4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Gegründet 1947 Freitag, 3. Mai 2024, Nr. 103
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten 4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Zerschmetterte Helden

Vor 325 Jahren starb Jean Racine, Frankreichs finsterer Klassiker
Von Stefan Ripplinger
12-13online.jpg
Am Ende bekommt keine der Figuren, was sie haben will – Orestes und Pyrrhus in dem bis heute gespielten Drama »Andromache« (Zeichnung von Anne-Louis Girodet-Trioson, 1801)

Ein Kunstwerk ist, mit Luther gesprochen, ein »widersinnig Ding«. Einerseits steht es fast notwendigerweise im Dienst der Macht, andererseits verweigert es diesen Dienst, muss es ihn sogar verweigern. Ein prächtiges Beispiel dafür ist »La Thébaïde« (Die Thebais oder: Die verfeindeten Brüder; 1664), das erste Theaterstück von Jean Racine, der am 21. April vor 325 Jahren starb.

Zunächst scheint es, dass Racine mit der »Thébaïde« den Absolutismus verteidigen wollte. Die Fronde, also der Aufstand des Provinzadels gegen die Zentralmacht, lag nur wenige Jahre zurück, der Begriff des Königtums musste neu definiert werden. Was ist, soll, darf der eine König? Racine beantwortet diese Frage auf geniale Weise, indem er zwei Könige auf den Thron setzt: Eteokles und Polyneikes, die Söhne des Ödipus.

Ödipus hatte bestimmt, dass seine Söhne abwechselnd je ein Jahr über Theben regieren sollen. Doch Eteokles, der als erster den Thron besteigt, will nicht mehr herunter. Polyneikes, der sich zu Recht als Betrogener sieht, rückt mit den Truppen von Argos auf Theben vor, um die ihm versprochene Herrschaft zu erzwingen. Iokaste, ihre Mutter, versucht vergeblich, die Streithähne zu versöhnen.

Vereint im gegenseitigen Mord

Die beiden Brüder vertreten je unterschiedliche Herrschaftsmodelle. Für Eteokles ist der König der oberste Diener seines Volkes, das Polyneikes hasst, weil er sich mit Argos eingelassen hat. Polyneikes ficht das nicht an, schaut er doch hochmütig auf die Beherrschten herab: »Ist es denn am Volk, sich einen Herrn zu wählen?« (II, 3) Mehr noch, der vorliegende Fall beweise gerade, dass das Volk gar nicht zur Entscheidung fähig sei: »Nicht ohne Grund mag man einen Verderber gern, / Das Volk liebt den Sklaven, fürchtet den strengen Herrn.« Also steht populär-charismatische gegen gesetzestreue Herrschaft.

Roland Barthes schlägt in »Sur Racine« (1963) vor, den Bruderzwist nicht nur als einen politischen, sondern auch als einen körperlichen anzusehen. Bereits als Embryonen führen die Zwillinge einen »Unterleibskrieg« (IV, 1), weil sie zur selben Zeit denselben Ort einnehmen wollen. Ihren Hass, erklärt Barthes, wollen sie nicht in »einer abstrakten Vernichtung des Gegners auflösen, vielmehr im individuellen Beieinander von Körper und Körper, in der körperlichen Umarmung«. Die Tragödie, die mit dem von Vater Ödipus verschuldeten Mord und Inzest begann, endet, so gesehen mit dem mörderischen Inzest seiner Söhne, die im Zweikampf sterben. Ihr Onkel Kreon hat die ineinandergeschlungenen Leichen gesehen: »Im Übermaß ihres Hasses wirkten sie wiedervereint, / Sich gegenseitig mordend, wurden sie einander Freund.« (V, 3)

