen Parteien die für den 10. Februar 1924 angesetzte Wahl eines neuen Thüringischen Landtages vor. Der Verband der Mitteldeutschen Industrie rief seine Mitglieder auf, pro Kopf der Belegschaften fünf Goldmark für den Wahlkampf der bürgerlichen Parteien zu spenden, um das Bürgertum und damit die Industrie zu retten, »koste, was es koste …«, und sei es selbst »der letzte Hosenknopf«.³ Von Abgrenzung zu Völkischen und Faschisten fiel dabei kein Wort.

So erklärte der Thüringer Ordnungsbund, ein am 30. Dezember 1923 entstandener Zusammenschluss mehrerer bürgerlicher Parteien, der auch von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) unterstützt wurde, in Thüringen herrsche »allgemeine Rechtsunsicherheit«. Alles sei furchtbar zerrüttet, insbesondere die Finanzen und das Wirtschaftsleben, das Beamtentum und das Schulwesen. Auch habe das »rote Thüringen« das Reich im Ausland bloßgestellt.

Der Thüringer Ordnungsbund gewann die Landtagswahlen am 10. Februar 1924, konnte aber nicht die absolute Mehrheit der Mandate erringen. In dieser, einem Patt zwischen den Lagern gleichenden Situation griff dessen Führung gern nach der Hand von sieben neuen Abgeordneten, den ersten Faschisten, die überhaupt in ein deutsches Landesparlament eingezogen waren. Ihre Namen hatten auf der Liste des Völkisch-Sozialen Blocks (VSB) gestanden, einer Wahlgemeinschaft, zu der sich einige, darunter auch miteinander konkurrierende Gruppen der Völkischen und der Nationalsozialisten zusammengefunden hatten, um die im Herbst 1923 erlassenen Verbote von Deutschvölkischer Freiheitspartei und Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei (NSDAP) umgehen zu können. Die neue Landesregierung, an deren Spitze mit Richard Leutheusser ein Vertreter der Deutschen Volkspartei (DVP) stand, zahlte bedenkenlos den Preis, den die neue Fraktion gefordert hatte: So wurden nicht nur beinahe alle Reformen der Vorgängerregierung rückgängig gemacht und die proletarischen Hundertschaften aufgelöst, sondern auch das Verbot der NSDAP aufgehoben. Ohne jede Debatte sowie Anzeichen von Skrupeln fügte man sich bei der Regierungsbildung auch der völkischen Forderung, es dürfen in die neue Regierung nur »rein arische Männer« aufge­nommen werden.⁴

In welchem Geist die thüringischen Konservativen sich nach ihrem Wahlerfolg ans Werk machten, verriet auch ein Wahlaufruf der DNVP für die Wahlen zum neuen Reichstag, die für den 4. Mai 1924 angesetzt worden waren. Darin hieß es, man wolle endlich frei sein von »äußerer Fremdherrschaft«, frei vom Marxismus und »frei von dem mit dem Marxismus allzeit verbündeten Judentum!«⁵ Auf solcher Grundlage und in weitgehender Übereinstimmung mit den auf diese Weise geförderten faschistischen Kräften gelang ein signifikanter Kurswechsel in der Landespolitik. Konservative und antirepublikanische Kräfte setzten »eine massive Gegenreaktion«⁶ zu den demokratischen Entwicklungen in den ersten Nachkriegsjahren durch.

Testlabor Thüringen

Thüringen bot den deutschvölkischen und faschistischen Kräften einen außerordentlich günstigen Nährboden. Was für sie nach dem Scheitern des Hitler-Ludendorff-Putsches erforderlich zu sein schien, war dank der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auch möglich: Gesucht wurde nach zeitgemäßen, an den Parlamentarismus angepassten, diesen zugleich unterminierenden Auswegen aus eigenen politisch-taktischen Wirren sowie den lebhaft betriebenen Streitereien um begehrte Führungspositionen. Alles kulminierte in der Frage nach Notwendigkeit und Charakter einer neuen Rechtspartei, unter deren Hut eine große Zahl von Mitgliedern und Wählern besonders aus den Reihen der Arbeiterschaft versammelt werden könnte. Sollte es eine neue »deutschnationale Rechtspartei«, eine »völkische Mittelpartei«, eine »überparteiliche Bewegung« oder eine »nationalsozialistische« sein?

