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Aus: Ausgabe vom 19.06.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
EU-Aslypolitik

Zu Tode prügeln ohne Strafe

Massaker von Melilla: Neue Untersuchung zeigt Brutalität des EU-Grenzregimes
Von Carmela Negrete
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Von Todesangst getrieben, durchbrechen Migranten den Grenzzaun (Melilla, 24.6.2022)

Es sind neue Dimensionen. Am Dienstag wurden in Madrid die Ergebnisse einer neuen Untersuchung über das Massaker vom 24. Juni 2022 an der Grenze zwischen Nador in Marokko und dem spanischen Melilla veröffentlicht. Der Vorfall kostete mindestens 27 Menschen das Leben, weitere 70 gelten seither als vermisst. Die spanischen und marokkanischen Behörden konnten bislang keinerlei Ermittlungsergebnisse vorlegen.

Dagegen haben nun die Organisationen Border Forensics und Irídia – Zentrum für die Verteidigung der Menschenrechte und die Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte (AMDH) verstörende Details zutage gebracht. Detailliert werden die Ereignisse aufgeschlüsselt, die dazu geführt haben, dass rund 2.000 Menschen gegen einen Grenzposten anrannten und so in einer tödlichen Falle landeten. Manche von ihnen erstickten, andere sollen laut Augenzeugen zu Tode geprügelt worden sein, medizinische Hilfe ließ auf sich warten. Der Bericht stellt die Version der spanischen Regierung in Frage, nach der die spanischen Beamten nicht gesehen hätten, was auf der marokkanischen Seite der Grenze geschah. Klar werden die Dringlichkeit einer internationalen Untersuchung und die Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen.

In einer 40minütigen Videodokumentation und in einem 150 Seiten langen Dokument wird detailliert aufgeführt, was genannte Organisationen ermitteln konnten, um die Frage nach der Verantwortung für das Geschehene zu beantworten. Die spanischen Behörden hätten nicht angemessen ermittelt, prangern sie an, und die Todesfälle würden auf Drängeleien und Panik zurückgeführt. Juristisch ist die Lage widersprüchlich, da das betreffende Territorium zum Teil von marokkanischen Beamten kontrolliert wird, aber eigentlich zu Spanien gehört.

In Marokko wurden vom Massaker betroffene Geflüchtete derweil wegen Gewalttaten verurteilt. Aus Opfern machte man Täter: »Statt die Verantwortung für das Massaker aufzuklären, hat Marokko seine Justiz genutzt, um Überlebende weiter zu unterdrücken. Mehrere Dutzend von ihnen wurden wegen Gewaltakten und anderen angeblich während des Grenzübertrittsversuchs begangenen Verbrechen zu Gefängnisstrafen verurteilt«, heißt es im Bericht, der auf der Webseite borderforensics.org in arabischer, englischer, spanischer und französischer Sprache gelesen werden kann.

Aussagen von dreißig Überlebenden, Satellitenbilder sowie umfangreiche Archivberichte haben die Experten von Border Forensics verarbeitet. Das Material, das analysiert werden konnte, war allerdings unvollständig. Zum Beispiel gibt es Helikopteraufnahmen der spanischen Polizei im Umfang von vier Stunden, von denen aber nur wenige Minuten öffentlich gemacht wurden.

