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Aus: Ausgabe vom 10.07.2024, Seite 12 / Thema
Literatur und Politik

»Alle Macht den Räten!«

»Unbändiger Rebell mit dem gütigsten Herzen«. Zum 90. Todestag des Schriftstellers und Anarchisten Erich Mühsam
Von Helmut Donat
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Ein seltenes Beispiel der Kameradschaft. Erich Mühsam mit seiner Frau Zenzl (Mitte) in Todtmoos-Rütte im Schwarzwald, Anfang 1927

Erich Mühsam, am 6. April 1878 in Berlin als Spross einer jüdischen Familie geboren, wuchs als Sohn eines Apothekers in Lübeck auf. Sein Vater, 1887 bis zu seinem Tod 1915 Abgeordneter in der Bürgerschaft, genoss den Ruf eines geachteten Kaufmanns. Er war Mitglied der Lübecker Freimaurerloge »Zur Weltkugel«. Mit seiner Ehefrau Rosalie, geborene Cohn, soll er eine glückliche Ehe geführt haben, beruhend auf den Werten »Gerechtigkeit und Güte«. Für Erich, der im Unterschied zu seinen drei Geschwistern schon früh aus der Art schlug, galt das nur bedingt. Vater Siegfried machte aus seiner nationalliberalen Bismarck-Verehrung keinen Hehl. Sein Erziehungsstil beruhte auf Gehorsam und Disziplin, Strenge und Strafen mit dem Rohrstock. Auch in der Schule unangepasst, war Erich Sticheleien von Mitschülern ausgesetzt; die Lehrer züchtigten ihn und gaben ihm schlechte Noten. Mehrfach musste Erich die Klasse wiederholen. Offenbar fiel niemandem auf, dass er ein sehr begabter Schüler war. Dichten und Literatur begeisterten ihn. Um ihn zu disziplinieren, ließ der Vater ihn nicht einmal auf den elterlichen Bücherschrank zugreifen.

Ein Schulkonflikt veranlasst den jungen Mühsam, sich anonym und ironisch zu dem Fall im Lübecker Volksboten der SPD zu äußern. Die Sache kommt heraus. Erich muss die Schule verlassen, darf aber am Parchimer Gymnasium weitermachen, wo er die Mittlere Reife erlangt. In Lübeck absolviert er gemäß dem väterlichen Willen eine Lehre zum Apothekergehilfen. Erich steht der Sinn aber nach einem ganz anderen Leben; er wendet sich an den Journalisten- und Schriftstellerverein, veröffentlicht erste Gedichte und Artikel. Die Mutter erklärt sich bereit, seinen geheimen Wunsch zu unterstützen, ringt ihm aber die Zusage ab, erst seine Gehilfenprüfung abzulegen. Nach ihrem Tod und dem Ende der Lehrzeit 1899 verdingt Mühsam sich als Apothekergehilfe, zuletzt in Berlin.

Emanzipation von Bevormundung

Als er die »Neue Gemeinschaft«, auch »Orden vom wahren Leben« genannt, um die Brüder Heinrich und Julius Hart kennenlernt, hängt er seinen Beruf an den Nagel und bezeichnet sich 1901 als »professioneller deutscher Dichter«. Er besucht Ausstellungen, Lesungen, Theateraufführungen und Versammlungen und knüpft Kontakte zu Malern, Bühnenkünstlern und Schriftstellern, u. a. zu Bruno Wille, Wilhelm Bölsche, Peter Hille, Paul Scheerbart und Gustav Landauer, seinem großen Vorbild. Mit ihm verbindet ihn eine lebenslange Freundschaft. Landauer, 1892 Mitbegründer der Neuen Freien Volksbühne, betätigt sich auch auf politischem und publizistischem Gebiet. Als Befürworter eines sozialistischen Anarchismus und Anarchopazifismus ist er zugleich dessen wichtigster Theoretiker und Aktivist im Kaiserreich. Sein Ziel – die Emanzipation von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger gesellschaftlicher Bevormundung sowie die Entfaltung des einzelnen in einer freiheits- und friedensorientierten Gemeinschaft – trifft Mühsams Vorstellung von der Zukunft sehr genau. Mit dem Anarchisten Albert Weidner gründet er die Wochenschrift Der arme Teufel und macht mit seinen Beiträgen schon bald von sich reden, so mit einem satirischen Gedicht, in dem er sich über die Vorurteile gegenüber dem Anarchismus lustig macht:

