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Aus: Ausgabe vom 04.07.2024, Seite 1 / Titel
Lebensverhältnisse

Habeck präsentiert Armutszeugnis

Erster Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung: Krasse regionale Unterschiede der Lebensbedingungen ändern sich kaum
Von Arnold Schölzel
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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit dem Gleichwertigkeitsbericht 2024 am Mittwoch in Berlin

Einem Bericht der Bundesregierung zufolge gibt es bei den Lebensverhältnissen in Deutschland immer noch große regionale Unterschiede. Das wenig überraschende Ergebnis des am Mittwoch vom Kabinett beschlossenen »Gleichwertigkeitsberichts 2024«, der Daten aus den 400 Kreisen und kreisfreien Städten verarbeitet, besagt zum Beispiel zum besonders wichtigen Kriterium der Wirtschaftsleistung: Zwischen den wirtschaftlich stärksten und den schwächsten Regionen liegen Welten. Wörtlich heißt es in dem 226-Seiten-Dokument, das von den beiden Bundesministerien für Wirtschaft und für Inneres erarbeitet wurde: »Ausreißer nach oben sind vor allem Regionen, in denen große Industrieunternehmen ansässig sind (zum Beispiel Wolfsburg, Ingolstadt, Mainz oder München).« Am unteren Ende der Skala befinden sich demnach unter anderem Regionen im Saarland und in Rheinland-Pfalz oder auch an der Nord- und Ostsee sowie die überwiegende Zahl der ostdeutschen Kreise. Konkret räumt der Bericht ein: »So ist die Spannweite zwischen Wolfsburg als kreisfreier Stadt mit dem höchsten (153.538 Euro) und dem Erzgebirgskreis mit dem geringsten (56.698 Euro) Bruttoinlandsprodukt je erwerbstätiger Person enorm.«

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ließen auf ihrer gemeinsamen Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts in Berlin solche Zahlen beiseite. Insgesamt hat sich die im Artikel 72 des Grundgesetzes als Staatsziel vorgegebene »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet« laut Habeck »verbessert«. Faeser lobte die Fördermaßnahmen der Bundesregierung für zurückbleibende Gebiete als »Heimatpolitik«. »Wir« brauchten »starken Zusammenhalt« angesichts von »Extremismus, Terrorismus und russischer Aggression«. Habeck betonte, dass es bei »Gleichwertigkeit« um eine »politische Interpretation« gehe. Er hob hervor, dass es bei 27 von 38 untersuchten Indikatoren Annäherungen gebe. Die Indikatoren waren: 16 wirtschaftliche, zwölf gesellschaftliche wie Demographie, Anteil arbeitsloser Ausländer oder Anzahl der Bezieher von Mindestsicherungen. Acht Indikatoren galten Infrastruktur und Daseinsvorsorge wie Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen oder Schwimmbädern sowie sechs zu Klima und Umwelt – von Feinstaub- bis Ozonbelastung. Bei sieben Kategorien wie dem Anteil der Einzelpersonenhaushalte, Wohngebäudedichte oder dem Anteil alter Menschen an der Bevölkerung nahmen die Unterschiede zu.

Insgesamt ist das Ergebnis mager: Selbst im Berichtsjargon ist die Rede von »großen Herausforderungen« vor allem für strukturschwächere Regionen. Gemeint sind in erster Linie schrumpfende Gebiete, das heißt fast ganz Ostdeutschland. Das wuchs zwar wirtschaftlich von 2012 bis 2021 um 30 Prozent, die stärksten Wirtschaftsregionen, die im Westen liegen, erreichten aber auch einen Zuwachs von 22 Prozent. Der Abstand verringert sich demnach minimal. Habeck nannte den demographischen Wandel »besorgniserregend«.

Der Bericht enthält neben der Auswertung von 31.000 Befragungen zur Zufriedenheit auch Daten zum »Gesamtdeutschen Fördersystem für strukturschwache Regionen« (GFS) seit 2020. Demnach lag das GFS-Fördervolumen 2022 bei 4,2 Milliarden Euro. Davon floss wenig mehr als die Hälfte in ostdeutsche Kreise, relativ hohe Zahlungen gingen auch in Regionen Norddeutschlands, ins Ruhrgebiet, nach Rheinland-Pfalz, ins Saarland sowie in das bayerische Grenzgebiet zu Tschechien.

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  • Leserbrief von E. Rasmus (4. Juli 2024 um 15:57 Uhr)
    Danke für die Kommentierung, zu der ich illustrierend bemerken darf, dass bereits durch den Privatbesitz an Produktionsmitteln ein Einheitlichkeitsziel infolge Konkurrenz sich als Illusion und somit von vornherein lügenhaft, sprich verschleiernd das ganze Grundgesetz als Grundgesetz des Kapitalinteresses, gedruckt steht. Lenin hatte zu der »Losung über die Vereinigten Staaten von Europa« u. a. herausgearbeitet, dass eben die Konkurrenz eine einheitliche Entwicklung ausschließt, sondern Ungleichheit mit der Profitgier fördert. Es handelt sich um ein reaktionäres Konstrukt. Dies trifft logischerweise auf die Innenpolitik wirtschaftlich genauso zu. Nicht umsonst, wurde das Wirtschaftsgebiet der zur Halbkolonie vereinnahmten Deutschen Demokratischen Republik besonders auch mit den Instrumenten der Treuhand buchstäblich nachhaltig plattgemacht. Und das trifft auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu – nicht zuletzt seien hier das Gesundheitswesen, wie die geistig-kulturelle und sportliche Lebensgrundlage erwähnt. Ironisch betrachtet bleibt es Tatsache, an Einkommen einsparen zu können, auch wenn es sich korrekt um Diebstahl handelt. Und so sich hier und da Aussichtstürme östlich herausgebildet haben, bleibt die Frage, ob damit nicht außenpolitisch wirtschaftlich geräubert worden ist als Antwort stehen.
  • Leserbrief von Wilfried Schubert aus Güstrow (4. Juli 2024 um 11:39 Uhr)
    Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gibt Artikel 74 des Grundgesetzes vor. Davon ist Ostdeutschland, fast 34 Jahre deutscher Einheit, trotz aller Beschwörungen, noch weit entfernt. Deutlich zeigt sich das bei den 21.229 Altersrentnern. Während der westdeutsche Altersrentner monatlich 1.605 Euro Rente erhält, sind es beim Ostdeutschen nur 1.403 Euro. Immerhin, jährlich 2.424 Euro weniger. Bei den Monatsgehältern erreicht der Osten gerade 82 Prozent der Gehälter West. Nur bei den monatlichen Gehältern der Abgeordneten des Bundestages wird der Osten nicht benachteiligt. Sie belaufen sich einheitlich auf 11,227,20 Euro plus 5.051,54 Euro Aufwand. Unter den deutschen DAX-Unternehmen befindet sich kein ostdeutsches. Kaum Ostdeutsche sind Chefs in Führungspositionen. Aus der aktuellen Situation ergibt sich zwangsläufig die Frage: Sind gleichwertige Lebensverhältnisse überhaupt gewollt?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (3. Juli 2024 um 21:40 Uhr)
    Armutszeugnis für wen oder was? Ich finde den demographischen Wandel von Herrn Habeck auch besorgniserregend: Der wird immer älter.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (3. Juli 2024 um 20:47 Uhr)
    Wenn schon eine berechtigte Kritik ist, dann aber richtig: Habeck präsentiert stolz Armutszeugnis, das wäre mehr gerecht für die Sache gewesen.

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