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Aus: Ausgabe vom 04.05.2024, Seite 12 / Thema
Europäische Union

Expansiver Ehrgeiz

Vor 20 Jahren nahm die Europäische Union zehn weitere Staaten auf. Der Drang nach Osten war damit nicht befriedigt
Von Jörg Kronauer
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Ungarinnen in traditioneller Tracht bei der ersten Wahl zum Europäischen Parlament, einen Monat nach Beitritt des Landes zur EU, Budapest, 13. Juni 2004

Die üblichen weihevollen Worte waren zu hören, als Repräsentanten der EU sowie ihrer Mitgliedstaaten am 24. April, eine Woche zu früh, in Strasbourg den 20. Jahrestag der ersten Runde der EU-Osterweiterung feierten. Eine »neue Ära« sei angebrochen, säuselte etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Hinblick auf den am 1. Mai 2004 erfolgten EU-Beitritt Estlands, Lettlands, Litauens, Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Sloweniens, Maltas und Zyperns. Ihr Amtsvorgänger Romano Prodi habe die Erweiterung mit den Worten kommentiert, sie sei die bislang größte, werde jedoch nicht die letzte sein, rief von der Leyen in Erinnerung und fuhr fort: »Heute ist das Verlangen, Europa zu vereinigen und unsere Union zu vervollständigen, wichtiger denn je zuvor.« Klar, sie hat die nächste Runde im Blick: die Erweiterung der EU um die Ukraine und weitere Länder, etwa Moldawien und Georgien, zudem Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Albanien und das offiziell zu Serbien gehörende Kosovo. Natürlich ist da noch nichts in trockenen Tüchern; die Debatte aber gewinnt an Fahrt.

Ökonomische Durchdringung

Die EU-Osterweiterung vom 1. Mai 2004 gründete letztlich in der ökonomischen Entwicklung, die die Staaten Ost- und Südosteuropa in den 1990er Jahren durchlaufen hatten. Der Kollaps der sozialistischen Systeme und die als Schocktherapie bezeichnete wirtschaftliche Öffnung der sich nach kapitalistischen Prinzipien neu organisierenden Länder hatten in der gesamten Region alles umgeworfen und beste Bedingungen für ihre Durchdringung durch westliche Unternehmen geschaffen. Diese wohl einmalige Chance nahm an erster Stelle die bundesdeutsche Wirtschaft wahr. Sie hatte bereits im Westeuropa der 1960er Jahre als die führende Macht im – freilich noch recht mageren – Osthandel gegolten, also schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg an die traditionelle Ostexpansion der deutschen Industrie angeknüpft, wenn auch vorläufig noch stark begrenzt. Ab 1990 aber gab es kein Halten mehr. Von Anfang der 1990er Jahre bis 2004 verdreifachte sich der deutsche Osthandel. Bereits um die Jahrtausendwende hatte sich die Bundesrepublik nicht nur als größter Handelspartner, sondern auch als wichtigster Investor in Ost- und Südosteuropa fest etabliert. Die Region gewann nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Standort für die Niedriglohnproduktion rapide an Bedeutung.

Die ökonomische Durchdringung Ost- und Südosteuropas wurde durch die Einbindung in die EU politisch zementiert. Dabei war Deutschland stets die maßgeblich treibende Kraft. Im Jahr 1999 hielt die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), damals noch in Ebenhausen bei München ansässig, in einer Analyse fest, die systematisch vorangetriebene Arbeit an der EU-Osterweiterung sei »in ihrer Richtung und Qualität stark von deutschen Interessen geprägt«. Als »bedeutendste hemmende Kraft« sei dagegen Frankreich aufgetreten. Kein Wunder: Frankreichs traditionelles Expansionsgebiet liegt im Mittelmeerraum und in Afrika, in Ost- und Südosteuropa kam die französische Wirtschaft in den 1990er Jahren kaum voran. Wellen schlug 1994 ein Papier, das Wolfgang Schäuble, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und deren außenpolitischer Sprecher Karl Lamers auch mit Blick auf Widerstände gegen die Osterweiterung veröffentlichten. Falls die »Eingliederung der mitteleuropäischen Nachbarn in das (west-)europäische Nachkriegssystem« nicht gelinge, könne »Deutschland (…) versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen«, drohten sie. Der Publikationstag des Papiers war der 1. September 1994 – der 55. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen.