»War einst ein Anarchisterich, / der hatt den Attentatterich. / Er schmiss mit Bomben um sich rum; / es knallte nur so: bum bum bum.«

Die Polizei sieht in dem Autor einen »ultralinken Revolutionär auf allen Gebieten«, dem selbst die SPD nicht radikal genug und der »geistig nicht normal« sei. Mühsam steht fortan unter ständiger Beobachtung, was ihn aber nicht einschüchtert. Mit der Schrift »Die Homosexualität« beteiligt er sich am Kampf gegen den Paragraphen 175. 1904 und 1908 bringt er seine in den Jahren zuvor publizierten Gedichte heraus. Der Bespitzelung entzieht er sich durch Aufenthalte in der Schweiz. Doch auch in seinen »Wanderjahren«, die ihn unter anderen zur Siedlungsgemeinschaft auf den Monte Verità, nach Ascona, Wien, Paris, Lindau etc. führen, kommt er auf keinen grünen Zweig. Stets knapp bei Kasse und oft unterernährt, führt er ein unstetes, ungesundes Leben, das ihn mehrfach in prekäre Lagen bringt – und ihn zu Aufenthalten in Sanatorien nötigt. Trotz großer Zweifel an seiner Lebensführung zahlt der Vater die Geldstrafe von 500 Mark, die seinem Sohn für ein angeblich zum Klassenhass aufreizendes Flugblatt auferlegt wird.

1908 tritt Mühsam dem von Landauer gegründeten »Sozialistischen Bund« (SB) bei, der sich basisdemokratisch organisiert und die »Anarchie im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit« anstrebt. Inzwischen häufig in München, ruft Mühsam dort im März 1909 eine Ortsgruppe des SB ins Leben, zu der sich auch der Schriftsteller Leonhard Frank gesellt. Bei einer Veranstaltung in den Münchner Zentralsälen zu »Anarchismus – Wohlstand für alle« attackiert Mühsam die Sozialdemokratie; weder trete sie für die Arbeiterschaft noch für den revolutionären Sozialismus ein. Das SPD-Organ Münchener Post attestiert ihm daraufhin, »ein bedauernswerter und kranker Mensch« zu sein. Aber der Beschimpfte hält an seiner Kritik an bürokratischen Erscheinungsformen im Parteiapparat fest und verspottet die Sozialdemokratie mit den Versen:

»War einmal ein Revoluzzer, / im Zivilstand Lampenputzer, / ging im Revoluzzerschritt / mit den Revoluzzern mit. / Und er schrie: ‚Ich revolüzze!‘ / Und die Revoluzzermütze / schob er auf das linke Ohr, / kam sich höchst gefährlich vor.«

Zerstörer der Heimat der Weißwürste

Im Herbst 1909 landet Mühsam im Charlottenburger Gerichtsgefängnis. Er soll sich an einem Sprengstoffanschlag in München beteiligt haben. Zwar kommt er als Täter, weil zur Zeit der Detonation in Berlin, nicht in Frage und ist schon bald wieder frei; aber bei dem Prozess im Sommer 1910 gehört er zu den Mitangeklagten der Gruppe »Tat«, die als Geheimbund Anschläge auf diverse öffentliche Gebäude geplant haben soll, ein Vorwurf, der sich als haltlos erweist. Mühsam wird freigesprochen, aber die über ihn in der Presse verbreiteten Gerüchte verfehlen ihre Wirkung nicht. In einem Simplicissimus-Flugblatt behauptet der Schriftsteller Ludwig Thoma, Mühsams Ziel sei es, »den Erdkreis durch Mord und Brand zu verwüsten, die Quelle des Bieres zu verstopfen, die Heimat der Weißwürste zu zerstören«. Am ärgsten aber ist, dass man Mühsam in Verbindung mit Homosexualität bringt. Verleger und Zeitschriften boykottieren ihn fortan. Als selbst ein Protest von Hermann Bahr, Frank Wedekind, Heinrich und Thomas Mann nichts hilft, macht Mühsam aus der Not eine Tugend und gibt sein eigenes Blatt heraus, in dem er sämtliche Artikel selbst verfasst. Die erste Nummer des Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit erscheint im April 1911. ­Darin will er mitteilen, was er »als Dichter, als Weltbürger und als Mitmensch auf dem Herzen hat«. Dazu gehören die Publikation eigener Gedichte und Theaterkritiken sowie aufklärende Beiträge über gesellschaftliche Missstände, Militarismus und Krieg, Justiz und Strafvollzug, Polizeiwillkür und Theaterzensur.

