junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 04. / 5. Mai 2024, Nr. 104
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 25.04.2024, Seite 5 / Inland
Debatte um Bürgergeld

Jobcenter gegen Bürgergeld

Beschäftigte von Jobcentern sehen keine Verbesserung durch Hartz-IV-Reform. Mehrheit beklagt mangelnde Motivation bei Sozialleistungsbeziehern
Von Gudrun Giese
5.jpg
Immerhin bessere Schulungsangebote für Erwerbslose finden bei Jobcenter-Beschäftigten mehrheitlich Zustimmung

Der Streit um das Bürgergeld ist eine Episode reicher. Nach den Forderungen von CDU und FDP zu Verschärfungen bei der umbenannten Sozialleistung fördert nun eine aktuelle Studie zutage, dass auch Beschäftigte in Jobcentern sich mehrheitlich gegen die neuen Regeln aussprechen. Drei Wissenschaftler und ein Kommunalpolitiker befragten unter Beteiligung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Anfang des Jahres Beschäftigte in sieben nordrhein-westfälischen Jobcentern, wie sie die Leistung Bürgergeld beurteilen, die Hartz IV im Januar 2023 ersetzte.

Die Mehrzahl der Jobcenter-Mitarbeiter, rund sechzig Prozent, bezweifelte danach, dass Bürgergeld-Bezieher noch ausreichend motiviert seien, nach einer neuen Arbeitsstelle zu suchen. Nur jeder fünfte der Befragten bewertete das Bürgergeld als Verbesserung gegenüber der vorherigen Sozialleistung, etwa die Hälfte dagegen als Verschlechterung. Dass es so wenige positive Bewertungen gegeben habe, könne nicht nur mit der konkreten Ausgestaltung des Bürgergeldes zu tun haben, sondern auch mit der schlechteren Wirtschaftslage in der Bundesrepublik, vermutete Jürgen Schupp vom DIW, der zusammen mit Fabian Beckmann von der Universität Duisburg-Essen, Rolf G. Heinze von der Universität Bochum und Dominik Schad, Kreisdirektor in Recklinghausen, die Studie erarbeitet hat. »Damit ist aber noch nicht gesagt, dass das Bürgergeld nicht seine Aufgabe erfüllt, nämlich die Erwerbsintegration von Leistungsberechtigten zu verbessern«, so Schupp. Ob das gelinge, müsse die weitergehende und langfristige Forschung zeigen.

So wie sich seit längerem in der Öffentlichkeit – angeheizt durch manche Medien – immer wieder Menschen negativ über Bürgergeld-Bezieher äußern, scheinen auch die Jobcenter-Mitarbeiter in NRW die Quintessenz von »Volkes Stimme« wiederzugeben: So lehnten in der Befragung 73 Prozent von ihnen die neue und bislang moderatere Sanktionspraxis beim Bürgergeld ab. Die Mehrheit hält auch nichts vom höheren Regelsatz für Erwachsene und den erhöhten Freibeträgen beim Schonvermögen im Vergleich zu den früheren Hartz-IV-Regelungen. Allein die höheren Bürgergeld-Regelsätze für Kinder sowie das bessere Schulungsangebot für Langzeiterwerbslose finden Gnade vor den Augen der Jobcenter-Beschäftigten. Mehr als drei Viertel von ihnen bewerten das ­Coaching als positiv.

Trotz der überwiegend schlechten Bewertung der Neuregelungen empfiehlt Studienmitautor Schupp, nicht gleich mit Änderungen beim Bürgergeld zu reagieren. »Für ein umfassendes evidenzbasiertes Urteil sollten vor allem die Ergebnisse des auf mehrere Jahre angelegten Evaluationsprogramms des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) abgewartet werden«, empfahl er. Sehr wahrscheinlich ist ein solches Abwarten nicht. So hat die Ampelkoalition ohnehin bereits zum Jahresbeginn die Sanktionsmöglichkeiten gegen sogenannte Totalverweigerer verschärft. Wer wiederholt Jobangebote ausschlägt bzw. nicht zu Terminen im Jobcenter erscheint, wird mit härteren Kürzungen bestraft als in der Ursprungsregelung.

