75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Sa. / So., 06. / 7. Juli 2024, Nr. 155
Die junge Welt wird von 2836 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 03.07.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Sportpolitik

Wo sind die Zahlen?

Der bundesdeutsche Leistungssport im Jahr der Sommerspiele von Paris
Von Andreas Müller
PARIS.JPG
Schwächen im Überbau: Die Aussichten des deutschen Leistungssports sind düster

Es ist sieben Jahre her, dass Gerhard Böhm ein wenig aus dem Nähkästchen plauderte. Der damalige Leiter der Abteilung Sport im Bundesministerium des Innern (BMI) berichtete von »gewissen Spannungen, die unbequemen Fragen geschuldet sind«. Beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) war man not amused, als die Sportfreunde aus dem Ministerium um eine Liste sämtlicher Kaderathleten baten. Die aus der Sportzentrale in Frankfurt am Main gemeldeten Zahlen fielen im Abgleich mit einer BMI-eigenen Analyse deutlich zu hoch aus. »Eigentlich hätten wir Regressforderungen stellen müssen, weil wir zu viel Fördergeld bezahlt haben«, erinnerte sich Böhm. »Das ist vergleichsweise so, als wüsste eine Firma nicht über die Zahl ihrer Beschäftigten Bescheid.«

Diese Episode scheint man beim DOSB verdrängt zu haben, wie eine jW-Anfrage nach Anzahl und Alters­pyramide der derzeit im Leistungssport beschäftigten Trainer illustriert. Sie sind schließlich die wichtigsten Personen neben den aktuell zirka 4.000 von der Stiftung Deutsche Sporthilfe geförderten Athleten, die Hälfte davon im »Basisteam« (Nachwuchstalente), etwa 1.500 im »Top-Team Future« (Toptalente) sowie rund 500 aktuelle Weltklassesportler im »Top-Team«. Viele Trainer sind »Ü 50« oder der Rente schon nahe. Es wird geschätzt, dass demnächst jährlich mehr als einhundert von ihnen an den verschiedensten Stellen ersetzt werden müssen. Wann, wo und wie das geschehen wird, darüber sollte doch bestens Bescheid wissen, wer die Gesamtverantwortung für den Leistungssport trägt. Wer, wenn nicht die Zentrale, sollte den reibungslosen Generationswechsel steuern?

Keine Daten

Doch DOSB-Pressesprecherin Eva Werthmann muss einräumen, dass über Trainer »keine Datenbank« geführt wird. »Da der DOSB kein Arbeitgeber von Trainern ist, können wir leider keine konkreten Zahlen liefern.« Für Holger Hasse, Präsident des Berufsverbandes der Trainerinnen und Trainer im deutschen Sport, »ein absolutes Armutszeugnis«. Die Spitzenverbände des olympischen und nichtolympischen Sports sowie die für den Nachwuchsleistungssport verantwortlichen Landessportbünde (LSB) seien doch alle Mitglieder im DOSB. »Dort hat man den genauen Einblick in alle Verträge. Wo ist das Problem, mit Hilfe einer einfachen Abfrage eine exakte Übersicht zu gewinnen? Das wäre innerhalb von einer Woche zu machen«, so Hasse gegenüber jW. »Im übrigen ist das eine der Forderungen, die wir in unserem Hausaufgabenheft für den Dachverband formuliert haben.«

Weit informierter zeigt sich das BMI auf jW-Anfrage, obgleich auch dort Angaben zur Altersstruktur »nicht möglich« sind und wegen der komplizierten Materie ein vollständiges Tableau nicht existiert. So viel immerhin: Im Trainerbereich finanziert das BMI rund 550 Chef-, Disziplin- und Nachwuchstrainer. Hinzu kommen 148 Trainerstellen an den bundesweit 16 Olympiastützpunkten, die von Berlin anteilig mitbezahlt werden. Außerdem finanziert das BMI bei den Spitzenverbänden 191 Stellen im Bereich Management, das heißt Sportdirektorinnen und -direktoren, Leistungssportreferenten, Wissenschaftskoordinatoren und Servicepersonal.

Nicht zu vergessen zusätzlich 50 Trainerstellen in den 15 Sportfördergruppen bei der Bundeswehr mit 800 Dienststellen für olympische Kaderathleten. Nicht zu vergessen das »Ski Team« beim Zoll, dem im vorigen Winter 66 Athletinnen und Athleten der Sportarten Ski Alpin und Nordisch, Biathlon und Nordische Kombination angehörten sowie acht Trainer, ein Techniker und ein Betreuer. Nicht zu vergessen den Part der Bundespolizei, die an ihren Sportschulen in Kienbaum und Bad Endorf aktuell 160 Kaderathleten fördert, plus 50 hauptamtliche Trainer. Noch etwas umfangreicher dürfte der Beitrag der Polizei in den 16 Ländern sein, die aktuell in Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, im Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Sportgruppen mit Kaderathleten unterhalten. Hinzu kommt bei Polizei, Bundeswehr und Zoll die Chance der beruflichen Ausbildung für Spitzensportler.

