75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Sa. / So., 29. / 30. Juni 2024, Nr. 149
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 25.06.2024, Seite 12 / Thema
Arm und Reich

Arme Reiche!

In der öffentlichen Debatte wird Kritik an ökonomischer Ungleichheit oft als »Neiddebatte« verunglimpft. Dabei braucht es dringend Umverteilungsmaßnahmen
Von Robin Waldenburg
12-13.jpg
So tönt es aus allen Talkshows: Nicht immer gegen die Reichen schießen, schließlich hätten sie alle hart für ihr Geld gearbeitet

Der reichste Deutsche heißt Klaus-Michael Kühne und besitzt laut Forbes 38,7 Milliarden US-Dollar – umgerechnet 36 Milliarden Euro. Die Dimensionen solchen Reichtums sind für die meisten Menschen kaum vorstellbar. 36 Milliarden: Das ist eine Zahl mit neun Nullen. Höher als das Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten der Welt. Fast halb soviel wie die gesamte untere Hälfte der deutschen Bevölkerung ab dem Alter von 17 Jahren besitzt – also etwa 35 Millionen Menschen. Man könnte mit dem Vermögen von Kühne 319.000 Menschen zehn Jahre lang das von der Bundesregierung festgelegte Existenzminimum, das im Jahr 2023 bei 10.908 Euro lag, garantieren. Für 36 Milliarden Euro müsste eine Reinigungskraft in Deutschland durchschnittlich etwa 176.000 Jahre arbeiten – und zwar, ohne je einen Cent auszugeben.

Hinter Kühne folgen in der Forbes-Rangliste Lidl-Gründer Dieter Schwarz (37,5 Milliarden US-Dollar), Reinhold Würth und Familie (36 Milliarden), Stefan Quandt (28,2 Milliarden), Susanne Klatten (27,2 Milliarden), Andreas von Bechtolsheim und Familie (16,1 Milliarden), Karl Albrecht Jr. und Familie (15,2 Milliarden) und Beate Heister (15,2 Milliarden). Insgesamt gibt es in Deutschland laut dem Magazin 132 Milliardäre. Zusammen mit dem restlichen reichsten Prozent besitzen sie mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens in Deutschland. Die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung hingegen besitzen durchschnittlich nicht einmal eigenes Vermögen oder sind sogar verschuldet.

Vermögen schützen

Macht man auf diese Zahlen aufmerksam, dauert es meist nicht lange, bis einem der immer gleiche Vorwurf entgegengeschleudert wird: Neid. Ein sinistrer Vorwurf, der dazu benutzt wird, aufkommende Diskussionen oder Kritik sofort zu unterbinden. Denn niemand gibt gerne zu, neidisch zu sein. Neid scheint in Deutschland das Totschlagargument gegen Umverteilung zu sein. So empörte sich ZDF-Moderator Markus Lanz im Juli 2023 über die »Neiddebatte« um Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP): »Wie viele Menschen haben Arbeit, weil ein anderer bereit ist, 200.000 Euro für ein Auto auszugeben? Lass ihn doch! Warum muss man diese Gegenpole immer aufmachen?«¹ In die gleiche Kerbe schlug Lindners Parteikollege Wolfgang Kubicki in bezug auf Nebentätigkeiten von Abgeordneten, deren Offenlegung auf keinen Fall zu einer »Neiddebatte« führen dürfe.² Nebeneinkünfte in Höhe von 200.000 oder 300.000 Euro kämen bei einem Anwalt ganz leicht zusammen. Und auch der ehemalige CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak ist geübt darin, den Neidvorwurf als Waffe einzusetzen: Im August 2019 verwahrte er sich gegen das SPD-Vorhaben einer Vermögensteuer, das nichts anderes sei als eine »billige Neiddebatte«: »Mit der Union wird es keine Besteuerung von Vermögen geben.«³

Wer sich dann gegen diesen Vorwurf verteidigt und beteuert, ganz sicher nicht neidisch zu sein, ist schon in die Falle getappt – denn er spielt das Spiel des anderen mit. Der Fokus wird von den Beobachtungen über Ungleichheit verschoben auf den Charakter des Sprechers. Die Beweislast wird umgedreht: Der Rechtfertigungsdruck lastet nun auf derjenigen Person, die Ungleichheit angesprochen hat, und nicht mehr auf der Ungleichheit selbst. Eine billige Taktik, aber sie funktioniert.