CDU/CSU und FDP ist das aber noch viel zu lax. Die Parteien haben kürzlich ihre Vorstellungen für Sozialleistungen präsentiert: Die Union möchte eine »Neue Grundsicherung« etablieren, die in weiten Teilen eine Rückkehr zu Hartz IV bedeuten würde. Und die FDP will am kommenden Wochenende auf ihrem Bundesparteitag über härtere Sanktionen für Bürgergeldempfänger beraten. Der aktuelle Anteil von »Totalverweigerern« liegt übrigens nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei etwa 0,4 Prozent. DIW-Wissenschaftler Schupp immerhin mahnte Politiker, Reformen des Bürgergelds oder neue Konzepte nicht schon jetzt in die Debatte zu werfen. Es sei falsch, aus politischem Kalkül die Stimmung gegen Bezieher von Bürgergeld anzuheizen. Gefragt sei vielmehr eine politische Kommunikation, die die Debatte versachliche.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Lothar Böling aus Düren (25. April 2024 um 10:53 Uhr)
    60 Prozent von 1.894 befragten Beschäftigten aus sieben Jobcentern in Nordrhein-Westfalen hielten 12 Prozent mehr Regelleistung für Alleinstehende für zu hoch, heißt es da. Fakt dagegen ist, dass sich allein der Strompreis seit 2021 um 50 Prozent und die Preise für Nahrungsmittel um 30 Prozent erhöht hatten, ohne dass es hierfür 2023 einen Ausgleich gegeben hätte. Wie man sieht, mangelt es den Jobcenter-Beschäftigten nicht nur an sozialer Kompetenz. Denn diese drastischen Preiserhöhungen sind schließlich allen Verbrauchern bestens bekannt. Offenbar geht es mal wieder darum, dem gierigen und asozialen Gesindel aus FDP und CDU/CSU, von amtlicher Seite den Rücken zu stärken. Dass Renten und Grundsicherung den Binnenmarkt stützen, scheint diese vaterlandslosen Ausbeutergesellen nicht zu interessieren. Hauptsache, man bekommt für das Verbreiten dummer Sprüche von den Ausbeutern am Ende saftige Parteispenden. Insgesamt ein korrupter Haufen, der hier durch die Studie, im Auftrage des Deutschen Instituts der Wirtschaft und der Uni Bochum, unterstützt wird. Zudem ist festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht die Regierung bereits 2020 aufgefordert hatte, bei der Grundsicherung/Bürgergeld nachzubessern. Und das hat die Regierung inzwischen getan. Wenn die Beschäftigten der Jobcenter nun Kritik üben, richtet sich das auch gegen die Verfassung, die sie zu beachten haben. Zudem geht es hier um die Existenzsicherung vieler Bedürftiger und nicht um Cum-Ex-Geschäfte und Steuergeschenke für gierige Milliardäre. Mit der Befragung wurde also nur mal wieder Stimmung gegen Arbeitslose gemacht. Dabei liegt die Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel in unserem Bildungssystem. Hier aber glänzt der Staat seit der Pisa-Studie von 2004 mit Untätigkeit. Weder gibt es genügend Lehrer noch wurde unser Bildungssystem modernisiert. Dass viele Arbeitslose keinen Schulabschluss haben, ist also kein Zufall.
  • Leserbrief von Ernst Blutig aus Lohr (24. April 2024 um 23:58 Uhr)
    Wenn man die Aussagen, dass Bürgergeldbezieher nur noch wenig motiviert sind, ganz isoliert betrachtet, dann kann sich da jeder ins Büchlein reinmalen, was er lustig findet. Fakt ist, dass man bei Jobcentern, wenn man Pech hat, über Jahre nur hingehalten bis gegängelt wird, Dinge zu tun, die absolut nichts (!) bringen für den Großteil der »Kunden«. Die wenigsten sind nicht (!) in der Lage eine Bewerbung halbwegs vernünftig zu verfassen und brauchen auch kein 20. Bewerbungstraining, nur um die Statistiken für die Politik zu verschönern. Die meisten brauchen auch keine Beratungssitzungen, um herauszufinden, was sie alles können, dürfen oder müssen. Am Ende geht es auch hier nur um das »juking the stats« für die jeweilige Regierung, die Unterschrift für im Endeffekt Zwangsvermittlung von Probearbeiten jenseits der 4 Wochen ohne Entgelt zumeist. Man hat ja eingewilligt, vorher war es der Wiedereingliederungsvertrag, jetzt ist es die Personalberatung, der man sich völlig ausliefert. Vermittelt wird am Ende nicht mal 5 Prozent der »Kunden«. Der Kern (!) dessen, was das Jobcenter leisten könnte (!), wenn es dürfte, in manchen Fällen auch wollte, ist den armen Opfern dieses Ausbeutungssystems in der Zeit der Arbeitslosigkeit, Pardon, Unterbeschäftigung, ist die Bildung und Schulung! Beispiel: 6 Jahre Langzeitarbeitslos, vorher sogar was studiert? Oder Zwangsexmatrikuliert? Hobbies gehabt? Interessen? Langzeitarbeitslose sind nicht immer wie im ZDF oder RTL, zahnlose Kretins mit null Interesse oder Kenntnis. In 6 Jahren wären möglich: ein komplettes Studium, mindestens zwei Ausbildungen, bei entsprechender Vorbildung sogar 3–4, Umschulungen und Weiterbildungen galore je nach Marktlage und Bedürfnisse der Wirtschaft. Fast nichts (!) von dem ist bei Jobcentern erlaubt oder ermöglichbar oder wird in vielen Fällen vermöglicht. Alles fließt in den ALG1 Bereich. War schon bei Nahles so, ist auch unter Heil nicht anders. »Unsere Hände sind gebunden« »Wir hätten hier aber eine schöne Maßnahme blablabla.«

Ähnliche:

  • Als die Sozialdemokratie gemeinsam mit den Grünen Hartz IV einfü...
    28.09.2023

    In neuem Gewand

    Hartz IV heißt seit Beginn des Jahres Bürgergeld. An der sozialstaatlichen Verarmungspolitik ändert das wenig
  • Behördliches Sanktionsregime bleibt unangetastet: Arbeitsministe...
    16.04.2018

    Hartz und heiße Luft

    SPD verspricht Verbesserungen bei Grundsicherung. Doch weder hat sie Chancen, diese zu verwirklichen, noch steckt allzuviel dahinter

Regio:

Mehr aus: Inland