Nach Beginn des Ersten Weltkriegs stellt Mühsam das Erscheinen des Kain sofort ein. Er ist zwar nicht bereit zu schweigen, aber unter dem nun geltenden Ausnahmerecht sieht er keine Chance, sich als Anarchist und Linkssozialist offen zu den Kriegsereignissen zu äußern. Ohnehin steht er im Fadenkreuz der militärischen Überwachungsstelle, die seine Korrespondenz bespitzelt und ihn veranlasst, seine Einschätzung des Kriegsverlaufs und der propagandistischen Presseberichterstattung für die spätere »Abrechnung« mit der »Großen Zeit« und den Kriegsenthusiasten in seinem Tagebuch festzuhalten. Während die meisten Vertreter des deutschen Geisteslebens den völkerrechtswidrigen Überfall auf Belgien und die Massaker an der belgischen Zivilbevölkerung in dem »Manifest der 93« als Kulturerrungenschaft des preußisch-deutschen Militarismus rechtfertigen, sieht sich Mühsam von einer »nationalen Einheitsfront« ausgegrenzt, der selbst kritische Kreise erliegen. Sie hegen keinen Zweifel an der Verteidigungslüge der deutschen Regierung; viele bis dahin wenig militäraffine Schichten wechseln ins bellizistische Lager über und lassen sich einreden, Deutschland müsse sich gegen die Aggression und Eroberungspläne des unter zaristischer Knute stehenden russischen Reichs schützen. Entsetzt registriert Mühsam, wie die satirische Zeitschrift Simplicissimus sich über Nacht zu den »tollsten Kriegshetzereien und den übelsten Schmähungen der gegnerischen Nationen« bekennt und ihre in den Jahrzehnten zuvor vertretenen Friedensstandpunkte als Lügen erscheinen lässt. In Konflikt gerät er zudem mit jenen »Patrioten«, die sich als Rechts- und Kriegssozialisten der Regierungslinie und dem »Burgfrieden« vorbehaltlos angeschlossen haben. Nur wenige aus dem Umfeld Mühsams wie Heinrich Mann und Frank Wedekind halten an ihren pazifistischen Standpunkten fest und plädieren für einen raschen Verständigungsfrieden.

Mühsams Tagebücher der nächsten 14 Jahre umfassen Tausende Seiten, geben Auskunft über viele Themen, auch über seine Liebesabenteuer, wozu er jede sich bietende Gelegenheit nutzt. Tiefere Gefühle spielen dabei kaum eine Rolle, außer bei der Schriftstellerin Emmy Hennings, der Puppenkünstlerin Lotte Pritzel oder der »hübschen Jüdin« Jenny Brünn aus Königsberg, die er heiraten will, was aber am Einspruch ihrer Eltern scheitert. Doch Mühsam weiß sich schnell zu trösten. Auch Zenzl Elfinger, die er im Oktober 1913 im Café Glasl anspricht, bedeutet ihm zunächst wenig. Anders aber als Erich weiß Zenzl: Er ist der Mann, den sie seit langem gesucht hat.