Klar wird, dass die Behörden ­lange Zeit vorher wussten, was passieren könnte, denn bekannt war, dass Migranten von den marokkanischen Grenzeinheiten im Vorfeld misshandelt und bedroht worden waren. Man soll ihre Essensreserven verbrannt und ihr Camp auf einem naheliegenden Berg geräumt haben. Auch sei den Schutzsuchenden Schusswaffengebrauch angedroht worden, wenn sie nicht versuchten, über die Grenze zu gelangen. Zudem soll einer der Organisatoren ein Informant der Polizei gewesen sein. Zahlreiche spanische und marokkanische Beamte waren, soviel ist unstrittig, vor Ort, als die Kolonne der Geflüchteten eintraf. Insgesamt sollen 121 spanische Beamte involviert gewesen sein, man hatte sie eine Stunde vorher nach erhaltenen Warnungen eingesetzt, wie marokkanische Zeugen berichteten, die der Festnahme entgehen konnten. Der Posten »Barrio Chino« war seit 2020 geschlossen, als ein Zaun zusammenbrach, wurde der Zugang zum spanischen Gebiet ermöglicht.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen ein systematisches Muster von Gewalt an der Grenze zwischen Nador und Melilla, wo einer der höchsten Grenzzäune der Welt steht, an dem es seit 2014 laut den am Bericht beteiligten NGOs zu rund 900 Todesfällen gekommen sei. Betroffen waren hauptsächlich Menschen schwarzer Hautfarbe, die meisten Klagen wurden abgewiesen, die Täter kamen straflos davon. Von den mehr als 2.000 Personen, die am 24. Juni 2022 versucht haben, die Grenze zu überqueren, konnten lediglich 134 Asyl beantragen, was auf eine Missachtung der Rechte von Schutzsuchenden durch spanische Grenzbeamte hinweist. Die Behörden haben die gesetzliche Pflicht, die Asylrechte zu beachten, gemäß den juristischen Änderungen von 2015, die in Kraft gesetzt wurden, um eben jene vor Ort übliche Praxis zu unterbinden. Im Nachgang der Ereignisse soll es zu 470 »Pushbacks« gekommen sein, wie die spanische Staatsanwaltschaft in einem Bericht bestätigt.

In der Dokumentation ist auch ein spanischer Beamter zu hören, anonym und mit verzerrter Stimme: »Die Marokkaner haben sie dort gleich umgebracht, Uniformen voller Blut, alles voller Blut, das Schlimmste, was ich erlebt habe.« Schreckliche Bilder von dem Massaker hatten die sozialen Netzwerke überflutet. Man sah Menschen, die auf dem Boden lagen, wehrlos und mit zusammengebundenen Händen, Beamte prügelten weiter auf sie ein, obwohl sie offensichtlich verletzt waren. Andere Videos zeigen zudem, dass Körper auf dem Boden regelrecht aufgestapelt wurden. Ein Zeuge sagt in der Dokumentation, er habe sich totgestellt und unter einer Leiche versteckt, um nicht zu Tode geschlagen zu werden. Ein anderer erzählt von einem Kind, dessen Arm mit eine Stange gebrochen wurde.

Hintergrund: Lügen widerlegt

»Wir haben versucht, dem zu entgegnen, was Spanien und Marokko im Zusammenhang mit dem 24. Juni vorgebracht haben«, erklärte am Dienstag die Menschenrechtlerin Maite Daniela Lo Coco vom Irídia-Center bei der Vorstellung der Recherche, die von folgenden Organisationen finanziell unterstützt wurde: Robert-Bosch-Stiftung, Ville de Genève, Medico International, Pro Asyl, Rosa-Luxemburg-Stiftung und Swiss National Science Foundation. Der Bericht attackiert die Behauptung, sämtliche Todesfälle seien von Migranten selbst verursacht worden, sowie die, dass die spanische Polizei nicht gewusst habe, was auf der anderen Seite der Grenze passiert, drittens schließlich, dass das Anlaufen der Grenze eine »offensive Handlung der Migranten« war.

Zu berücksichtigen ist, dass alle Taten auf eigentlich spanischem Boden stattfanden, denn die spanischen Behörden haben einen Teil ihrer Grenzposten den marokkanischen Behörden zur Benutzung überlassen. Das entlaste sie allerdings nicht, erklärte Hanaa Hakiki vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) am Dienstag.

Die spanische Staatsanwaltschaft habe lediglich auf Bedrängnis, Panik und eine »Menschenlawine« als Ursache hingewiesen. »Diese Untersuchung zeigt jedoch, dass die Todesfälle durch das Vorgehen der Sicherheitskräfte beider Staaten, durch Polizeibrutalität«, verursacht wurden, erklärte Lo Coco. Aus der online veröffentlichten Dokumentation kann man erfahren, dass Flüchtlinge zusammengedrängt, mit Gummigeschossen, Rauchbomben, Pfefferspray, Steinen und Stangen attackiert wurden und dass es keinen Ort gab, an den sie entweichen konnten. Das verstößt gegen die Richtlinien für den Gebrauch von Material zur Aufstandsbekämpfung.

Anders als von ihnen behauptet, hätten »die spanischen Beamten die Abschiebung von Personen fortgesetzt, obwohl sie sehen konnten, dass die marokkanischen Behörden sie misshandelten«, erklärte die Anwältin von Irídia. (cn)

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