Deutsches Kapital profitiert

Die politische »Eingliederung der mitteleuropäischen Nachbarn« gelang bekanntlich – und die deutsche Wirtschaft hat den Osten der erweiterten EU maßgeblich geprägt. Das vielleicht einprägsamste Beispiel bieten die vier Visegrád-Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, die sich am 15. Februar 1991 in Visegrád, einem Donaustädtchen etwas nördlich von Budapest zu einem losen Verbund zusammengetan hatten. Seit Jahren wird immer wieder gerne auf ihre Bedeutung nicht bloß als Investitionsstandort, sondern auch als Handelspartner der Bundesrepublik hingewiesen. Zählt man sie als Einheit, dann hatten deutsche Konzerne dort – Stand: Ende 2021 – mehr als 90 Milliarden Euro investiert; das war beinahe soviel wie zum damaligen Zeitpunkt in China (103 Milliarden Euro). Der deutsche Handel mit den vier Staaten belief sich im Jahr 2023 auf fast 390 Milliarden Euro, das wiederum war deutlich mehr als im Warentausch mit der Volksrepublik, dem deutschen Handelspartner Nummer eins (253 Milliarden Euro). Als Block – und durchaus auch einzeln – waren die vier Visegrád-Staaten ausweislich solcher Zahlen für die deutsche Wirtschaft unersetzlich.

Wie kommt’s? Zahlreiche deutsche Konzerne, ganz besonders solche aus der Kfz- und aus deren Zulieferbranche – von Volkswagen über BMW bis Continental –, haben in den vier Visegrád-Ländern hohe Summen investiert und bedeutende Werke errichtet, die aufs engste mit ihren Standorten in der Bundesrepublik verflochten sind. Der Austausch zwischen den Standorten befördert den Handel. Für alle Visegrád-Staaten, so hieß es im Jahr 2020 in der Zeitschrift Internationale Politik, sei die Bundesrepublik »mit Anteilen zwischen 22 und 33 Prozent der mit Abstand wichtigste Exportpartner«. Unter den ausländischen Investoren dort ragten die großen deutschen Kfz-Konzerne und deren Zulieferer zwar heraus, doch gebe es auch im deutschen Mittelstand, stellte der Außenwirtschaftschef des DIHK, Volker Treier, in der Zeitschrift fest, »kaum ein Unternehmen, das nicht Zulieferbetriebe oder Tochtergesellschaften in einem oder mehreren Visegrád-Ländern« unterhalte. Das lohne sich, konstatierte die Internationale Politik, schließlich gebe es dort »gut ausgebildete und billige Arbeitskräfte« in hoher Zahl.

Für die Visegrád-Länder nachteilig sei freilich, räumte Treier ein, dass »ein Großteil der Unternehmensgewinne« nach Deutschland »abfließt«; auch bleibe die »Innovationskraft« der vier Staaten, da sie sich fest in vor allem deutsche Lieferketten eingegliedert hätten, recht gering. Industriell seien sie allerdings außergewöhnlich dicht mit dem deutschen Machtzentrum der EU verflochten, in Verbindung mit ihm bildeten sie »die industriell stärkste Region auf dem europäischen Kontinent«. »Zentraleuropa« stehe deshalb auch »für einen erheblichen Teil des Exporterfolgs der Europäischen Union«. Ihre immense Bedeutung für die deutsche Industrie erlaubt es den Regierungen der Visegrád-Staaten paradoxerweise, eine bei Bedarf recht eigenständige Politik zu treiben, so etwa Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán. Denn es sei praktisch nicht möglich, sie aus der Verflechtung mit der deutschen Industrie zu lösen, urteilte Treier: Der Versuch, dies zu tun, gleiche dem Versuch, »aus einer Flasche Ketchup wieder Tomaten zu machen«. Brüssel kann Budapest zwar hart attackieren und Orbáns reaktionäre Vorstöße scharf bekämpfen; die Drohungen aber sind leer: Ohne Ungarn geht es für Deutschland, also auch für die EU, nicht.