Dabei wäre es so wichtig, genuine Debatten über Umverteilung oder gar bestehende Produktionsverhältnisse zu führen. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Hunderttausende Menschen können von ihrem Job nicht leben. Die Einkommensungleichheit ist während der Coronapandemie weiter gestiegen.⁴ Höhere Energie- und Lebensmittelpreise werden zum existentiellen Problem für ärmere Haushalte. Jeder sechste Haushalt ist mit der Miete überlastet. Und gleichzeitig konzentriert sich der Reichtum immer stärker an der Spitze: Fast alle der anfangs genannten Milliardäre haben gemeinsam, dass sie zwischen 2020 und 2023 – also während der Pandemie – immense Gewinne eingefahren haben. Sollte die Problematisierung all dieser Punkte eine Neiddebatte sein, dann brauchen wir genau das.

Klassenkampf von oben

In gewissem Sinne wird eine solche Debatte auch schon längst geführt – allerdings auf eine perverse Art und Weise. Denn im Zentrum der tatsächlich geführten Diskussion stehen nicht diejenigen, für die eine Million mehr oder weniger kaum einen Unterschied macht, sondern die Schwächsten der Gesellschaft. Hubert Aiwanger, Chef der Freien Wähler und selbsternannter Retter des »gesunden Menschenverstandes«, wusste die Wut der Landwirte im Zuge der Bauernproteste für seine politische Agenda zu nutzen: Die Regierung in Berlin setze Auflagen für Landwirte durch, damit Geld für Geflüchtete und »Bürgergeld«-Bezieher da sei.⁵ So vollkommen absurd diese Verknüpfung verschiedener Themen auch ist, sie scheint zu verfangen. Während Kritik am Reichtum der Reichsten in Deutschland ein Tabu ist, wird den Ärmsten nicht einmal das Existenzminimum gegönnt. Die Supermärkte, also die Distributoren der landwirtschaftlich produzierten Güter, fahren Millionengewinne ein – aber Schuld an den finanziellen Problemen vieler Landwirte haben natürlich: Geflüchtete und Sozialhilfebezieher. Das ist in etwa so, als würde man von fünf Kuchenstücken vier für sich nehmen und dann die anderen davor warnen, der Ausländer könnte sich das letzte unter den Nagel reißen. Mit dieser Strategie hat es Donald Trump bis ins Weiße Haus geschafft – und ist auf gutem Wege, wieder dorthin zurückzukehren.

Die ungerechten Besitzverhältnisse sollen bloß nicht angetastet werden – und das funktioniert bestens, wenn die unteren Klassen gegeneinander ausgespielt werden. In Talkshows wird jeder Euro diskutiert, der für soziale Belange ausgegeben wird, nicht aber über einen möglichen Zugriff des Staates auf das Vermögen der Wohlhabenden. Je mehr die Aufmerksamkeit von deren obszönem Reichtum ferngehalten wird, desto einfacher kann die Frage abgeblockt werden, ob es legitim sein kann, dass die einen im Geld schwimmen, während andere kaum über die Runden kommen. Wie oft hört man den Begriff »Bürgergeld« in der öffentlichen Debatte und wie oft den Begriff »Vermögensteuer«? Die Union hält es für wichtiger, ein paar tausend sogenannten Totalverweigerern – also Menschen, die eine »zumutbare« Arbeit ablehnen – die Lebensgrundlage zu entziehen und damit angeblich das Ansehen des Sozialstaats zu retten, als gegen Kinderarmut vorzugehen.⁶ Für FDP-Chef Lindner lädt das Bürgergeld zum »Nichtstun« ein.⁷ Was genau deswegen ein Problem zu sein scheint, weil es hier um die Schwachen in der Gesellschaft geht. Ob Menschen mit Millionen von Euro auf dem Konto zur Arbeit gehen oder irgendeinen sinnvollen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft beitragen, interessiert nicht.