Thüringen erwies sich als ein Gebiet, das für die letztere Variante gute Voraussetzungen bot. Die hier agierenden politischen Parteien standen einander in zwei »Lagern« gegenüber – auf der einen Seite die beiden Arbeiterparteien, die indessen kaum noch zu gemeinsamen Aktionen fähig waren, auf der anderen Seite sowohl die Parteien der sogenannten Mitte als auch die ausgesprochen rechts orientierten Parteien. Völkische Kreise und NSDAP konnten sich hier auf das antisemitische und antisozialistische Ressentiment größerer Teile des Bürgertums und der Agrarverbände stützen. Zudem übte ein völkisches Netzwerk von Literaten wie Adolf Bartels und anderen starken Einfluss aus. Bei vielen Intellektuellen dominierte ein ausgeprägt nationalistisches Klassikverständnis, als Teil einer radikal betriebenen Kulturrevolution von rechts.

Was die seit 1928 von Alfred Hugenberg geführte Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erst im Kampf gegen die Annahme des Young-Planes sowie für den Sturz der Regierung Brüning praktizierte und was mit dem Siegel »Harzburger Front« in die Geschichte einging, wurde in Thüringen bereits in der Mitte der 1920er Jahre erprobt. Hitler durfte keineswegs ohne Grund hoffen, dass Thüringen, »wie die Dinge liegen, die nationalsozialistische Hochburg Deutschlands« werden könne.⁷

An der Spitze des VSB und dessen Fraktion im Thüringischen Landtag stand Artur Dinter, weithin bekannt als Verfasser des 1917 erschienenen Bestsellers »Die Sünde wider das Blut«. Politisch kam er aus dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund sowie der Deutschvölkischen Freiheitspartei, die sich 1922 aus dem rechten Rand der Deutschnationalen Volkspartei herausgelöst hatte. Er stand auch der Nationalsozialistischen Freiheitspartei nahe und damit zwischen den Frontlinien der an Ludendorff bzw. Hitler orientierten Kreise sowie zwischen Personen, die eher deutschvölkische Akzente setzen wollten als eindeutig »nationalsozialistische«. Allen verschaffte er – Anfang Juli 1924 von Hitler offiziell als Gauleiter der NSDAP in Thüringen ernannt – mehrfach Gelegenheit, sich im Land zu Parteitagen und ähnlichen Veranstaltungen zu treffen. Mit seinen vorwiegend religiös geprägten Vorstellungen geriet er allerdings bald in Konflikt mit der Münchener Führung und wurde 1928 aus der NSDAP ausgeschlossen.

Eng an Dinters Seite stand zunächst Fritz Sauckel, der ebenfalls aus den deutschvölkischen Reihen kam, am 1. Januar 1923 der NSDAP beitrat und rasch zum Gesicht des Faschismus in Thüringen aufstieg. Sauckel wurde später Leiter des »NSDAP-Trutzgaues Thüringen«, Staatsminister und ab 1942 »Generalkommissar für den Arbeitseinsatz« und damit einer der zentralen Organisatoren der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg (wofür ihn 1946 das Nürnberger Tribunal gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilte).⁸

Der Deutsche Aar

Der aus dem unterfränkischen Hassfurt stammenden Sauckel hatte zunächst in Schweinfurt und im thüringischen Ilmenau eine Abteilung des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes aufgebaut. Als Hitler in München putschte, war er am 10. November 1923 mit 22 Mann nach Coburg gezogen – vergeblich, denn sein Trupp wurde von der Polizei entwaffnet und verhaftet. Am 15. November tauchte er wieder in Ilmenau auf und gründete hier eine neue Organisation, die keinerlei Bedeutung erlangte. Ihr Name Bund Teja erwuchs aus der Vorstellung, dass es trotz der Niederlage in München nun gelte, den »Führern« Ludendorff und Hitler die Treue zu halten, ähnlich wie einst auch dem letzten »König der edlen Goten« die Treue gehalten worden sei. Offensichtlich hatte er den »Kampf um Rom«-Roman von Felix Dahn gelesen. In Ilmenau gründete er auch eine SA-Ersatzorganisation namens Deutscher Wanderverein. Es gelang ihm zudem bald, eine relativ große Ortsgruppe der NSDAP aufzubauen, die 80 Mitglieder umfasst haben soll.