Unabgeschlossene Erweiterung

Die EU-Osterweiterung ist, wenngleich sie mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum 1. Januar 2007 zunächst vollendet schien, nicht abgeschlossen. Auch dies hat Gründe, die in der Dynamik der Wirtschaftsexpansion liegen. Denn spätestens als Unternehmen aus dem Westen, besonders aus der Bundesrepublik, im Osten der erweiterten EU Fuß zu fassen begannen, rückten die Länder noch weiter östlich in den Blick, darunter vor allem die Ukraine. Einen wichtigen Grund dafür nannte im April 2005 exemplarisch der damalige Vorstandsvorsitzende des Nürnberger Kfz-Zulieferers Leoni. Er erläuterte in der Wochenzeitung Die Zeit, eine Arbeitsstunde in Deutschland koste 28 Euro; in Ungarn seien es fünf Euro, in Tunesien zwischen zwei und drei Euro; in Rumänien, das im Jahr 2005 noch nicht zur EU gehörte, müsse Leoni 1,50 Euro pro Arbeitsstunde zahlen, fuhr der Mann fort. In der Ukraine aber seien es unschlagbare 70 Cent. Sein Unternehmen, das Kabelbäume montiert – ein arbeitsintensiver Prozess –, hatte denn auch bereits 2003 eine Fabrik in der Ukraine errichtet. Leoni war dabei nur ein Beispiel für eine sich bald häufende Unternehmensstrategie.

Der sich daraus ergebende Gedanke, Länder jenseits der nach Osten erweiterten EU gleichfalls politisch an die Union zu binden, um die Wirtschaftsbeziehungen abzusichern, wurde von Brüssel bereits vor dem Vollzug der großen Erweiterungsrunde vom 1. Mai 2004 verfolgt. Schon Ende 2002 hatten die Staats- und Regierungschefs der Union beschlossen, die Beziehungen zur Ukraine, zu Belarus und zu Moldawien auszubauen. Die Bemühungen schritten voran, bis die EU-Kommission am 12. Mai 2004 – keine zwei Wochen nach dem feierlichen Vollzug der ersten Osterweiterung – ein Strategiepapier mit dem Titel »Europäische Nachbarschaftspolitik« präsentierte. Das Dokument war, wie das Auswärtige Amt damals festhielt, »unter maßgeblicher Mitwirkung Deutschlands entwickelt« worden; es zielte auf eine »stärkere wirtschaftliche Integration, einen engeren politischen Dialog und vertiefte sektorale Zusammenarbeit mit den Partnerstaaten«. Einbezogen wurden vor allem die Ukraine, Belarus und Moldawien, zudem – als Brücke in das rohstoffreiche Zentralasien – Georgien, Armenien und Aserbaidschan; und weil auch Frankreich mit seinen südlichen Interessen berücksichtigt werden musste, schloss die EU-»Partnerschaftspolitik« auch die südlichen und die östlichen Anrainer des Mittelmeers ein.

Die Hauptstoßrichtung aber ging nach Osten. Das wurde spätestens deutlich, als die EU im ersten Halbjahr 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft Gespräche über ein »erweitertes Abkommen« mit der Ukraine aufnahm. Ein Jahr später weitete Brüssel das Vorhaben aus und nahm, über die allgemeine Nachbarschaftspolitik hinausgehend, eine spezielle Kooperation mit der Ukraine, Belarus und Moldawien sowie mit Georgien, Armenien und Aserbaidschan ins Visier. Der Plan wurde nun unter der Bezeichnung »Östliche Partnerschaft« diskutiert und am 7. Mai 2009 bei einer feierlichen Zusammenkunft in Prag formalisiert. Das konkrete Ziel bestand darin, mit den sechs Staaten jeweils Assoziierungsabkommen zu schließen. Warum nur eine Assoziierung und keine Aufnahme in die EU? Die zwei Hauptgründe lagen auf der Hand. So war klar, dass die Ukraine – bitter verarmt (man denke nur an Leonis Stundenlöhne von 70 Cent), zugleich aber mit damals noch rund 46 Millionen Menschen bevölkerungsstark – umfangreiche EU-Mittel verschlingen würde, nähme man sie als Vollmitglied auf. Darüber hinaus hätte sie wegen ihrer Bevölkerungsgröße ein vergleichsweise starkes Stimmgewicht beanspruchen können und damit das Stimmgewicht der bisherigen Platzhirsche Deutschland und Frankreich relativiert.