Kreon ist die entscheidende Figur. Denn Kreon ist es, der mittels immer neuer Finten den Brüderstreit befeuert, bis es zur völligen Auslöschung kommt. Mit anderen Worten: Kreon will König sein. Geht es bei Eteokles und Polyneikes um altes Verhängnis, geht es bei ihm um neue Macht. Das widerspricht aber dem ersten Eindruck, dass die »Thébaïde« ein simples Plädoyer für den Absolutismus ist. Denn weder Eteokles noch Polyneikes sind geborene Tyrannen, wohl aber Kreon, der prahlt: »Die Schandtaten fängt einer mit viel Mühe an, / Doch bald schon werden ohne Reue sie getan.« (III, 6)

Auch das Orakel widersetzt sich der Deutung, Racine hätte die eine, unumschränkte Macht preisen wollen. Denn befragt, wie der Streit beizulegen sei, lässt das Orakel bestellen, enden werde er, wenn der letzte in der ödipalen Linie sein Blut vergossen habe. Das versteht der jüngste Bruder Menoikeus falsch und stürzt sich, um die Familie zu retten, in den Tod. Er glaubt, weil er der Jüngste, also der letzte in der Linie ist, müsse zur Sühne sein Blut vergossen werden. Doch das Orakel ist eine durchaus revolutionäre Kraft, es wünscht die komplette königliche Brut beseitigt. »Der letzte« soll heißen: der letzte von allen.

Ausschließen lässt sich, dass Racine, der mit seinem nächsten Stück, »Alexandre le Grand« (Alexander der Große; 1665), dem Sonnenkönig huldigte, tatsächlich revolutionäre Absichten hegte. Aber ein Konflikt deutet sich an, der mit jedem Stück deutlicher hervortritt.

Krieg als Ruhm

Der »Alexandre« tut der Propaganda fast ein wenig zuviel, denn daran, dass mit seinem Helden Ludwig XIV. gemeint ist, lässt schon der Vorspruch des Dichters keinen Zweifel. René Jasinski (»Vers le vrai Racine«; 1958) erkennt das Thema dieses zweiten Stücks in der »Versöhnung des Königs mit den Fürsten nach den Unruhen der Fronde«. Auch dass Ludwigs Flotte und Heer 1664 das algerische Jijel erobert hat, schlägt sich in der Fabel nieder. Der neue Alexander ist schon ganz Imperialist. Und doch stößt das absolutistische Prinzip des Einen erneut auf seltsame Verdopplungen und Verwicklungen.

Wieder gibt es zwei feindliche Brüder, obwohl keine leiblichen: Die indischen Könige Taxiles und Poros verfolgen eine je eigene Strategie gegenüber dem Überfall Alexanders. Taxiles, gewissermaßen der Eteokles dieser Geschichte, gibt vor, seinem Volk das Blutvergießen ersparen zu wollen, und ist geneigt, sich Alexander zu unterwerfen. Poros dagegen bäumt sich gegen die Invasion auf und will lieber tot als unterworfen sein.

Bei Licht besehen, sind beide Heuchler. Denn der Friedenswille von Taxiles ist, wie sich zeigen wird, taktischer Natur. Er wünscht, dass sein Rivale Poros besiegt und dafür er, Taxiles, vom Eroberer zum wohlbestallten Vasallen erkoren wird. Er ist, wie Barthes feststellt, der »geborene Kollaborateur«. Poros wiederum führt, wie er freimütig eingesteht, nicht Krieg um der Gerechtigkeit, sondern um des Krieges willen, er hat »Ohren nur für den Ruhm« (I, 2).