Den ersten größeren Schritt auf dem Weg in die Führungskreise der NSDAP ging Sauckel mit einem publizistischen Projekt. Unter seiner Geschäftsführung erschien am 15. März 1924 in Ilmenau die erste Ausgabe von Der Deutsche Aar. Der Untertitel las sich etwas bescheidener und lehnte sich an das verbotene Zentralorgan der NSDAP an: Thüringerwald-Beobachter. Zusätzlich trug die Zeitung die Bezeichnung »Kampfblatt für deutsches Volkstum und soziale Gerechtigkeit«.

Die Ausgabe vom 28. Juni 1924 nutzte Sauckel für einen persönlichen Appell »An alle Deutschen!«, der sich liest wie eine Zusammenfassung aller nationalistisch-völkischen Erzählungen: »Unwürdig unserem Volk lastet das Schuldbekenntnis feiger Selbstbezichtigung auf uns. Schmachvoll brennt die Scham erbärmlicher Selbstverleugnung. Wie ein entfesseltes Heer von Dämonen quält die Schuldlüge die Seele unseres Volkes. Ein grausames Schicksal macht die Ungeborenen, die deutscher Art sein werden, zu Sklaven einer verbastardeten Menschheitsfurie, zwingt die Lebenden zu entehrender Fron, setzt uns immer neue Sklaventreiber und Spione auf den Hals, entehrt uns, raubt uns Stolz und Kraft, stürzt Altäre und Heiligtümer deutschen Volkstums. Darum Männer und Frauen, die ihr Euch noch Deutsche nennt, gleich welcher Richtung, wenn ihr nur ein deutsches Sehnen eures Blutes spürt, seid einmal Deutsch! Vergesst das Kleinliche, Partei und Bund! Lasst einmal Eure Herzen zusammenschlagen, lasst einmal zu gewaltiger Flamme Eure gemeinsame Begeisterung emporlodern, dann Sturmbanner weht und Sturmbanner braust, dann Heil zur deutschen Tat!«⁹

Die zitierte Passage enthält alle Floskeln und Gemeinplätze, die seit vielen Jahrzehnten im Lager der Völkischen verwendet wurden (und immer wieder verwendet werden). Da ist kaum ein eigener Stil erkennbar, in Sauckels Formulierungen steckte keinerlei Schliff, verbale Entgleisungen tauchten massenhaft auf, ebenso orthografische Fehler. Schwulstige Überhöhungen, hohle Phrasen und begrenzter Wortschatz kennzeichnen die Äußerungen. Sauckels Artikel künden von den Schandtaten, die Juden, Freimaurer, Marxisten und Bolschewiki sowie »Mammonisten« des In- und Auslands vollbracht haben sollen. Immer wieder applaudierte er »heldenhaften Führern« und beschwor die »Volksgemeinschaft« der arischen Deutschen. Als Leitspruch für seine Autoren sollte gelten: »Stolz, Wille, Trotz, Hass, Hass und wieder Hass!«¹⁰

Der ab April 1924 zweimal in der Woche erscheinende Deutsche Aar bot vor allem jenen völkischen Organisationen aus Nord- und aus Süddeutschland Schützenhilfe, die sich an den für den 4. Mai 1924 angesetzten Reichstagswahlen beteiligten und sich auf Reichsebene zum Völkisch-Sozialen Block zusammenschlossen. Obgleich es in der NSDAP ebenso wie in der von Alfred Rosenberg im Auftrag von Hitler geleiteten NSDAP-Ersatzorganisation »Großdeutsche Volksgemeinschaft« Streit um die Frage gab, ob man sich überhaupt an Wahlen beteiligen solle, scheint sich Sauckel eindeutig für den Schritt in die Parlamente entschieden zu haben.