Mit Zenzl durch dick und dünn

Zenzl Elfinger, am 28. Juli 1884 geboren, stammt aus dem niederbayerischen Dorf Haslach im Hopfenanbaugebiet Hallertau. Sie verliert früh ihre Mutter, lebt ab 1895 mit dem Vater, der Stiefmutter und acht Geschwistern in prekären Wohn- und Arbeitsverhältnissen in München – und erwartet mit 17 Jahren ein Kind. Anders als bei Erich ist ihre Lage bestimmt von Vorurteilen über »gefallene Mädchen« und ledige Mütter. Am 16. Oktober 1902 bringt sie ihren Sohn Siegfried zur Welt. Da sie noch minderjährig ist, übernimmt ihr Vater die Vormundschaft. Doch als der Vater – drei Jahre nach dem Tod der Stiefmutter – im Alter von nur 54 Jahren stirbt, muss die verwaiste Zenzl ihren Sohn der Familie des Kindsvaters überlassen, denn mit ihrem mageren Verdienst als Näherin kann sie ihn nicht vorsorgen. Nach der Trennung von ihrem Kind scheint sie für einige Zeit den Halt zu verlieren, wechselt wie verloren von einer Wohn- und Arbeitsadresse zur anderen, bis sie 1905 dem Maler und Bildhauer Ludwig Engler begegnet, mit dem sie 1908 zusammenzieht. Durch ihn lernt Zenzl, die sich besonders von der Literatur angezogen fühlt, die Schwabinger Künstlerkreise kennen. Aber ihre wirtschaftliche Not ist groß, und als Mühsams Beziehung zu ihr enger wird, beginnt er, obwohl selbst von Hunger und Geldsorgen geplagt, ihr zu helfen.

Im September 1915 heiraten Zenzl und Erich Mühsam und gehen fortan durch dick und dünn – wenn es in ihrer Ehe auch hin und wieder mächtig kracht. Während Erich Mühsam sich vordergründig zur freien Liebe bekennt und danach handelt, tritt Zenzl für eheliche Treue ein. Die Liebe aber übersteht jede Krise, und man ist geneigt von ihrer Ehe zu sagen: Er ist der Kompliziertere von beiden, und sie wundert sich stets, dass er so glücklich verheiratet ist.

Durch den Tod von Mühsams Vater und das Erich zufallende Erbteil bessert sich ihre Lage. Sie nehmen Zenzls 13jährigen Sohn Siegfried zu sich.

Zenzl, groß und schlank, mit ländlicher Haartracht und urwüchsigem Dialekt, beeindruckt durch ihre liebenswürdig-ungezwungene Art. Treffend hat es der mit beiden eng befreundete dänische Dichter Martin Andersen Nexø beschrieben: »Von außen waren sie so verschieden wie überhaupt möglich: sie durch und durch Land und freier Himmel, er die Großstadt mit Ästhetik und Bücherlust. Und dennoch passten sie zusammen, bildeten ein seltenes Beispiel der Kameradschaft. Sie verließ ihre Küche ebenso ungern wie er sein Studierzimmer; ihre Mahlzeiten waren ebenso anregend und würzreich wie seine Anmerkungen; ihr Geist war ebenso revolutionär wie seiner.«

Der Krieg fordert derweil immer mehr Opfer. Mit Glück schrammt Mühsam, unerwartet aufs Neue gemustert, an der Einberufung vorbei. In den Großstädten kommt es im Frühsommer 1916 zu Lebensmittelkrawallen und Plünderungen. In München gehen Polizisten auf Pferden säbelschwingend gegen die Demonstrierenden vor. Den Mühsams gelingt es, zu fliehen.

Erich Mühsam will alle Kriegsgegner vereinen und mit ihnen einen Weltbund für den Frieden errichten. Er spricht viele Pazifistinnen und Pazifisten an: die Frauenrechtlerinnen Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, Annette Kolb, René Schickele, Heinrich Mann und Gustav Meyrink, Ferdinand Hardekopf und Maximilian Harden, die Professoren Ernst von Aster und Edgar Jaffé. Des weiteren trifft er sich mit Hugo Haase, Franz Mehring, Karl Liebknecht und Landauer.