Assoziierung statt Freihandel

Weil eine Mitgliedschaft für die Staaten der Östlichen Partnerschaft also nicht in Frage kam, bereitete Brüssel ein neues Format vor – die Assoziierung. Was sie genau bedeutet, kann man etwa dem Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine entnehmen, das beide Seiten am 30. März 2012 paraphierten. Es sah zunächst die umfassende Angleichung des ökonomischen Regel- und Normensystems der Ukraine an dasjenige der EU vor – wichtig für die vor allem deutsche Wirtschaftsexpansion. Der Vorgang war keine Marginalie: Die Ukraine war ökonomisch sehr eng mit Russland verflochten; bei ihrer exklusiven Ausrichtung in Richtung Westen drohte die russische Wirtschaft ernsten Schaden zu nehmen. Zudem beschränkte die EU die Assoziierung der Ukraine nicht auf die Ökonomie, sie bezog auch die Innen-, die Justiz- und die Außenpolitik ein. Sogar militärisch sollte sich Kiew Brüssel unterordnen und zum Beispiel »an EU-geführten zivilen und militärischen Krisenmanagement-Operationen« teilnehmen. Faktisch handelte es sich bei der Assoziierung eindeutig um eine nächste Runde der Osterweiterung – nur mit dem Unterschied, dass die EU den assoziierten Staaten die Vorteile der Mitgliedschaft vorenthielt, vom Bezug von Geldern aus dem EU-Budget bis zur Mitbestimmung über die Politik der Union.

Dass die Assoziierung so weit über ökonomische Belange hinausging, ist vor allem im Fall der Ukraine nicht unumstritten gewesen. Ende November 2013 fragte etwa der langjährige Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit und ehemalige Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium Theo Sommer, ob nicht simple Freihandelsabkommen »der bessere Weg der Assoziierung« gewesen wären. Schließlich werde gegenwärtig um die Frage gerungen, wo »die östliche Grenze der EU liegen« solle, »wo die westliche Grenze des russischen Einflussgebiets«. Wenn man sich in Erinnerung rufe, welche geostrategische Bedeutung die Ukraine als »nahes Ausland« für Russland besitze, dann müsse man zweifeln, warnte Sommer, ob der Plan, das Land auch außen- und militärpolitisch an die EU zu binden – ein Plan, dem »expansiver Ehrgeiz aus allen Knopflöchern stinkt« –, langfristig wirklich sinnvoll sei. Sommer äußerte sich freilich stellvertretend für ein kleines Spektrum von Sozialdemokraten meist der älteren Generation, die in Deutschland längst von jüngeren Kräften an den Rand gedrängt worden waren, die der Auffassung waren, man müsse in einer Phase eigener Stärke einen potentiellen Rivalen – und das war Moskau für Berlin im Kampf um Einfluss in Ost- und Südosteuropa ja schon immer – so entschlossen und soweit wie möglich zurückdrängen. Nebenbei: Der Wechsel von einer auf eine gewisse Kooperation mit Russland setzenden Strategie hin zu offener Konfrontation ist gerade aus der deutschen Geschichte bestens bekannt.