Sauckel griff in diese Auseinandersetzung mit der Veröffentlichung eines »Staats- und Wirtschaftsprogramms der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei« ein. Es umfasste 39 Punkte, gegliedert in sieben jeweils »Grundsätze« verkündende Abschnitte. Zahlreiche Formulierungen entstammten dem bekannten 25-Punkte-Programm der NSDAP, varrierten dieses allerdings. So enthielten die einleitenden staatspolitischen Grundsätze nicht die Forderung nach einem »Großdeutschland aller Deutschen«, auch nicht die nach Landerwerb und Kolonien. Man sprach etwas gemäßigter vom Deutschen Reich als der »Heimat der Deutschen« und davon, dass im Ausland die deutschen Interessen »kraftvoll« zu vertreten seien. Indessen klangen die rassistisch-antisemitischen Forderungen recht drastisch. Juden und Nichtdeutsche seien aus allen öffentlichen Ämtern auszuscheiden. Neu war die Formulierung, dass nicht nur alle Zuwanderung von »Ostjuden«, sondern auch die von anderen »parasitären Ausländern« zu unterbinden sei.

Die grundsätzliche Anerkennung des Privateigentums wurde mit dem wirtschaftspolitischen Grundsatz der »Bedarfsdeckung« verknüpft, was dem Prinzip einer »möglichst hohen Rentabilität für das Leihkapital« gegenübergestellt wurde. Alle Deutschen sollten eine »Werkgemeinschaft zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt und Kultur« bilden. Wucherer und Schieber seien mit dem Tode zu bestrafen. Im Punkt 13 hieß es: »Riesenbetriebe (Konzerne, Syndikate und Trusts) werden bekämpft«, was die ursprüngliche Forderung nach deren Verstaatlichung erheblich abmilderte. In den finanz- und sozialpolitischen Grundsätzen dominierten die Parole »Brechung der Zinsknechtschaft« sowie die Erklärung, das Allgemeinwohl sei »das oberste Gesetz«. Das Wort »Bodenreform«, im 25-Punkte-Programm der NSDAP sehr nachdrücklich verwendet, tauchte nicht auf.¹¹ Gefordert wurde nur eine Reform des Bodenrechts; vielleicht das deutlichste Zeichen nationalsozialistischer Zugeständnisse an die Völkischen. Im Gegensatz zu der recht allgemeinen Formulierung von 1920 nach einer »Gewinnbeteiligung an Großbetrieben« war 1924 als Punkt 13 zu lesen: »Beteiligung aller an produktiven Unternehmungen Beschäftigten je nach Leistung und Alter an den Erträgnissen des Werkes unter gleichzeitiger Mitverantwortlichkeit für die Erfüllung der volkswirtschaftlichen Aufgaben des Werkes.«

In den militärpolitischen Punkten ließ sich kein Unterschied zum Parteiprogramm von 1920 erkennen, wohl aber in der Forderung nach einer »Justizreform« und einer »Reform des Wahlrechtes«, durch die die »jetzt korrumpierenden Formen des Wahlkampfes« auszuschalten seien. Ohne konkret zu werden, sollte schließlich auch der Staat reformiert werden. Die künftige Staatsform solle dem »deutschen Wesen« gemäß sein, also eine »oberste Spitze« ausweisen, ob diese »durch einen vom Volk zu wählenden Monarchen besetzt wird oder durch zwei oder drei verantwortliche höchste Reichsbeamte, muss späterer Volksabstimmung überlassen bleiben«.

Völkische Erfolge

Wie sehr sich die politischen Verhältnisse im Land Thüringen zugunsten der rechtesten Kräfte im Spektrum der politischen Parteien auswirkten, zeigten die Ergebnisse der Reichstagswahlen vom Mai 1924. Nahezu zwei Millionen Wähler entschieden sich für die Liste des VSB. Für ihn zogen 32 Abgeordnete in den Reichstag ein, darunter zehn NSDAP-Mitglieder. Mit dem Wahlergebnis konnten die Völkischen und ihre konkurrierenden Partner der NSDAP durchaus zufrieden sein: Für sie hatten in Mecklenburg 20,8 Prozent, in Franken 20,7 Prozent, in Oberbayern-Schwaben 17 Prozent der Wähler votiert. Im Reichsdurchschnitt waren nur 6,5 Prozent erreicht worden. In Thüringen hatten sich 84.893 Wähler (10,5 Prozent), in den preußischen Gebieten Thüringens 8,4 Prozent für den VSB entschieden. Entsprechend fiel der Jubel in Sauckels Zeitung aus, die sich in den nächsten Folgen regelrecht als ein Verlautbarungsorgan der VSB-Fraktionen in Reichs- und Landtag erwies. Von Freude und mit Genugtuung erfüllte Kommentare galten der Entstehung der Nationalsozialistischen Freiheitspartei, die für Thüringen als Vereinigung von NSDAP und Deutschvölkischer Freiheitspartei (DVFP) innerhalb der Landtagsfraktion dargestellt wurde.