Hinter dieser Diskrepanz steckt der Mythos von der Meritokratie: Aus irgendeinem Grund akzeptiert die Mehrheit in Deutschland die Vorstellung, dass Reichtum die Folge von großer Anstrengung sein müsse. Wer viel Geld besitzt, der hat offenbar auch viel geleistet. Einer höheren Besteuerung von Reichen wird regelmäßig das Argument entgegengesetzt, damit Menschen zu bestrafen, die sich ihren Wohlstand selbst erarbeitet haben. Aber kann man bei Vermögen im Milliardenbereich wirklich noch davon sprechen, dass es sich jemand »selbst erarbeitet« hat? Schließlich sind solche Erfolge immer auch abhängig von den Leistungen anderer Menschen, insbesondere der Angestellten und Arbeiter im eigenen Unternehmen. Ganz allein, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, Vermögen zu erarbeiten, ist eine Unmöglichkeit. Auch käme es nicht zustande ohne die extensive Infrastruktur, die eine Gesellschaft dem Individuum zur Verfügung stellt: Bildungssystem, Verkehrsinfrastruktur, Rechtssicherheit, staatlicher Schutz und so weiter. Der Kontext spielt eine gewichtige Rolle: In einem politisch instabilen Land ohne Gesetze, Straßen und Schulen könnte niemand durch eine unternehmerische Tätigkeit (ohne Verbrechen zu begehen) zu großen Summen Geld kommen.

Von wegen Leistung

Wer behauptet, er habe sich sein Vermögen ganz allein erarbeitet, übersieht all diese Faktoren. Er übersieht außerdem, welch gewichtigen Einfluss der Zufall in der Realität für den individuellen Erfolg spielt. Dieser Einfluss, das wurde in wirtschaftswissenschaftlichen Studien bestätigt, wird in der öffentlichen Wahrnehmung systematisch unterschätzt.⁸ Mit der Überhöhung des Leistungsprinzips wird so getan, als hätte jede und jeder grundsätzlich die gleiche Chance, erfolgreich zu sein. Dabei sind selbst die Möglichkeit (zum Beispiel aufgrund einer chronischen Krankheit) und sogar die Bereitschaft, Leistung zu bringen, keine unabhängigen Variablen: sozialer Hintergrund, Erziehung, Bildung und andere Faktoren beeinflussen nicht nur die Umstände einer Person, sondern oft auch direkt deren Handlungen. Manchen Menschen fällt es schwerer als anderen, Leistung zu bringen. Dies kann an unterschiedlichem Talent liegen, aber auch an einer zu- oder eben abträglichen Lernsituation zu Hause, unterschiedlich starker Unterstützung durch die Eltern, unterscheidlichen Deutschkenntnissen und so weiter. Im Kontext der Arbeitswelt ist außerdem gut vorstellbar, dass beispielsweise Selbstvertrauen in Gehaltsverhandlungen oder Rücksichtslosigkeit gegenüber den Kolleginnen im Rennen um Führungspositionen maßgeblich von der Erziehung und dem sozialen Umfeld abhängen.

Der in der Realität nachweisbar hohe Einfluss von nichtleistungsbezogenen Kriterien des individuellen ökonomischen Erfolgs, wie sozioökonomischer Hintergrund, Geschlecht und Migrationsgeschichte, bezeugt den illusionären Charakter der meritokratischen Vorstellung. Doch selbst wenn man solche Faktoren ausblendet: Wie sollen verschiedene Leistungen überhaupt miteinander verglichen werden? Wie wird gerechtfertigt, dass eine bestimmte Tätigkeit mit Millionen belohnt wird und eine andere nicht? Eine Pflegekraft oder eine Lehrerin können noch so gut in ihrem Job sein und noch so gute Leistungen bringen – Millionäre werden sie trotzdem nie werden. Gut bezahlt beziehungsweise mit hohem Gewinn belohnt werden hingegen oft Leistungen, deren Mehrwert für die Gesellschaft mindestens zweifelhaft ist. Darunter fallen zum Beispiel Unternehmensanwältinnen, Aufsichtsratschefs, Beraterinnen, Marketingexperten und Lobbyistinnen.

