4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Zu kurz gekommene Diplomatie

Von Arnold Schölzel
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Der Krieg in der Ukraine ist in der Schwebe bei militärischen Vorteilen für Russland, Washington ist genervt. Am Freitag verschickte die Strategiezeitschrift für US-Außenpolitik Foreign Affairs per Newsletter einen vom 16. April datierten Artikel der beiden US-Politikwissenschaftler Samuel Charap (Rand Corporation) und Sergey Radchenko (Johns-Hopkins-Universität in Baltimore). Überschrift: »Die Gespräche, die den Krieg in der Ukraine hätten beenden können. Eine verborgene Geschichte der Diplomatie, die zu kurz kam – aber Lehren für zukünftige Verhandlungen enthält«. Charap und Radchenko haben die im März und April 2022 vorliegenden 17 bis 18 Entwürfe für Waffenstillstandsabkommen zwischen der Ukraine und Russland untersucht und stießen auf »Details, über die zuvor noch nicht berichtet wurde«. Das Ergebnis sei »überraschend« und könne »erhebliche Auswirkungen auf künftige diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges haben«.

Von Moskau werde Druck des Westens und Kiews eigene Arroganz wegen vermeintlicher Schwäche Russlands für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich gemacht. Andere leugneten die Bedeutung der Gespräche gänzlich. Behauptet werde, es sei beiden Seiten nur darum gegangen, »Zeit zu kaufen«, die Vertragsentwürfe seien unseriös gewesen. Etwas anderes ist insbesondere aus der vom Baerbock-Ministerium für feministische Außenpolitik abhängigen deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik nicht zu hören. Deren Vorkämpferinnen für Russophobie in deutschen Talkshows heißen Sabine Fischer und Claudia Major. Fischer teilte etwa am 15. Februar im Deutschlandfunk mit, Russland habe »diese Verhandlungen nie ernst gemeint«.

Das sehen Charap und Radchenko anders: Es gebe keine »monokausale Erklärung« für den Gesprächsabbruch. Sie halten fest: »Die Russen und die Ukrainer hätten beinahe ein Abkommen abgeschlossen, das den Krieg beendet und der Ukraine multilaterale Sicherheitsgarantien gegeben hätte, was den Weg zu ihrer dauerhaften Neutralität und später zu ihrer Mitgliedschaft in der EU geebnet hätte.« Insbesondere letzteres sei neben der Neutralität der Ukraine, also Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft, und ihrem Verzicht auf Atomwaffen in dem am 29. März 2022 in Istanbul fixierten Kommuniqué enthalten. Charap und Radchenko zitieren: Die Garantiestaaten (einschließlich Russland) würden ausdrücklich »ihre Absicht bekräftigen, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu erleichtern«. Sie kommentieren das mit: »Das war geradezu außergewöhnlich« angesichts der Tatsache, dass Putin 2013 »starken Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch ausgeübt« habe, aus dem Assoziierungsabkommen mit der EU auszusteigen. Druck übten damals zwar vor allem die USA mit Hilfe bezahlter Demonstranten und die EU unter Führung Angela Merkels aus – aber geschenkt.

Im April 2022 gingen jedenfalls laut Charap und Radchenko die Vertragsentwürfe zwischen Moskau und Kiew hin und her, bis am 15. April eine Unterzeichnung durch Wladimir Putin und Wolodimir Selenskij innerhalb von zwei Wochen vorgesehen wurde. Warum scheiterte alles? Ihre Antwort: Der Westen habe den diplomatischen Prozess nicht »umarmt«, sondern die Militärhilfe für Kiew und den Druck auf Russland erhöht. Die »Führung« habe Großbritannien übernommen. Trotz dieser und anderer Details erklären Charap und Radchenko: »Dennoch ist die Behauptung, der Westen habe die Ukraine gezwungen, aus den Gesprächen mit Russland auszusteigen, unbegründet.« Sie schieben die Schuld Selenskij zu, der seine westlichen Partner nicht zur Diplomatie gedrängt habe. Letzter Grund für das Scheitern sei aber gewesen, dass das Pferd von hinten aufgezäumt worden sei: Beide Seiten hätten »wesentliche Fragen der Konfliktbewältigung und -minderung (Schaffung humanitärer Korridore, Waffenstillstand, Truppenabzug)« übergangen und statt dessen versucht, »so etwas wie einen langfristigen Friedensvertrag auszuarbeiten«. Es sei ein »bewundernswert ehrgeiziges Unterfangen« gewesen, aber »zu ehrgeizig«.

Ihre Schlussfolgerung: »Zukünftige Gespräche« sollten auf zwei Wegen parallel vorangehen: Zum einen »die praktischen Aspekte der Kriegsbeendigung« behandeln, zum anderen »umfassendere Fragen«. Die Autoren zitieren Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, die am 11. April daran erinnerten, dass die Ukraine im April 2022 einem Kompromiss zugestimmt habe. Die beiden US-Autoren wenden ein, Zustimmung beider Seiten habe es eben nicht gegeben, aber: »Doch sie gingen in dieser Richtung weiter, als bisher angenommen wurde, und erreichten einen übergreifenden Rahmen für eine mögliche Einigung.« Baerbock, Fischer oder Major werden das nicht wissen wollen, Diplomatie ist nicht ihr Konzept.