Sauckel wagte nun einen Vorstoß zugunsten der NSDAP, als er am 2. Juli 1924 zusammen mit Willy Marschler – auch er gehörte zur Ortsgruppe der Partei in Ilmenau – in großer Aufmachung bekanntgab, die Zeitung trage künftig den Untertitel »Kampfblatt der Nationalsozialisten Deutschlands«. Der Deutsche Aar verstehe sich »als Organ der Anhängerschaft Adolf Hitlers« und sei von nun an über das gesamte Reichsgebiet verbreitet.¹²

Sauckel war dessen ungeachtet weiter auf die Wahrung gemeinsamer Positionen von Nationalsozialisten und Völkischen bedacht: Dass es am 20. Juli ein Treffen von etwa 80 Nationalsozialisten in Weimar gegeben hatte und dort, initiiert von Rosenberg, gegen eine Fusion von NSDAP und DVFP entschieden worden war, war Sauckel keine Mitteilung wert. Zur Reichstagswahl im Dezember erschien der Deutsche Aar als Extrablatt, nannte aber weder Kandidaten noch gab er Vorgaben für das Wahlverhalten der Leser.

Ende 1924 geriet Sauckel in finanzielle Probleme. Offensichtlich scheiterte der Versuch, einen eigenen Verlag ins Leben zu rufen; nur ein einziges Mal tauchte dieser Sauckel-Verlag als Herausgeber auf. Finanzielle Schwierigkeiten veranlassten schließlich den stillschweigenden Übergang zu einer einzigen Ausgabe pro Woche, nachdem noch am 5. Oktober vollmundig angekündigt worden war, in Kürze könne der Deutsche Aar zu einer Tageszeitung umgestaltet werden. Im November erschien drei Wochen lang keine Ausgabe, was sich zwischen Weihnachten 1924 und Mitte Januar 1925 wiederholte. Auch die Verwendung eigener Ersparnisse konnte das Blatt nicht retten.¹³ Unklar bleibt ohnehin, wie dieses Unternehmen finanziert worden ist, aber auch, wovon Sauckel damals überhaupt seinen Lebensunterhalt bestritt.

Die letzte Ausgabe des Deutschen Aars erschien am 15. März 1925, nachdem mit der am 16. Februar in Bayern erfolgten Aufhebung des Ausnahmezustandes auch das Verbot der NSDAP und ihres zentralen Kampfblattes gefallen war. Das Motto im letzten Heft: »Hitler treu ergeben«. Der Inhalt beschränkte sich auf Berichte über die »Neuaufstellung« der Partei aus dem am 26. Februar erstmals wieder erschienenen Völkischen Beobachter.¹⁴ Nichts deutete in der letzten Ausgabe auf rasch eintretende Veränderungen hin. Offensichtlich wurde Sauckel von den Ereignissen überrollt. Das Ende seines Blattes und damit auch seiner publizistischen Tätigkeit stand bevor. Am 21. März erschien in Weimar Der Nationalsozialist, angekündigt als Ersatzblatt für Der Streiter, der bislang in Weimar erschienen war, sowie für den Deutschen Aar. Als dessen Herausgeber fungierte Artur Dinter. Von Sauckel war keine Rede. Sein Weg zum Geschäftsführer des thüringischen NSDAP-Gaues und der Ernennung als Gauleiter war noch weit.

Thüringen, gestern und heute

»Wir sind doch keine Nazis«. Dieser Satz ist in aktuellen Auseinandersetzungen mit denen oft zu hören, die sich selbst als »besorgte Bürger« verstehen und im Kern aber jene hasserfüllten Argumente verbreiten, die es in der nahezu zwei Jahrhunderte umfassenden Geschichte völkischer Ideologen und Bewegungen bereits gegeben hat. Unzweifelhaft gehörten deutschvölkisch-rassistisch orientierte Denk- und Verhaltensstrukturen sowohl zu den Fundgruben als auch zu den grundlegenden Bestandteilen der sich selbst als »nationalsozialistisch« bezeichnenden Ideologie. Die Deutschvölkischen waren Wegbereiter der hitlerfaschistischen Diktatur und verheerender Kriege. Völkisches Denken und Verhalten war, ist und bleibt nationalistisch, rassistisch, antidemokratisch, antiparlamentarisch, friedensfeindlich. Es entwickelte sich in der Weimarer Republik hin zum radikaleren, gewaltbereiten und schließlich mörderischen deutschen Faschismus. Dieser Wandel vollzog sich in Thüringen zwar nicht zwangsläufig, doch boten völkische Auffassungen dafür eine ihrem Wesen entsprechende Grundlage.