David Graeber zeigt in »Bullshit Jobs« anschaulich, dass bis auf wenige Ausnahmen (wie zum Beispiel Ärzte) sogar das Prinzip zu gelten scheint: Je wertvoller eine Tätigkeit für die Gesellschaft, desto schlechter wird sie bezahlt. Dahinter scheint die verbreitete (implizite) Auffassung zu stehen, dass wer eine sinnvolle Tätigkeit ausübt und somit Erfüllung durch seine Arbeit finden kann, nicht auch noch dafür bezahlt werden sollte. Mit anderen Worten: Lehrerin oder Pflegekraft soll man nach allgemeinem Dafürhalten werden, weil man sich für diese Beschäftigung begeistert, nicht weil man damit reich werden kann. Da ist grundsätzlich vielleicht etwas dran – doch dieses Prinzip führt zu der absurden Konsequenz, dass gerade diejenigen, die gesellschaftlich sinnlose oder sogar schädliche Berufe ausüben, besonders stark persönlich profitieren.

Alles vererbt

Teilweise ist sogar nicht einmal klar, wie hoch der Beitrag der Hochverdienenden zum Erfolg des eigenen Betriebes selbst ist: Eine wissenschaftliche Studie, die im Fachmagazin Science Advances veröffentlicht wurde, findet kaum statistische Evidenz dafür, dass CEOs den Firmenerfolg positiv beeinflussen.⁹ Dass CEOs gleichzeitig aber überproportional viel verdienen, geht auf einen sogenannten fundamentalen Attributionsfehler zurück: Der Anteil am Erfolg von Unternehmen, der von Glück und anderen unbeeinflussbaren Faktoren abhängt und somit nicht erklärt werden kann – wir sprechen hier von ungefähr 50 Prozent –, wird der Leistung der CEOs zugerechnet. Deren Gehälter entwickeln sich dann in Erhöhungsspiralen – wenn das eine Unternehmen Summe x zahlt, sieht sich Unternehmen y gezwungen, nachzuziehen – in schwindelerregendem Tempo nach oben. Gehalt und Beitrag zum Unternehmenserfolg stehen in keiner Weise in einem angemessenen Verhältnis zueinander. Offensichtlich geht es also überhaupt nicht darum, wie hart jemand arbeitet oder wieviel Leistung jemand erbringt, sondern lediglich darum, ob es einem gelingt, eine bestimmte Stellung oder Position zu erreichen beziehungsweise eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, die in vielen Fällen einen verschwindend geringen gesellschaftlichen Wert besitzt.

Deswegen auch »Mythos« der Meritokratie: Den Vertretern der neoliberalen Vermögensschutzpolitik geht es in Wirklichkeit gar nicht darum, dass Verdienst (lateinisch: meritum) belohnt wird und diejenigen, die viel geleistet haben, zu Recht über Wohlstand verfügen. Vielmehr soll davon abgelenkt werden, dass die realen extremen sozialen Ungleichheiten, die sich noch dazu von Generation zu Generation weitervererben (Erbschaften und Schenkungen sind in Deutschland der Hauptgrund für Reichtum), im Grunde durch nichts rechtfertigen lassen. Solange man den Armen immer und immer wieder erzählt, sie könnten es schaffen, wenn sie sich nur genug anstrengen würden, verhindert man, dass das System als ganzes in Frage gestellt wird – und ein paar wenige Beispiele sozialen Aufstiegs lassen sich immer finden (denn klar: Wenn einer von Tausenden oder Zehntausenden es geschafft hat, dann kannst du es natürlich auch schaffen!). Wohl nur so lässt sich erklären, dass mehr als die Hälfte der FDP-Wählerschaft bloß ein durchschnittliches oder gar unterdurchschnittliches Einkommen aufweist.¹⁰