Den beiden jämmerlichen Männern werden zwei vernünftige Frauen beigesellt: Cléofile, Taxiles Schwester, hält es für das Beste, den Krieg abzuwenden. Die Königin Axiane wiederum versucht, Taxiles und Poros zu vereinen, weil sie nur gemeinsam eine Chance haben. Als das misslingt und Poros, wie erwartet, von den Griechen besiegt wird, zeigt sie dem Eroberer die Stirn: »Ich habe Euch unbesiegbar geglaubt, / Aber glaubt Ihr, Euch sei alles erlaubt? / Genügt es nicht, dass Ihr so viele Könige zu Tode gebracht, / Und Euch straflos das Universum untertan macht?« (IV, 2)

Alexander – also Ludwig – weiß als Grund für seine Invasionen nichts anderes vorzubringen, als dass er Glorie und Gefahr suche. Er verfügt noch nicht über die Moral heutiger Imperialisten, sie führten gerechte Gesetze oder gar Menschenrechte in überfallenen Ländern ein. Zugleich wirkt seine Großmut, am Ende alle in ihre Rechte einzusetzen, unglaubwürdig. Schon zu Racines Zeiten wurde das, wie John Sayer (»Jean Racine. Life and Legend«; 2006) berichtet, als zahnlos empfunden. Wenn er ein grausamer Eroberer sein will, warum zeigt er dann nicht den verwegenen Stolz des Poros? Weshalb, um Frieden zu stiften, erst Ländereien in Schutt und Asche legen? Das Stück wurde dennoch oder vielleicht deshalb ein Erfolg.

Starrsinn oder Irrsinn

Ein noch größerer, bis heute ausstrahlender Erfolg folgte: »Andromaque« (Andromache; 1667). Wieder wird das Ensemble von zwei Männern und zwei Frauen angeführt, aber von einer politischen Position kann keine Rede mehr sein. Erst regiert der Wankelmut, dann der Wahnsinn. Was sich ins Gewand der Tragödie geworfen hat, könnte ebenso gut bittere Farce sein.

Der griechische König Pyrrhos hält – wie zuvor Alexander die Cléofile – eine von ihm angebetete Troerin, seine Kriegsbeute fest: Andromache. Barthes spottet, bei Racine seien alle Liebhaber Kerkermeister. Es fragt sich jedoch bei Pyrrhos mehr noch als bei Alexander, ob der angebliche Liebhaber aus Liebe oder aus Machtinstinkt handelt. Schon die von Pyrrhos sitzengelassene Hermione erkennt, dass er »mehr seinem Interesse als seiner Zärtlichkeit folgt« (III, 2).

Politisch gewichtiger ist ohnehin Andromaches kleiner Sohn, Astyanax, von dem geweissagt wird, dass er sich dereinst gegen die Griechen erheben werde. Also fordern die Griechen seinen Tod. Zum ersten und zum letzten Mal zeigt Pyrrhos einen Anschein von Anstand, als er vorgibt, nicht glauben zu wollen, dass »ein ganzes Volk, dem so herrliche Siege gelungen sind, / Auf nichts anderes als auf die Ermordung eines Kindes sinnt«. (I, 2) In Wahrheit soll ihm das Kind als Unterpfand dienen, sich Andromache gefügig zu machen.

In diesem Stück lügt außer Andromache ein jeder und eine jede. Oder, freundlicher ausgedrückt: Jeder und jede sagt das Gegenteil dessen, was er oder sie will. Makabrer Höhepunkt ist, dass Hermione ihren Verehrer Orestes auf Pyrrhos hetzt, weil er sie verschmähte. Als aber Orestes Vollzug meldet, heult sie auf: »Warum hast Du nicht den Grund meines Denkens erraten?« (V, 3) Orestes verliert daraufhin den Verstand, er hat die höfische Kommunikation nicht begriffen.

Die einzige Figur, die der überlieferten Ethik zu entsprechen versucht, ist Andromache. Als Pyrrhos sie vor die Wahl stellt, entweder ihn zu heiraten oder dabei zusehen zu müssen, wie ihr Kind erschlagen wird, entscheidet sie sich zunächst schockierenderweise gegen das Kind. Während um sie her die Emotionen schäumen, vertritt sie das steinerne Gesetz. Hier mörderischer Irrsinn, dort mörderischer Starrsinn, wer wollte da wählen?

