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25.04.2024, 17:09:31 / Inland
Staatsfeind Fußballfan

»Das Ausmaß der Fahndung ist beispiellos«

NRW: Behörden nach Auseinandersetzung in Gelsenkirchener Arena im Verfolgungseifer. Im Visier die aktiven Fanszenen von Schalke 04 und Eintracht Frankfurt. Ein Gespräch mit Nick Berger
Von Oliver Rast
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Der Auftakt zum Tumult: Frankfurter Fans überwinden Barrieren und suchen das handfeste Gespräch mit königsblauen Heimanhängern (Gelsenkirchen, 20.5.2023)

Zur Erinnerung: Am 20. Mai des vergangenen Jahres, des vorletzten Spieltags der Saison 2022/23, gastierte die Frankfurter Eintracht auf Schalke. Nach Abpfiff kam es inner- und außerhalb der Arena zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Fanlagern. Im Anschluss der Vorfälle hatte die Polizei Gelsenkirchen eine Ermittlungskommission eingerichtet. Wie viele Verfahren wurden Ihrer Kenntnis nach eingeleitet?

Zunächst einmal haben wir natürlich keinen Einblick in die Ermittlungen und auch keine anderen Zahlen als die, die von der Polizei veröffentlicht werden. Demnach wurden 212 Verfahren eingeleitet und im Laufe der Ermittlungen 143 Tatverdächtige identifiziert. Vorgeworfen wird dabei in den allermeisten Fällen Landfriedensbruch und in selteneren Fällen Körperverletzung. Was aktuell in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich zu kurz kommt, ist das massive Versagen von Polizei und Ordnungsdienst. Nachdem die ersten Frankfurter Fans aus dem Gästeblock geklettert waren und es in der Südkurve zu Auseinandersetzungen gekommen war, passierte erst mal ganz lange nichts. Schalke-Fans in der Nordkurve gingen eigentlich von einem schnellen Eingreifen von Polizei und Ordnern aus. Als dies ausblieb, kam es nach fünf, sechs Minuten zu den ersten Bewegungen aus der Nordkurve Richtung Gästeblock.

Nun hat das zuständige Amtsgericht Essen auf Antrag der Staatsanwaltschaft weitere 69 unbekannte Personen öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben …

Richtig, das Ausmaß der Fahndung ist sicherlich beispiellos, kam aber nicht unbedingt überraschend. Es hat sich in den vergangenen Monaten leider eine sehr unheilvolle Allianz in Gelsenkirchen gebildet. Mutmaßlich als Vorbote der Europameisterschaft nehmen fragwürdige Maßnahmen der Polizei ähnlich wie an anderen Standorten deutlich zu. Der für Fußballdelikte zuständige Oberstaatsanwalt kommuniziert offen die Marschrichtung, auch Bagatelldelikte – sobald es einen Fußballkontext gibt – in keinem Fall einzustellen, auch wenn dies bei jeder anderen Personengruppe so geschehen würde. Gerade wenn man sich anschaut, in wie vielen Fällen bereits Verfahren aufgrund des Vorwurfs des Landfriedensbruchs eingestellt wurden, ist es schon sehr abstrus, dass diese Massenfahndung gerichtlich durchgewunken wurde. Zumal bei einem Delikt, bei dem es reicht, Teil einer oftmals sehr großen Gruppe zu sein, ohne dass man darüber hinaus konkret etwas getan haben muss. Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird im Nachgang sicherlich Grundlage für einige Schadensersatzansprüche sein.

Überhaupt: Wie sieht ein typischer Spieltag auf Schalke aus, etwa hinsichtlich Einlasskontrollen, Videoüberwachung, Drohnenaufklärung?

Videoüberwachung und Drohnen gehören schon länger zum Alltag der Heimspieltage auf Schalke. Neu ist seit dieser Saison die massive Präsenz der Polizei im Heimbereich und insbesondere an den Einlässen, wo ebenfalls Videoüberwachung zum Einsatz kommt. Leider lässt der Verein sich hier massiv unter Druck setzen. Der Hausrechtsinhabers Schalke 04 setzt der Polizei keinerlei Grenzen. Dass das auch anders geht, zeigen viele andere Vereine.

Die Ermittlungen der Kommission laufen offenbar seit Monaten intensiv. Welche Auswirkungen hat das auf die Fanszene in Gelsenkirchen gehabt?