Wenn wir Milliardenvermögen einmal als das akzeptiert haben, was sie sind – nämlich Ausdruck eines Gesellschaftssystems, das willkürlich bestimmte Tätigkeiten über andere stellt und dabei sogar egoistisches Verhalten belohnt und altruistisches Verhalten bestraft –, dann erscheint es gar nicht mehr so verkehrt, neidisch auf Reichtum zu sein. Denn dessen Rechtfertigung als Resultat hoher Anstrengungen und großer Verdienste, die so gerne als Totschlagargument gegen Vermögens-, Erbschafts- und sonstige Steuern angeführt wird, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Dass Bedürftige hingegen Sozialleistungen erhalten, ruht auf einem stabilen Rechtfertigungsfundament – der Menschenwürde, der Empathie, der Solidarität. Und doch sind es genau diese Leistungen, die ständig in Frage gestellt und beschnitten werden; sind genau diese das Objekt des Neids. Wenn man nicht selbst in der Mühle dieses Systems steckte, müsste man dem Kapitalismus für diese geniale Fokusverschiebung applaudieren. Seine Verteidiger haben es geschafft, dass »Sozialbetrug«, also zum Beispiel die Auszahlung von Sozialleistungen an nicht berechtigte Personen, skandalisiert und immer wieder debattiert wird, während Steuerbetrug bis auf wenige Ausnahmen wie der Cum-ex-Skandal im öffentlichen Diskurs nicht stattfindet – obwohl jener den deutschen Staat jährlich etwa 60 Millionen Euro und dieser aber 1,25 Milliarden Euro kostet (hier geht die Rede von den nachgewiesenen Fällen; die Dunkelziffer dürfte jeweils höher liegen; beim Steuerbetrug liegt sie Schätzungen zufolge bei 100 Milliarden Euro¹¹). Die Charaktermasken des Kapitals haben es geschafft, dass Ablehnung und Ressentiments gegenüber Menschen vorherrschen, die gerade einmal das Nötigste zum Leben haben, während diejenigen, die sich tatsächlich auf Kosten der Gemeinschaft bereichern, nahezu unantastbar sind. So perpetuieren sich Ungerechtigkeiten, und so wird ein Nährboden geschaffen für faschistische Demagogen, für Rechtsparteien wie AfD oder Aiwangers Freie Wähler, die ganz bewusst mit dem Finger auf Geflüchtete und Bezieher von Sozialleistungen zeigen.

Falsche Selbsteinschätzungen

Dass dieses Narrativ verfängt und viele Menschen eher auf die »Schwächeren« schielen als auf die »Stärkeren«, liegt womöglich zu einem großen Teil an einer kapitalen Fehleinschätzung der eigenen Situierung in der Gesellschaft. Viele scheinen zu glauben, sie selbst würden durch beispielsweise eine Vermögensteuer Einbußen hinnehmen müssen. Zu sehen war dieser Effekt auch in der Diskussion um die Senkung der Einkommensgrenze für das Elterngeld im vergangenen Sommer: Bundesfamilienministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) entschied, das Maximaleinkommen für den Erhalt dieser Leistung von 300.000 auf 150.000 Euro zu senken. Die Empörung war riesig; wohl auch, weil viele Menschen sich selbst oder den eigenen Bekanntenkreis von der Maßnahme betroffen wähnten. Dabei ist der Anteil der Familien, für die durch die Änderung tatsächlich der Anspruch auf Elterngeld wegfällt, verschwindend gering: Es geht gerade einmal um 60.000 Familien in ganz Deutschland – bei insgesamt 11,6 Millionen. Studien haben gezeigt, dass Gering- und Normalverdienende ihr Einkommen tendenziell überschätzen, wohingegen Hochverdienende ihr Einkommen unterschätzen.¹² Rufe nach Besteuerung der Reichen und Umverteilung werden mithin von viel mehr Menschen als Bedrohung wahrgenommen, als es rational logisch wäre. Eigentlich gäbe es für die große Mehrheit keinen Grund, am derzeitigen System festzuhalten, das die Privilegien einiger weniger schützt. Man erinnere sich an das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung: »Wir sind die 99 Prozent.« Wenn sich die 99 Prozent gegen das reichste Prozent verbünden und sich endlich wehren würden, statt nach unten zu treten, hätten die Milliardäre keine Chance. Es ist also höchste Zeit für eine ordentliche Neiddebatte.