Wenn der feudale Staat zwei gegensätzlichen Prinzipien folgte – der »Treue« (nicht nur der Lehnstreue) einerseits, andererseits der moderaten Anpassung an die Verhältnisse –, so widersprechen die Figuren beiden Prinzipien. Pyrrhos, Orestes, Hermione sind sämtlich auf die eine oder andere Weise untreu, darüber hinaus völlig unberechenbar. Andromache dagegen ist auf geradezu absurde Weise treu. Treu ist sie der Liebe zu ihrem toten Mann, Hektor, obwohl sie so gut wie Hermione weiß: »Liebe entscheidet nicht über einer Fürstin Los, / Den Ruhm des Gehorsams lässt man uns bloß.« (III, 2)

Der Konflikt der Andromache liegt, wie Lucien Goldmann (»Le Dieu caché«; 1959) feststellt, darin: Ihr Sohn Astyanax hält sie davon ab »zu leben und Hektor die Treue zu bewahren, und Hektor hält sie davon ab, zu leben und Astyanax zu retten«. Aber leben können auch die andern nicht. Wie schon Iokaste in der »Thébaïde« glauben die Akteure der »Andromaque«, sadistische Götter trieben mit ihnen ihr Spiel. Und mehr als in den Stücken zuvor erscheint das Gesinde weit rationaler, wenn auch nicht weniger verschlagen als die Herrschaft. Ersteres überrascht bei einem Jansenisten, letzteres bei einem Lobsänger des Monarchismus.

Der Jansenismus, eine sittenstrenge Ideologie der Zeit, bezeichnete allerdings selbst eine Distanz zur Monarchie im besonderen, zum Weltgetriebe im allgemeinen. Getragen wurde diese Ideologie, wie Paul Bénichou (»Morales du grand siècle«; 1948) analysiert, vom »bürgerlichen Adel«. Dieser Adel war nicht länger gewillt, dem ritterlichen Glanz der älteren Aristokratie zu huldigen, er entwickelte aber noch nicht die optimistische, tatkräftige Einstellung späterer bürgerlicher Formationen. Er hielt, wie es bei dem Jansenisten Blaise Pascal heißt, das Ich für »hassenswert«, glaubte an eine Fremd- oder Gottbestimmtheit alles Handelns und stand den irdischen Mächten, ob dem Papst oder dem König, skeptisch gegenüber, ja, widersetzte sich dem heroischen Geist, wie ihn Racines Gegenspieler Pierre Corneille noch gepflegt hatte. Mit der »Andromaque« kommt das jansenistische »Zerschmettern des Helden«, wie Bénichou drastisch formuliert, zu seinem ersten wuchtigen Ausdruck.

Obwohl der Jansenismus von der kirchlichen und staatlichen Macht abgelehnt, ja später von Ludwig sogar verboten wurde, haben Racines antiheroische Tendenzen seinen Erfolg bei Hofe nicht verhindert. Insbesondere Ludwigs Schwägerin, Henriette von England, unterstützte den Dichter, der ihr das Stück gewidmet hat. Man fand, scheint es, ein Vergnügen darin, sich in diesen Tragödien gespiegelt zu sehen. Und so kam es, dass ausgerechnet von einer Welt ermutigt, die er und andere Jansenisten wie Pascal oder La Rochefoucauld als korrupt ansahen, Racine in seinem »Britannicus« (1669) seinen härtesten Hieb gegen die Herrschaft führte.

Glückliche Tyrannei

Wir haben wieder die Konstellation der »Thébaïde«: zwei feindliche Brüder, in diesem Fall Halbbrüder, Nero und Britannicus. Wiederum versucht eine hilflose Mutter, hier Agrippina, zwischen ihnen zu vermitteln. Agrippina ist freilich nicht so blauäugig wie die Iokaste aus dem Debütstück. Selbst eine gewiefte und skrupellose Machtpolitikerin, weiß sie mehr als andere und spricht bereits in der allerersten Szene das schreckliche Wort aus: »Der Anfang aller Tyrannei ist glücklich.« Mit dieser Wahrheit scheint Racine übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Entsprechend frostig war die Aufnahme seines Stücks, in dem es schlicht keine positiven Helden mehr gibt. Jasinski kann über die Uraufführung melden: »Vorsichtige Zurückhaltung während den ersten beiden Aufzügen, betonte Kälte während des dritten, neu erwachtes Interesse im vierten, allgemeiner Missmut im fünften.«