Wohin der Versuch geführt hat, die Ukraine nicht per Freihandelsabkommen, sondern mit »expansivem Ehrgeiz« der EU zu assoziieren, ist bekannt. Diejenigen aus Wirtschaft und Gesellschaft in der Ukraine, die enge Bindungen an Russland unterhielten, und das war ein erheblicher Anteil, waren in Sorge, ihre Beziehungen zum Nachbarland könnten ernsten Schaden nehmen. Die Regierung in Kiew unter Präsident Wiktor Janukowitsch war deshalb bemüht, in Dreierverhandlungen mit Brüssel und Moskau einen Abgleich zu finden. Russland war dazu bereit, die EU aber nicht. Am 20. November 2013 setzte Janukowitsch die längst geplante Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens aus. Am Abend des 21. November begannen auf dem Kiewer Maidan Proteste, die letztlich zum Sturz der Regierung Janukowitsch und zur Installierung einer hart prowestlichen Regierung führten. Am 27. Juni 2014 unterzeichnete der neue Präsident Petro Poroschenko das Assoziierungsabkommen. Am 1. September 2017 trat es in Kraft. Zuvor aber hatte die jüngste Runde der EU-Ostexpansion per Assoziierung die Ukraine gespalten: Die russlandnahe Bevölkerung der Krim hatte ihre Halbinsel in die Russische Föderation geführt, der gleichfalls auf Moskau orientierte Donbass versank im Kampf gegen Kiew im Bürgerkrieg.

Aus Sicht Deutschlands und der EU war die Assoziierung, die ihnen alle Vorteile bot, ohne zu größeren Leistungen zu verpflichten, der optimale Weg der Anbindung der Ukraine, Moldawiens und Georgiens, die beiden letzteren unterzeichneten am 27. Juni 2014 gleichfalls ein Assoziierungsabkommen mit der EU, das am 1. Juli 2016 in Kraft trat. Ein ukrainischer EU-Beitritt ist erst seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs ernsthaft im Gespräch. Zunächst war Brüssel dabei bestrebt, die Sache auf die übliche Weise zu lösen – Kiew eine Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen, sobald alle Kriterien dafür erfüllt seien, freilich in der Überzeugung, dazu werde es ohnehin nie kommen. Auf dieser Grundlage wurde die Ukraine am 23. Juni 2022 offiziell zum EU-Beitrittskandidaten erklärt. Dieser Status kann sehr lange beibehalten werden, die Türkei etwa hat ihn schon seit 1999 inne, ohne dass noch irgend jemand in Brüssel oder in Ankara ernsthaft an die Aufnahme in die Union glaubt. Allerdings wuchsen im Lauf der Zeit dann doch die Zweifel, dass die Methode »versprechen und aussitzen« im Fall der Ukraine auf Dauer durchzuhalten sei. Ende Juni 2023, das berichtete wenig später die Financial Times, wurde der ukrainische EU-Beitritt, den man noch wenig zuvor als »absurd« eingestuft hatte, zum ersten Mal ernsthaft auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der Union diskutiert. Klar war: Eine mögliche nächste Runde einer vollgültigen Osterweiterung würde immense Probleme schaffen.

Überdehnte Union

Das betrifft zunächst die Kosten. Die Ukraine könnte, würde sie aufgenommen, gewaltige Mittel aus dem Agrarhaushalt und aus dem Kohäsionsfonds in Anspruch nehmen, der ärmere Mitgliedstaaten gezielt fördern soll. Die EU-Kommission hatte im Sommer 2023 detaillierte Berechnungen angestellt – davon ausgehend, dass die Union wohl kaum allein die Ukraine aufnehmen könne, sondern vielmehr auch Moldawien, Georgien und die Länder Südosteuropas in einer ähnlich großen Runde der Osterweiterung wie im Jahr 2004 integrieren müsse. Den EU-Haushalt werde man in diesem Fall von 1,21 Billionen Euro um 21 Prozent auf fast 1,47 Billionen Euro aufzustocken haben. Daraus würden 186 Milliarden Euro allein in die Ukraine fließen – ein gutes Achtel des gesamten Budgets. Erheblich mehr einzahlen müssten dann vor allem Deutschland, Frankreich und die Niederlande, einige heutige Nettoempfänger würden zu Nettozahlern. Da die ukrainische Landwirtschaft riesige Flächen bewirtschaftet und 14 Prozent der Bevölkerung beschäftigt, bliebe aus dem Agrarhaushalt erheblich weniger für die Bauern in der heutigen EU übrig, etwa für die Landwirte in Deutschland und in Frankreich, ergaben die Berechnungen der Kommission. Klar ist: Da liegt viel Konfliktpotential.