Am Rande von Heimspielen wurden vermehrt Personen kontrolliert, viel mehr Auswirkungen gab es bisher nicht.

Und: Sind denn bereits Stadionverbote gegen einzelne vermeintlich tatbeteiligte Schalker verhängt worden?

Über die Jahre konnte mit viel Arbeit am Standort Gelsenkirchen durchgesetzt werden, dass jeder Beschuldigte die Möglichkeit erhält, sich vorab zu den Vorwürfen zu äußern, und, sollte die Beweislage nicht glasklar sein, der Ausgang des Gerichtsverfahrens abgewartet wird – eigentlich ein nicht diskussionswürdiger, rechtsstaatlicher Standard. Leider hat der Verein Schalke 04 in Form der zuständigen Personen sich einmal mehr dem Druck der Polizei gebeugt. Entgegen aller bisheriger rechtsstaatlicher Praxis wurden die ersten Stadionverbote bereits kurz nach dem fraglichen Spiel gegen etwa 25 Frankfurter ausgesprochen. Ohne dass die Betroffenen angehört wurden, geschweige denn, dass von den Behörden auch nur Anklage erhoben worden wäre. Auch gegen ein gutes Dutzend Schalker wurden bereits Stadionverbote von zwölf bis 24 Monaten ausgesprochen. Auch hier, ohne dass es eine Anklage gibt. Das Sanktionen aussprechende Gremium im Verein war sich bei der Vergabe laut eigener Aussage auch nicht unbedingt einig.

Mitunter werden als weitere behördliche Schikane sogenannte Bereichsbetretungsverbote ausgesprochen, auch in Gelsenkirchen?

Das gibt es in dieser Form leider auch in Gelsenkirchen, wobei wir glücklicherweise schon gegen einige dieser Verbote erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht geklagt haben. Teilweise musste das mit einem Eilbeschluss geschehen, da die Verbote nur zwei bis drei Tage vor dem seit Monaten angesetzten Spiel zugestellt wurden. Hier kann man sicherlich von einem Kalkül der Polizei ausgehen, die Zeit für eine mögliche anwaltliche Beratung und eine Klage maximal kurz zu halten.

Auf welcher Rechtsgrundlage?

Grundlage für diese Verbote sind perfiderweise häufig voreilig ausgesprochene Stadionverbote wie zum Beispiel in der aktuellen Thematik, bei denen es nie zu einem Prozess kommt, weil schlicht nichts oder zuwenig passiert ist, als dass es justiziabel wäre. In allen uns bekannten Fällen ist es aber so, dass neben zum Teil tatsächlichen Verurteilungen auch angeblich laufende Verfahren und zum Teil polizeiliche Beobachtungen zur Begründung dieses Eingriffs in Grundrechte hinzugezogen werden. Die vergangenen beiden Punkte sind häufig nachweislich schlicht falsch. Ob das an der Inkompetenz des zuständigen Beamten liegt oder aber absichtlich erfolgt, mag jeder für sich beantworten. Für die Betroffenen ist das ein Teufelskreis, aus dem man sich nur mit viel Zeit und dem nötigen Kleingeld herausklagen kann. Auch dies ist uns glücklicherweise in einigen Fällen schon gelungen.

Wie geht es nun für die Fanhilfe weiter? Wie werden Sie auf diese Repression reagieren? Und nicht zuletzt: Was raten Sie den öffentlich zur Fahndung ausgeschriebenen Personen?

Für uns werden die kommenden Monate natürlich besonders spannend. Akut kümmern wir uns – in Absprache mit unseren Anwälten – hauptsächlich um Betroffene der öffentlichen Fahndung. Wir raten immer dazu, erst mit uns oder einem Anwalt Kontakt aufzunehmen. Auch wenn man in Panik gerät, wenn man sein Gesicht in der Bild abgedruckt sieht, beschleunigt es den Prozess der Löschung nicht, sich direkt an die Polizei zu wenden. Die kommenden Monate werden zeigen, wie viele Verfahren zustande kommen und wie viele Verurteilungen es tatsächlich gibt. Wir wagen die Prognose, dass diese deutlich geringer ausfallen werden, als jetzt von der Polizei kommuniziert. Abschließend prüfen wir Klagen auf Schadensersatz sowohl gegen Medienhäuser als auch gegen die Polizei.

Nick Berger ist aktiv in der Königsblauen Hilfe, der Schalker Fanhilfe

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