Im April 2022 gingen jedenfalls laut Charap und Radchenko die Vertragsentwürfe zwischen Moskau und Kiew hin und her, bis am 15. April eine Unterzeichnung durch Wladimir Putin und Wolodimir Selenskij innerhalb von zwei Wochen vorgesehen wurde

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (26. April 2024 um 11:07 Uhr)
    Claudia Major - Die Chefin der Abteilung Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Diese Person fantasiert immer noch davon, wie vor kurzem im ZDF (»maybrit illner«, 11. 04. 2024), dass der Westen die Ukraine weiter so lange unterstützen müsse, bis für Russland das Kosten-Nutzen-Kalkül des Krieges nicht mehr aufgeht. Das tut sie immer öfter in flehender Sprechweise, mit Kopfstimme vorgetragen, so als glaubte sie selbst nicht mehr daran und bäte andere, es ihr trotzdem abzunehmen. Dabei verkennt die »Expertin« nicht nur die sicherheitspolitische Bedeutung des Ausgangs des Krieges für die russische Seite, die Frage von NATO-Truppen und -Raketen in der Ukraine, sondern auch die emotionale und ideelle der historischen Verbindung zwischen Russland und der Ukraine. Wie irrational die Denkweise und Analysen von Major und anderen westlichen Sicherheitsexperten inzwischen sind, sieht man schon daran, dass westliche Länder bei der Unterstützung der Ukraine mittlerweile selber an den Rand ihrer wirtschaftlichen und militärischen Kapazitäten gelangt sind und inzwischen stärker unter den Auswirkungen leiden als Russland, dessen Wirtschaft weiter wächst! Westliche Experten wie Claudia Major verfügen offenbar nicht mehr über die intellektuelle und fachliche Fähigkeit, sich aus der ideologischen Sackgasse, in die sie sich selbst hineinmanövriert haben, zu befreien und ihren Tunnelblick auf den Konflikt abzulegen. Dennoch lassen sich die Regierenden und (anderen) Entscheidungsträger im Westen immer noch von ihnen beraten! Ironischer- oder besser tragischweise können wir, hier, nur darauf hoffen, dass der Impuls für einen politischen Kurswechsel des Westens, in Anerkennung der Realitäten, aus den USA kommen wird, ob nun von Biden oder von Trump, welchem die dt. Bundesregierung dann in der üblichen Nibelungentreue zur USA folgen wird.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. April 2024 um 14:30 Uhr)
    Es ist schon kalter Kaffee, warum der diplomatische Weg nicht genügend erwogen und einbezogen wurde. Jetzt stellt sich die Frage, wie beide Seiten – und hier geht es nicht primär um die Ukraine – einen Frieden erreichen können, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Ursprünglich wollte der Wertewesten Russland durch Auszehrung zur Kapitulation zwingen. Doch Russland hat die Situation umgedreht, und es scheint, als ob dem Westen langsam die Luft ausgeht. Mit der heutigen Frontlage verstärken sich mit zunehmender Kriegsdauer offensichtlich die Positionen Russlands. Der Wertewesten, der weit von der Realität in der Ukraine entfernt ist, versucht vergeblich, bei einer Friedenskonferenz im Sommer in der Schweiz ohne Russland eine Lösung zu finden. Sollte diese Herangehensweise fortgesetzt werden und der Wertewesten weiterhin versuchen, Russlands Ruf zu schädigen, könnte es sein, dass der Kreml bis dahin eine vollständige Kapitulation der Ukraine verlangen wird.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter S. aus Berlin (21. April 2024 um 19:12 Uhr)
    Wieso »zu kurz gekommene Diplomatie«? Ich würde es eher als abgeschossene Diplomatie bezeichnen: vorsätzlicher Betrug bei den Minsker Abkommen, Versprechen von Verhandlungen nach Rückzug der russischen Truppen aus den Kiewer Vororten und nach Erfolg Abbruch der Verhandlungen, zusätzlich noch Verspotten der russischen Diplomatie durch öffentliche demonstrative Verkündigung, wie man sie über den Tisch gezogen hatte (sowohl bezüglich 2+4-Akte als auch Minsk 1+2) – damit zeigt man, dass man nicht gewillt ist, wie ein seriöser Verhandlungs- und Geschäftspartner zu handeln. Und so ist die Diplomatie friedlich verstorben, jetzt erfolgen die erforderlichen Regelungen auf anderen Wegen. Und die Preise für die Regelungen haben sich auch deutlich erhöht: jetzt sind es Menschenleben, nicht nur Diplomatenspucke.

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