Hinzu kommt, dass die Ukraine als Mitgliedstaat volles Stimmrecht erhielte – was auch für die Staaten Südosteuropas, Moldawien und Georgien, gälte. Nimmt man die Bevölkerungszahl der Ukraine aus dem Jahr 2020 als Grundlage, dann könne der ukrainische Staat, so rechnete die SWP im Oktober 2022 vor, bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit »auf einen Stimmenanteil von etwa acht bis neun Prozent hoffen«, ungefähr genausoviel wie heute Polen. Das brächte wohl die gesamte machtpolitisch penibel austarierte Balance zwischen dem jeweiligen Stimmgewicht der einzelnen EU-Staaten ins Wanken. So hätten heute etwa, hielt die SWP fest, Deutschland und Frankreich »einen Anteil von etwa einem Drittel«; da fehle nicht viel zur »Blockademinderheit von 35 Prozent«. In einer nochmals erweiterten EU falle ihr Anteil auf unter 30 Prozent. Er liege dann zudem unter dem Anteil aller Staaten Ost- und Südosteuropas zusammengenommen, die mit den neuen Mitgliedstaaten auf rund 32 Prozent kämen. Sie wären gemeinsam also stärker als die bislang dominanten Mächte im Westen des Kontinents. Man ahnt: Eine neue Osterweiterung erforderte aus Berliner und Pariser Sicht umfassende Umbauten beim Stimmgewicht und beim Budget.

Bei allen Schwierigkeiten bliebe ferner zu berücksichtigen, dass ein etwaiger EU-Beitritt der Ukraine in der Bevölkerung der Union schon heute eher auf Ablehnung stößt. Eine Umfrage, die Ende 2023 im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) in sechs Mitgliedsländern durchgeführt wurde, ergab lediglich in Dänemark (50 Prozent) und in Polen (47 Prozent) eine Zustimmung von wenigstens der Hälfte der Einwohner zur Aufnahme des Landes. Waren in Rumänien immerhin noch mehr dafür (32 Prozent) als dagegen (29 Prozent), sah es in Deutschland (37 Prozent dafür, 39 Prozent dagegen), in Frankreich (29 Prozent dafür, 35 Prozent dagegen) und in Österreich (28 Prozent dafür, 52 Prozent dagegen) schon erheblich schlechter aus. Eine im März 2024 in 18 EU-Staaten durchgeführte Umfrage ergab ein für Kiew etwas günstigeres Bild; demnach waren 45 Prozent für den Beitritt der Ukraine, 35 Prozent dezidiert dagegen, 20 Prozent wollten sich noch nicht festlegen. Eine Welle der Begeisterung für einen ukrainischen EU-Beitritt sieht anders aus.

Sollte die EU nach Kriegsende tatsächlich nicht um die Aufnahme der Ukraine – und wohl auch der anderen Beitrittsaspiranten – herumkommen, sollte sie also die nächste Runde einer vollgültigen Osterweiterung durchführen, dann wäre nicht nur mit ihrer weitreichenden Umstrukturierung bei den Abstimmmodalitäten und beim Haushalt zu rechnen; Brüssel müsste wohl auch mit erheblichen Widerständen in der Bevölkerung rechnen. Anders als im Falle der ersten großen Runde der Osterweiterung, die vor 20 Jahren gefeiert wurde, wären zudem die Profitchancen wohl eher begrenzt. Zwar wird der Wiederaufbau westlichen, vor allem auch deutschen Unternehmen attraktive Geschäfte eröffnen, und es lockt auch die Landwirtschaft auf den fruchtbaren Böden der Ukraine. Doch lassen sich die Vorteile für die Wirtschaft nicht annähernd mit denjenigen vergleichen, die die erste EU-Osterweiterung im Jahr 2004 insbesondere den Konzernen aus der Bundesrepublik bot. Die Kosten hingegen wären im aktuellen Fall erheblich höher. Die Möglichkeit, dass die EU sich mit einer erneuten Osterweiterung übernimmt, ist sehr real.