Als Liebknecht am 1. Mai 1916 wegen seiner Forderung »Schluss mit dem Krieg! Wir wollen Frieden!« verhaftet wird, erklärt Mühsam sich mit ihm in der Bremer Bürgerzeitung solidarisch und wendet sich an die Bremer Linken um Johann Knief. Ebenso sucht er Kurt Eisner auf und nimmt an dessen Treffen und Diskussionsabenden mit Kriegsgegnern im »Goldenen Anker« teil. Während Mühsam die Februar- und Oktoberrevolution in Russland sowie die Arbeiter- und Soldatenräte begeistert begrüßt, hält es Eisner mit dem neuen Ministerpräsidenten Alexander Kerenski, der den Krieg fortführen will.

Ende Januar 1918 unterstützt Mühsam Eisners Massenstreik gegen den Krieg und die Rüstungsindustrie. Während Eisner und Ernst Toller im Gefängnis landen, bleibt Mühsam zunächst unbehelligt. Als er die Versammlungen im »Goldenen Anker« an Eisners Stelle fortsetzt, verbieten ihm die Militärs jedwede politische Betätigung. Mühsam hält sich nicht daran. Man untersagt ihm den Aufenthalt in München, schickt ihn in die Verbannung nach Traunstein, wo er verschärfter Überwachung unterliegt.

Hoch die Revolution

Am 7. November 1918 nehmen Zenzl und Erich auf der Theresienwiese an der Friedenskundgebung von etwa 60.000 Menschen teil. Sie schließen sich einem Arbeiterzug an, der die Türkenkaserne in der Maxvorstadt ansteuert. Erich stürmt mit geschwungenem Regenschirm auf die Tore zu, feuert die versammelte Menge an und fordert die Leute in der Kaserne auf, sich auf die Seite der Revolutionäre zu schlagen. Zenzl erinnert sich: »Wie wir hinkamen, wurde gerade mit Gasgranaten geworfen, (…) damit die Soldaten nicht in die Kaserne hineinkönnen und die Grenadiere nicht heraus. Es war aber sogenanntes Reizgas (…). Ich sprang auf das Verdeck des Autos, nahm die rote Fahne und schrie ›Hoch der Friede und die Revolution!‹ (…) Und dann zogen wir Mühsam rauf, der eine wundervolle Rede an die Soldaten richtete«, die Dynastie für abgesetzt erklärte und den Umsturz in die Worte kleidete: »In diesem Augenblick proklamieren wir Bayern zur Republik, geleitet von seinen Arbeiter- und Soldatenräten.« Auf sie sowie auf die Bauernräte gestützt soll ein neues Gemeinwesen entstehen und die Vergesellschaftung von Wirtschaft und Schlüsselindustrien herbeigeführt werden.

Doch es kommt anders. Die Mehrheitssozialdemokraten unter Friedrich Ebert gehen mit dem kaiserlichen Offizierskorps ein folgenschweres Bündnis ein. Sie malen die Hydra der Anarchie und des Bürgerkriegs an die Wand, geben vor, die junge Republik vor dem Chaos zu bewahren und gezwungen zu sein, das Land vor der »bolschewistisch-proletarischen Diktatur« zu retten und sich auf das Militär stützen zu müssen. Gustav Noske erweist sich dabei mit dem handlungsleitenden Feindbild »Bolschewismus« und seinem »unterschwelligen Rassismus« (Wolfram Wette) als »wertvollster Gehilfe« (August Siemsen). Neue Freiwilligenformationen stellen sich als zuverlässige Truppen dem revolutionären Prozess entgegen. In ihrer Angst, für ihre Kriegspolitik zur Verantwortung gezogen zu werden und ihren Einfluss zu verlieren, greifen Ebert und Noske auf die Feinde der Republik und den überkommenen Militärapparat zurück; sie liefern die »neue Zeit« den nationalistisch und gewalttätig gesinnten Heerführern und Offizieren aus und setzen sie auf einen Thron ohne Monarchen. Gegen Vorträge über die deutsche Kriegsschuld werden Panzerwagen aufgefahren, Unruhen blutig und gnadenlos niedergeschlagen, Mordkomplotte geschmiedet und geduldet. Erlogene Berichte über Spartakistenaufstände müssen für Metzeleien herhalten, und Revolutionäre werden wegen ihrer jüdischen Herkunft von reaktionären Kreisen diffamiert. Mühsam sieht das Unheil kommen, wehrt sich in dem ab 10. Dezember 1918 wieder erscheinenden Kain gegen den »großen Schlag«, zu dem die »vereinigte Reaktion« ausholt. Auch Zenzl und er sind gefährdet. Auf ihrem Heimweg pfeifen ihnen in der Nacht des 26. Dezember 1918 die Kugeln um die Ohren.

Nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Mitte Januar 1919 erschießt ein Offizier aus dem Umfeld der antisemitisch-völkischen Thule-Gesellschaft den bayerischen Ministerpräsidenten Eisner am 21. Februar 1919 auf offener Straße. Gegen die sechs Wochen später ausgerufene »Räterepublik Baiern« lässt Noske Truppen marschieren. Die späteren NS-Führer General Franz Ritter von Epp und Major Konstantin Hierl bewähren sich bei dem Rachefeldzug in besonderem Maße. Landauers viehische Ermordung Anfang Mai 1919, die Erschießung von in Verdacht geratenen katholischen Gesellen und russischen Kriegsgefangenen bleiben ungesühnt. Mühsam, der sich vehement für einen Neuanfang unter dem Motto »Alle Macht den Räten« eingesetzt hat, entgeht knapp dem Todesurteil. Ein Münchner Standgericht verurteilt ihn im Juli 1919 zu 15 Jahren Festungshaft.

Während er in seiner Zelle den widrigen Umständen trotzt und Gedichte, ein Drama sowie politische Berichte schreibt und außerdem Tagebuch führt, scheut Zenzl keine Mühe, ihm und anderen politischen Gefangenen zu helfen und ihre Haftbedingungen erträglicher zu machen. Erich weiß ihre »unbestechliche Hingabe« zu schätzen und stellt fest: »Welche Perle von Frau habe ich!« Sie trägt dazu bei, seinen Widerstandsgeist zu stärken. Mühsam arbeitet auf Hochtouren. Im August 1919 verfasst er das Gedicht »Der Gefangene«, dessen erste Strophe lautet:

»Ich hab’s mein Lebtag nicht gelernt, / mich fremden Zwang zu fügen. / Jetzt haben sie mich einkasernt, / von Heim und Weib und Werk entfernt. / Doch ob sie mich erschlügen: / Sich fügen heißt lügen!«

Im Zuge einer Amnestie kommt Mühsam Weihnachten 1924 frei. Sofort setzt er sich für die Opfer der Klassenjustiz ein, engagiert sich für Max Hölz sowie in der Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe und gibt die anarchistische Monatszeitschrift Fanal heraus, in der er seine Ideen propagiert und die politischen Ereignisse kommentiert. »Sein Herz«, schreibt Mühsams Freund und Weggefährte Rudolf Rocker, »empörte sich gegen jeden wie immer gearteten Zwang; seine Dichterträume gaben seinem Freiheitsgefühl eine besondere Note. (…) Mit einer geradezu schwärmerischen Begeisterung glaubte er an das angeborene Gute und Erhabene.«

Kompanie auf verlorenem Posten

Mit großer Sorge verfolgen Erich und Zenzl die Entwicklung der Weimarer Republik nach rechts. Seit 1928 unterstützt er insbesondere die antimilitaristisch-anarchosyndikalistische Freie Arbeiterunion. Seine Kritik an den Brüningschen »Notverordnungen« Anfang Juni 1931, von ihm als »Dokument der Gewissenlosigkeit und Ruchlosigkeit« bezeichnet, führt zum Verbot des Fanal bis zum 1. November. Vehement tritt er für die kleinen Leute und ein Ende des »Bruderzwistes« der Arbeiterparteien ein, der dem erstarkenden Faschismus in die Hände spielt.