Anmerkungen

1 www.bunte.de/stars/star-news/markus-lanz-neiddebatte-er-verteidigt-porsche-fahrer-christian-lindner.html

2 www.deutschlandfunk.de/kubicki-fdp-zu-nebentaetigkeiten-von-abgeordneten-ich-bin-100.html

3 www.zeit.de/wirtschaft/2019-08/vermoegenssteuer-spd-cdu-paul-ziemiak-finanzen

4 www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-20845.htm

5 www.sueddeutsche.de/bayern/hubert-aiwanger-held-bauernproteste-kaniber-soeder-1.6330466

6 www.zeit.de/wirtschaft/2023-11/haushaltsurteil-cdu-fraktion-kindergrundsicherung

7 www.n-tv.de/politik/Linkenchefin-nennt-Lindners-Rede-menschlich-ekelhaft-article24665034.html

8 www.scirp.org/reference/referencespapers?referenceid=2651693

9 www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abe3404

10 www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/fdp-waehler-bundestagswahl-umfrage

11 www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-steuerhinterziehung-kostet-100-milliarden-5391.htm

12 www.econstor.eu/handle/10419/267292

Robin Waldenburg studiert in Frankfurt am Main Philosophie.

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (26. Juni 2024 um 21:50 Uhr)
    Für alle Studierten, Wissenden und überzeugte Linke biete ich eine kostenlose Schulung in Sachen »Was ist Lohn« in Hamburg an. Die Schulung beginnt um 4.30 Uhr. – Aufstehen! Danach Vorbereitung für den Arbeitsweg und Arbeitstag. Treffen mit den Arbeitskollegen um 5.45 Uhr auf dem Hauptparkplatz von AURUBIS Kupferhütte Hamburg Peute. Gemeinsam mit den Arbeitskollegen zum Baucontainer fahren. Arbeitskleidung anziehen und die Tagesaufgaben besprechen – lernen wie man sich gegenüber Vorarbeiter und Kollegen verhält – soziales Verhalten. Am Arbeitsplatz Befehle entgegennehmen und Befehle ausführen – Unterwerfung und Anpassung üben – soziales Verhalten. Vorgegebenes Arbeitspensum erfüllen, auch wenn der Körper schmerzt – Disziplin und Ausdauer üben. In den Arbeitspausen Bild-Zeitung lesen und über Fußball reden – politische Bildung erlernen. Streitereien und unterschiedliche Meinungen am Arbeitsplatz austragen – Konkurrenzverhalten üben und festigen – asoziales Verhalten üben. Wenn der studierte Chef am Arbeitsplatz erscheint, alles glauben, was er sagt, auch wenn es falsch ist – Unterwerfung und Untertanverhalten üben. Wenn der Arbeitstag zu Ende geht, schimpfen und fluchen über Arbeit und Kollegen – unsolidarisches Verhalten üben. Manchmal und vereinzelt über Lohn und Sozialleistungen reden und schimpfen, dass alles zu wenig ist – nicht vorhandenes politisches Bewusstsein festigen. Ohne Kenntnisse von Lohn und Mehrwert den Chef verteidigen: »Der Chef verdient mehr, weil er die Verantwortung trägt usw.«. Ohne zu wissen, dass Lohn Kapitalismus ist und der Mehrwert, d. h. der Reichtum etc. des Chefs, von Arbeitern erzeugt wird, wird Feierabend gemacht. Gemeinsam fährt man zum Parkplatz und danach nach Hause. Legt sich ins Bett oder sieht sich Ballaballa-Sendungen im Fernsehen an. Wer Interesse hat, melden bei Manni Guerth
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (25. Juni 2024 um 12:07 Uhr)
    So richtig das hier Geschriebene auch ist, greift es doch leider zu kurz. Wenn man die Frage nach den ökonomischen Wurzeln der Ungleichheit nicht stellt, landet man wieder nur bei der allgemeinen Phrase, sie sei ungerecht. Und erschöpft sich in dem genauso allgemeinen Aufruf, irgendwer, am besten der Staat, müsse endlich mehr umverteilen. Solche Appelle verhallen nutzlos, wenn der Staat in der Realität nur das Werkzeug und der Diener seiner (reichen) Herren ist. Man kann ihm die Forderungen nach mehr Gerechtigkeit noch so oft schmackhaft machen wollen: Er wird sie nicht schaffen. Die Arbeiterbewegung hat schon vor hundertfünfzig Jahren verstanden, dass die entsprechenden Veränderungen nicht erbeten, sondern erkämpft werden müssen. Wie hieß es doch so schön: »Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.«