An solche Erscheinungen muss heute wieder erinnert werden. Sicher verbieten sich direkte Vergleiche mit heutigen Ideologen und Politikern am (zur Mitte weit geöffneten) rechten Rand der Gesellschaft. Doch das Fragen nach deren Ahnherren und ihrem Erbe ist allzu berechtigt. Zuzustimmen ist dem Literaturhistoriker Günter Hartung: »Aber da es (das Völkische, M.W.) einmal in der Welt war, sollten die Nachgeborenen nicht die kleinste der Quellen missachten, aus denen solche Phänomene sich speisen. Denn auch die unsinnigste und unmoralischste Ideologie kann zur Weltgefahr werden, wenn sie Machtmittel in die Hand bekommt.«¹⁵

Geschichte wiederholt sich nicht, allenfalls variiert sie. Parallelen lassen sich jedoch nicht übersehen. Daher sind Vergleiche sinnvoll, die oberflächliches Zusammenführen vermeiden, hingegen den Grundlagen und Strukturen jeder auf kapitalistischer Ökonomie beruhenden Gesellschaft gelten. Historische Faschismusforschung, gestützt auf Quellen, kann und sollte dazu beitragen.

Anmerkungen

1 Siehe dazu in jüngster Zeit Karl Heinrich Pohl: Sachsen 1923. Das linksrepublikanische Projekt – eine vertane Chance für die Weimarer Demokratie? Göttingen 2022; Mario Hesselbarth: Die Arbeiterregie­rung in Thüringen 1923. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V., Erfurt 2023

2 Quellen zur Geschichte Thüringens 1918–1945. Hrsg. von Jürgen John, Erfurt 1996, S. 29

3 Ebd. , S. 116 f.

4 Vgl. Donald R. Tracey: Der Aufstieg der NSDAP bis 1930. In: Nationalsozialismus in Thüringen. Hrsg. von Detlev Heiden und Gunther Mai, Weimar u.a. 1995, S. 53

5 Führer durch den Reichsparteitag der Deutschnationalen Volkspartei in Hamburg vom 30. März bis 2. April 1924, Berlin 1924, S.13 f.

6 John: Quellen (Anm. 2), S. 11

7 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (ThHStAW), NSDAP-Gauleitung, Bd. 1, Bl. 13

8 Siehe u.a. Steffen Raßloff: Fritz Sauckel. Hitlers »Muster-Gauleiter« und »Sklavenhalter«. Erfurt 2007; Manf­red Weißbecker: Fritz Sauckel. »Wir werden die letzten Schlacken unserer Humanitätsduselei ablegen«. In: Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen. Hrsg. Von Kurt Pätzold und Manfred Weiß­becker, Leipzig 1996, S. 297–331

9 Deutscher Aar, Folge 28 v. 28. Brachet (Juni) 1924, S. 1

10 Deutscher Aar, Folge 29 v. 2. Heumond (Juli) 1924

11 Das Fehlen blieb offenbar nicht unbemerkt: In der 41. Folge vom 10.9.1924 fanden die Leser dann eine eigenständige Beilage unter dem Titel »Völkische Bodenreform«.

12 Deutscher Aar, Folge 30 v. 5. Heumond (Juli) 1924

13 ThHStAW, NSDAP-Gauleitung, Bd. 1/1, Bl. 105

14 Deutscher Aar, 9. Folge v. 15. Lenzing (März) 1925

15 Günter Hartung: Völkische Ideologie. In: Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918. Hrsg. von Uwe Puschner u.a., 1996.

Manfred Weißbecker besprach an dieser Stelle am 6. November 2023 das Buch »›Stets korrekt und human‹. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma« von Ulrich Friedrich Opfermann.

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