Wegen seiner Gedichte und seines Kampfes gegen den drohenden Faschismus ist Mühsam den Nazis seit langem ein Dorn im Auge. Er bietet ihnen die Stirn, verhöhnt sie und warnt vor ihnen, wie schon in dem Gedicht »Mignon«, das er 1925 unter dem Pseudonym »Jolly« in dem von Hellmut von Gerlach geleiteten linksrepublikanisch-pazifistischen Wochenblatt Die Welt am Montag veröffentlicht hatte:

»Kennst du das Land, wo die Faschisten blühn, / im dunklen Laub die Diebslaternen glühn, / ein Moderduft von hundert Leichen weht, / die Freiheit still und hoch der Duce steht? / Kennst du es wohl? / Dahin! Dahin / möcht ich mit dir, mein Adolf Hitler ziehn!«

Mühsam weiß, wie ernst es die Nazis meinen. Bei der letzten Versammlung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Februar 1933 ergreift er das Wort. Anders als Carl von Ossietzky spricht er von der Naziherrschaft nicht als von einer vorübergehenden »Saison«. »Und ich sage euch, dass wir (…) uns alle nicht wiedersehen. Wir sind eine Kompanie auf verlorenem Posten. Aber wenn wir hundertmal in den Gefängnissen verrecken werden, so müssen wir heute noch die Wahrheit sagen, hinausrufen, dass wir protestieren. Wir sind dem Untergang geweiht.«

Lange vor 1933 hatten die Nazis mit ihrer gesamten Presse gegen Mühsam gehetzt, ihn als »Geiselmörder« geschmäht, und Joseph Goebbels geiferte: »Dieses rote Judenaas muss krepieren!« Alfred Kantorowicz hingegen würdigt Mühsam als »den unbändigen Rebell mit dem gütigsten Herzen«.

Ende Februar 1933 gerät Mühsam in »Schutzhaft«. Es folgen Aufenthalte unter unmenschlichen Bedingungen und Qualen in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Am 10. Juli 1934 wird Erich Mühsam von SS-Leuten im KZ Oranienburg ermordet.

Zenzl Mühsam gelingt es, einen großen Teil seines Nachlasses zu retten. Doch ihr weiterer Weg gleicht einer Odyssee. Die Flucht in die UdSSR führt wegen angeblich »konterrevolutionärer Aktivitäten« und ihrer Kontakte zu anarchistischen Freunden im Ausland sowie zu Trotzkisten in sowjetische Gefängnisse, Arbeits- und Straflager sowie in die Verbannung – nahezu für zwei Jahrzehnte. Erst Ende Juni 1955 trifft sie im Alter von fast 71 Jahren in Ostberlin ein. Die DDR-Regierung ehrt sie mit Medaillen und gibt ihr eine sorgenfreie Rente, vermag sich mit dem Anarchisten Mühsam jedoch nicht vollends anzufreunden. Entgegen Zenzls steter Weigerung, die Rechte am Werk ihres Mannes der Akademie der Künste zu übertragen, geschieht dies eine Woche vor ihrem Tod am 10. März 1962 unter ungeklärten Umständen.

Zum 90. Jahrestag seines Todes hat Rita Steininger die Biographie »›Weil ich den Menschen spüre, den ich suche‹ – Zenzl und Erich Mühsam« vorgelegt. Sie würdigt darin sein Lebenswerk und führt zugleich das mutige und selbstbewusste Wirken seiner Ehefrau Zenzl vor Augen. Steiningers Buch über Zenzl und Erich Mühsam stützt sich auf viele unveröffentlichte Archivfunde, zeichnet das politische Engagement der beiden sowie die Merkmale einer ungewöhnlich starken Liebe nach. Wie innig die beiden miteinander verbunden gewesen sind, überliefert Zenzl uns mit den Worten: »Jeder hinterlässt einen leichten Schatten. Aber Erich, der steht neben einem, der geht neben einem, der bleibt da.«

Rita Steininger: Weil ich den Menschen spüre, den ich suche – Zenzl und Erich Mühsam. Donat Verlag, Bremen 2024, 264 Seiten, 19,80 Euro

Am 10. Juli findet in der Villa Leon in Nürnberg eine szenische Lesung mit Texten von Zenzl und Erich Mühsam statt. Am 28. Juli, Zenzl Mühsams 140. Geburtstag, stellt Rita Steininger in der Seidlvilla in München ihr Buch vor.

Gustav Landauer Initiative (Hg.): Erich Mühsam Notizbücher. Berlin 2023, zwei Bände, je 62 Seiten. Gegen eine Spende bei der Gustav Landauer Initiative erhältlich: gustav-landauer.org

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