Jörg Kronauer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. April zur Gründung der NATO vor 75 Jahren.

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (6. Mai 2024 um 11:46 Uhr)
    Wenn vom Beitritt Zyperns zur EU 2004 die Rede ist, sollte nicht unterschlagen werden, dass der Nordteil der Insel, die »Türkische Republik Nordzypern« nach wie vor nicht zur EU gehört. Warum ist das erwähnenswert? Alles was Kronauer über eine künftige Rolle der Ukraine »nach, Kriegsende« schreibt, bezieht sich doch auf die gesamte Ukraine in ihren Grenzen 1991–2014! Aber diese Ukraine wird es dann voraussichtlich nicht mehr geben! Sondern nur noch einen Rest! Also ist das alles »Fiktion«!
    Die Frage ist lediglich, ob der verbliebene Rest dann nur noch aus Ostgalizien und Transkarpatien besteht (mit der Hauptstadt Lwiw) oder ob lediglich die 8 traditionell »prorussischen« Oblasti bis dahin »verloren gehen«.
    Zur Erinnerung: Die Oblasti Charkiw/Charkow, Cherson, Dnipro/Dnepropetrowsk, Luhansk/Lugansk, Mykolaiw/Nikolajew, Odesa/Odessa, Saporischschja/Saporoschje führten 2012, nach dem Sieg der »prorussischen« Parteien bei den Parlamentswahlen, Russisch als zweite Sprache in Bildung, Justiz und Verwaltung ein (auf der autonomen Krim war es das schon immer). Was den westukrainischen Nationalisten das Blut in den Adern gerinnen ließ. Sie wollten »nach Europa« auch die wirtschaftlich potenten russischsprachigen Gebiete mitnehmen: den Donbass und die Getreideanbau-Gebiete sowie Häfen des historischen »Neurusslands« (Noworossija). Die eng mit Russland verflochtenen Maschinenbau- und Hitech-Standorte wie, Charkow und Dnepropetrowsk waren sie bereit zugrundegehen zu lassen, wenn sie nicht ein westlicher Investor übernehmen wollte.
    Nach dem Maidan 2014, dem Putsch zugunsten der Wahlverlierer, ging die ökonomische Entwicklung ziemlich exakt diesen Weg, vom nach der Bildung der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk abgetrennten östlichen Donbass abgesehen. Doch auch sein Westteil, ebenso »Taurien«, die Gebiete von Cherson und Saporoschje links des Dnepr, werden kaum je zu einem EU-Mitgliedsland Ukraine gehören.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (5. Mai 2024 um 16:56 Uhr)
    Der Titel »Imperialistischer Ehrgeiz« statt »Expansiver Ehrgeiz« würde die aggressivere Natur der EU-Osterweiterung treffender einfangen. Besonders im Hinblick auf Ungarn wird deutlich, dass das deutsche und österreichische Kapital das Land überflutet und bis heute Landwirtschaft, Industrie und sogar den Banksektor beherrscht. Dies hat verheerende Auswirkungen auf die ungarische Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie, die eigentlich das Potenzial für blühende Landschaften und hochwertige Produkte besitzt. Stattdessen dominieren Aldi und Co. das Angebot, ähnlich wie in Wien oder Berlin. Der Artikel betont zu Recht die ökonomischen und politischen Motive hinter diesen Bestrebungen, insbesondere die Rolle Deutschlands bei der wirtschaftlichen Durchdringung Osteuropas und der politischen Bindung an die EU. Es ist anzumerken, dass ohne Kapital durch Arbeit weder Einzelpersonen noch Staaten wohlhabend werden können. Somit bleibt das Kapital und der von ihm verbreitete Imperialismus der dominante Faktor. Denn die EU wird gegründet, um den Willen des Großkapitals durchzusetzen, im Gegensatz zur Propaganda, die Frieden und Wohlstand versprach. Es scheint, als ob der heutige neoliberale »Wertewesten« diesen expansiven Drang des Großkapitals genauso benötigt wie der Mensch das Atmen – nicht umsonst wird er weiter betrieben.

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