Keine Ziele

Wie viele Athleten und Trainer in Summe von diesem speziellen Fördersegment in den Ländern profitieren, hat niemand addiert. Darüber fehlt genauso eine Zusammenschau wie über alle Quellen, aus denen der olympische Leistungssport finanziell schöpft (siehe Spalte). Während Daten im Training akribisch und reichlich gesammelt werden, fehlt es beim Organisatorischen an Material. Eine Schwäche, die mit dem sportpolitischen »Überbau« in diesem Bereich seit Jahren korreliert. Was den Bundesbürgern die Jagd nach Medaillen wert ist, danach wurden sie nie gefragt. Welcher Rang dem Leistungssport im »Gesamtgefüge Sport« zukommt, ist nicht definiert. Womit der staatliche Geldfluss an keine verlässliche Grundlage gekoppelt ist und eher dem »Prinzip Goodwill« folgt. »Welches Ziel soll mit dem Spitzensport verfolgt werden?« formulierte der Bahnradolympiasieger und CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Lehmann aus Leipzig im März gegenüber jW. »Soll mit der Förderung die maximale Medaillenausbeute bei Olympischen Spielen angestrebt werden? Oder geht der politische Wille mehrheitlich dahin, irgendeine Gleichmacherei bei der Förderung anzustreben und immer nur irgendwie dabei sein zu wollen? Dann muss man das klar und für jeden verständlich aussprechen.«

Hintergrund: Schätzungsweise

Wie viel Geld genau derzeit in den Leistungssport fließt, weiß niemand. Feststeht, dass olympischer, nichtolympischer und Parasport am Tropf der öffentlichen Finanzierung hängen. Alle Bundesministerien zusammen unterstützen sämtliche Facetten des Sports gegenwärtig mit jährlich gut einer Milliarde Euro. Zum Vergleich: Die Fußballbundesliga nimmt derzeit 1,1 Milliarden Euro pro Saison mit dem Verkauf der TV-Rechte ein. Aus dem »Kernhaushalt Sport« finanziert das Bundesministerium des Innern das System mit 16 Olympiastützpunkten und 186 Bundesstützpunkten aktuell mit 282 Millionen Euro. Auch den Etat der Nationalen Antidopingagentur NADA stemmt das BMI mit knapp neun Millionen Euro fast im Alleingang. Die Bundeswehr berappt für den Leistungssport aktuell 57 Millionen Euro, die Bundespolizei 37 Millionen Euro, der Zoll für sein Skiteam an die drei Millionen Euro.

Hinzu kommt die Unterstützung der Stiftung Deutsche Sporthilfe von zuletzt 20,2 Millionen Euro sowie die Förderung der Länder, die in der Hauptsache den Nachwuchsleistungssport verantworten. Welche Summe sie beisteuern, ist für das föderative Geflecht mit Kosten für Personal, Trainingsstätten und die 43 »Eliteschulen des Sports« nicht errechnet. Erschwerend wirkt, dass die 16 Länder ihre Zahlungen für den Leistungssport nicht präzise ausweisen, sondern dieses Budget mit dem für den »allgemeinen Sport« vermengt wird. Der Spitzenreiter unter allen Ländern, Bayern, bringt es 2024 auf 110,6 Millionen Euro für den Sport.

Nach groben Schätzungen sollen die Ausgaben der Länder in summa diejenigen des Bundes für den Sport leicht übertreffen, sprich mindestens die Höhe der TV-Einnahmen des Profifußballs erreichen. Mehr als das Doppelte, 2,4 Milliarden Euro will übrigens die Europäischen Fußballunion UEFA mit der gerade laufenden Fußball-EM umsetzen. (am)

Großes Kino für kleines Geld!

75 Augaben für 75 €

Leider lässt die Politik das große Kino vermissen. Anders die junge Welt! Wir liefern werktäglich aktuelle Berichterstattung und dazu tiefgründige Analysen und Hintergrundberichte. Und das zum kleinen Preis: 75 Ausgaben der gedruckten Tageszeitung junge Welt erhalten Sie mit unserem Aktionsabo für nur 75 €!

Nach Ablauf endet das Abo automatisch, Sie müssen es also nicht abbestellen!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (4. Juli 2024 um 11:35 Uhr)
    Andreas Müller schreibt so, als wären die von Bundeswehr, Polizei und Zoll finanzierten Sportler unsere Sportler, denen wir zujubeln sollen. Aus einer Werbekampagne der Bundeswehr: »Wir kämpfen für die Freiheit. Und für Medaillen«; »Wir machen Karrieren. Und Olympia-Sieger«. In Litauen wird gerade eine fünftausend Mann starke Kampfbrigade der Bundeswehr aufgebaut. Wie kann man derart unbekümmert über Bundeswehr und Sportpolitik der Kriegspartei Deutschland schreiben, während wir mit Parolen wie »Zeitenwende«, »Kriegstüchtigkeit«, »Russland ruinieren« traktiert werden?

Mehr aus: Schwerpunkt