Anstößig war nicht allein die Möglichkeit eines Nero, sondern die tragische, dass sich dem »erwachenden Monster«, wie Racine im Vorspruch formuliert, niemand mehr entgegenstellen könnte. Die Schwäche des Britannicus, den seine Mutter, die das längst bedauert, vom Thron stieß, wird gleich am Anfang offenkundig: Nero hat Junia, die Verlobte des Britannicus, festsetzen lassen. – Noch ein Kerkermeister, und noch einer, der nicht aus Liebe, sondern aus Machtkalkül handelt, obwohl er behauptet, er »vergöttere« die junge Frau (II, 1). Wichtiger ist aber, dass ihm die Gefahr vor Augen steht, seine Alleinherrschaft könnte angefochten, eingeschränkt, reglementiert werden – und zwar nicht nur von Britannicus. »Es halten mich alle auf. Oktavia, Agrippina, Burrus, / Seneca, ganz Rom und drei Jahre Idealismus.« (II, 2)

Barthes schreibt, Nero versuche, wie zuvor schon Kreon und Pyrrhos, das alte Gesetz zu brechen. Der künftige Tyrann errichtet eine untragische, unmoralische, entmystifizierte Herrschaft, nicht weniger schrecklich als die alte, aber immerhin willkürlich modellierbar. Das alte Gesetz, das Andromache vertrat, wird nun von Junia vertreten. In einer komischen Szene eröffnet Nero, der mit Oktavia verheiratet ist, seiner Gefangenen, dass er einen Mann für sie gefunden habe. Wer das denn sei, wenn nicht Britannicus, fragt Junia verwundert, und hört zu ihrem Entsetzen, er, Nero, sei es selbst. »Madame, einen andern Namen nennte ich gern, / Doch kenne ich über Nero keinen höheren Herrn.« (II, 3)

Junia unterscheidet sich in einem Punkt deutlich von Andromache. Die Figur kündigt in vieler Hinsicht das Spätwerk Racines an: Alles andere als eine stolze Aristokratin, hasst sie, ganz jansenistisch, die Prachtentfaltung der Monarchie, den »sinnlosen Glanz« und ganz besonders die höfische »Kunst der Täuschung« (II, 3). Kaum hat Nero das vernommen, zwingt er sie dazu, Britannicus zu täuschen. Diese Scharade hätte Andromache nicht mitgemacht, doch Junia beweist, um den Geliebten zu retten, die Demut, die dem konservativen Kritiker Racine bei Hofe fehlt.

Weil sie abseits steht, kann Junia die Ränke des Nero sogar besser durchschauen als Agrippina. Junia zeugt von Racines Weltverachtung, wird mit einiger Konsequenz im letzten Akt Priesterin; das Desaster hat sie aber nicht aufhalten können. Das gelingt erst ganz am Ende von Racines Karriere ihrer Geistesverwandten Esther.

Schusseliger Despot

Nach der von vielen für sein Meisterwerk gehaltenen »Phèdre« (Phädra; 1677), einem weiteren Stück über den Widerspruch von Treue und Wandel, hätte Racines Karriere einen brillanten Abschluss finden können. Zwölf Jahre hindurch schwieg er. Dann folgte 1689 »Esther«, halb Oper, halb Oratorium in drei Aufzügen. Mit diesem Werk wurde Racine endlich vom Dichter zum Höfling. Er folgte Ludwig auf seinen Militärexpeditionen, er stimmte den frömmlerischen Ton an, den das marode System bitter nötig hatte. Aber wäre das alles, wäre »Esther« nicht das widersinnige Ding, das es ist.

