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Aus: Ausgabe vom 01.08.2024, Seite 8 / Inland
Verbotspolitik

»Ich finde die Frage blöd«

Berlin: Fraktionen von CDU und SPD wollen »rotes Dreieck« verbieten. VVN-BdA erhebt Einspruch. Ein Gespräch mit Markus Tervooren
Interview: Gitta Düperthal
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Nur echt mit rotem Winkel: Die Fahne der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (Berlin, 12.1.2020)

Die Berliner Abgeordnetenhausfraktionen von CDU und SPD fordern den Senat auf, sich auf Bundesebene für ein sofortiges Verbot des »roten, nach unten gekehrten Dreiecks« einzusetzen. Die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, VVN-BdA, wendet sich in einem offenen Brief gegen diese ahistorische Umdeutung des roten Winkels sowie gegen die Verbotsdrohung. Worum geht es Ihnen?

Wir nennen das »rote Dreieck« den roten Winkel. Im deutschen Faschismus zwischen 1933 und 1945 mussten verfolgte Gewerkschafterinnen, Kommunisten, Sozialistinnen, Sozialdemokraten und andere Personen, in denen die Faschisten politische Gegner sahen, in den KZ dieses Symbol an ihren Häftlingsanzügen tragen. Nach der Befreiung wurde der rote Winkel zum Zeichen des Widerstands. Überlebende Verfolgte und Widerstandskämpferinnen trugen ihre Fahne mit dem roten Winkel. Wir tragen sie heute noch im Kampf gegen alten und neuen Faschismus, gegen Antisemitismus und Rassismus. Das »rote Dreieck« befindet sich auf Gedenksteinen und Erinnerungsorten für die Opfer des NS-Terrors. CDU- sowie SPD-Politikerinnen und Politiker haben dies, völlig geschichtsvergessen, nicht im Blick gehabt. Sie bezeichnen das »rote Dreieck« nun als »Hamas-Dreieck«, wollen es »verbieten«.

Wie werten Sie das?

Die Genese dieses Symbols hat zwei Aspekte. Zum einen: Die Hamas eignete es sich nach dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 an. Im Internet, etwa auf Tik Tok, sind jüdische Menschen mit dem »roten Dreieck« gekennzeichnet, die gequält, erschossen oder in Kampfhandlungen gezeigt werden. Die Hamas oder deren Sympathisanten haben sich das Zeichen nicht ausgedacht. Bei virtuellen Ballerspielen werden Gegner so gekennzeichnet. Wir lehnen das ab, finden es menschenverachtend. Zum anderen: Das »rote Dreieck« tauchte als Feindkennzeichnung beim palästinasolidarischen Aktivismus auf, etwa nach der Besetzung der Humboldt-Universität; in Kreuzberg oder Neukölln als Graffiti. Wir finden es falsch, dass Aktivistinnen und Aktivisten diese antisemitische Symbolik verwenden; möchten sie auffordern, es zu unterlassen. Mörderische Computerspiele umzudeuten, ist zynisch: Sowohl im Hinblick auf die 1.200 ermordeten Israelis, als auch auf die palästinensische Bevölkerung im kalkulierten Krieg in Gaza.

In erster Linie werden israelische Besatzungssoldaten und Panzer im völkerrechtswidrig besetzten Gazastreifen in Videos mit dem Symbol gekennzeichnet. Was hat das mit Antisemitismus zu tun?

Ich finde die Frage blöd. Uns geht es um die Verwendung hier in Deutschland, an Kneipen und Institutionen. Auch: Was haben Privatpersonen in einem Kibbuz damit zu tun? Und: Soldatinnen und Soldaten sind nicht immer freiwillig im Krieg. Wir beziehen uns auf die friedliebenden Kräfte wie »Standing Together«.

Der rote Winkel ist Teil des VVN–BdA-Logos. War es Politikerinnen und Politikern nicht bewusst, dass es sich um ein Zeichen des politischen Widerstands aus der Nazizeit handelt?

Ich glaube, dass sie einfach nicht darüber nachgedacht haben. Was ich gerade im Fall der SPD bedenklich finde: Hatten sie keinen Geschichtsunterricht in der Schule, keine politische Bildung? Man insistierte, es gelte auf den Kontext zu achten, in welchem das Symbol gezeigt wird. Sollen darüber im Einzelfall etwa Polizeikräfte vor Ort entscheiden? Obwohl gerichtsfest entschieden war, dass man »Höcke ist ein Nazi« sagen und schreiben darf, hatten diese Plakate mit ebendiesem Spruch eingezogen – wohl, weil sie es nicht besser wussten.

Was wäre ein historisch angemessener Umgang?

Statt des voreiligen, wahnsinnigen Unterfangens eines Verbots hätten Politikerinnen und Politiker öffentlich zum roten Winkel aufklären können. Wir sind entsetzt, dass sie so weitreichende Schlüsse gezogen haben, ohne sich zuvor wissenschaftliche Expertise einzuholen. Viele Institutionen betreiben kompetent Erinnerungspolitik, man hätte sie zu Rate ziehen können.

Markus Tervooren ist Geschäftsführer der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e. V.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (1. August 2024 um 08:27 Uhr)
    Es zeigt ein weiteres Mal sehr deutlich, wie ideologisch und moralisch hohl diese SPD ist, geschichtsvergessen und opportunistisch. Wie müssen sich angesichts dessen die wenigen noch lebenden alten SPD-Genossen fühlen, die selbst noch im KZ saßen und die danach den roten Winkel öffentlich trugen, zur Erinnerung und Mahnung?

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