Das biblische Buch Esther gerät unter Racines Händen zum idealisierten Selbstporträt eines Lobbyisten, der das Ohr der Macht hat und deshalb manch Gutes stiften könnte. Anders als in der »Thébaïde«, in »Alexandre«, »Andromaque« und »Britannicus«, ist der Absolutismus bereits zur Despotie verkommen, die Ermordung der Abweichler, Außenseiter und Sündenböcke – hier der Juden – ist beschlossene Sache, da wendet Esther, selbst Jüdin, das tödliche Schicksal ab.

König Ahasveros (Artaxerxes) hat seine Gattin Waschti verstoßen, weil sie sich weigerte, sich von ihm wie ein Rassepferd durch die Manege führen zu lassen. In einem Casting sucht man eine schöne Nachfolgerin. Ihr Ziehvater Mordechai nötigt die von jeder Prunksucht unberührte Esther, am Wettbewerb teilzunehmen, prompt wird sie Königin. Mordechai »zog mich aus einer Welt, die dem Licht abgewandt, / Die Befreiung der Juden legte er in meine Hand« (I, 1), erklärt Esther, noch bevor Haman bei Ahasveros den Befehl zur Vernichtung der Juden, dieser »abscheulichen Nation«, erreicht. Haman ist vom Stamm der Amalek, also Überlebener des im biblischen Buch Exodus (17, 8–16) geschilderten Kriegs mit Israel, außerdem erzürnt ihn Mordechais Unbotmäßigkeit. Nun muss sich Esther bekennen.

Etwas Triviales hat das Ganze schon. Haman erscheint als ein Schurke wie aus dem Bilderbuch – »Mit einem Herzen aus Bronze, das übt seine Macht, / Hab ich das Recht zum Schweigen, die Unschuld zum Schreien gebracht« (III, 1) –, Ahasveros erscheint als ein schusseliger Despot. Erst genehmigt er es Haman, die Juden mit Stumpf und Stiel auszurotten, im nächsten Moment fällt ihm, dem Vielbeschäftigten ein, dass der Jude Mordechai ihn einmal vor einem Anschlag gewarnt hat, und überhäuft ihn mit Ehren. Versteht sich, dass der Schussel am Ende alles zum Besten richtet. Doch in dem Stück steckt mehr als diese Trivialität.

Überraschenderweise führt Racine einen singenden Chor aus Jungfrauen ein (auch sämtliche Männerrollen dürfen von Frauen gespielt werden). Der Chor vertritt die Jüdinnen, steht also nicht wie der antike über der Handlung, sondern gewissermaßen unter ihr. Er fürchtet, hofft, jubelt mit den Akteuren, ohne selbst aktiv werden zu können. Im Kollektiv des Chors artikuliert sich noch immer die jansenistische Überzeugung aller früheren Stücke, die Lebenden hätten für die Vergehen ihrer Vorfahren zu sühnen. »Wir tragen die Bürde ihrer Verbrechen.« (I, 4) Doch die wesentliche Funktion des Chors besteht darin, als Negativfolie zu dienen, vor der ganz neue Subjekte auftreten können, Esther und Mordechai, die sich über den Fatalismus hinwegsetzen und so Hamans Vernichtungsplan durchkreuzen.

Zum ersten Mal wird das Gesetz auf fortschrittliche Weise aufgehoben. Damit ist der jansenistisch-deterministische Glaube überwunden, ein ewiges Verhängnis mache jeden Widerstand von vornherein zunichte. Es zeigt sich, dass gerade das Verhängnis, der alte Zwang – wir könnten heute assoziieren: der Faschismus, das Verhältnis von Kapital und Arbeit – die Möglichkeit des Widerstands hervortreibt. Jean Racine ist mit diesem Stück, sicher nicht seinem besten, über sich hinausgewachsen.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 12. April 2024 über den marxistischen Kulturtheoretiker Fredric Jameson.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.