Geschichtspolitisches Wimmern
Von Arnold Schölzel
Am 25. April veröffentlichte das russische Außenministerium unter der Überschrift »80 Jahre nach dem großen Sieg: Der Schatten des Nationalsozialismus bedeckt Europa erneut« ein umfangreiches Dokument, das Fakten und Bewertungen zur Geschichtspolitik in der EU und den europäischen NATO-Staaten enthält. Zu Beginn heißt es darin: »Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA und die westeuropäischen Länder äußerst interessiert daran, Bedingungen zu schaffen, die eine Rückkehr der ehemaligen Sowjetrepubliken in den Einflussbereich Russlands unmöglich machen würden. In diesem Zusammenhang schürten sie aktiv revanchistische Stimmungen in den neu gegründeten Staaten, insbesondere in Litauen, Lettland und Estland, wo die Beschönigung des Nationalsozialismus heute in den Rang einer Staatsideologie erhoben wurde.« Das Papier geht zudem ausführlich auf Staaten wie Italien, Frankreich, Norwegen sowie Deutschland ein und weist auf das Fortbestehen von Traditionen der Kollaboration mit dem deutschen Faschismus beziehungsweise des Wiederauflebens faschistischer Ideologie hin.
Am Freitag nahm FAZ-Redakteur Reinhard Veser zu dem Text im Leitartikel des Blattes Stellung: »Wie so viele Produkte der russischen Propaganda ist er eine Aneinanderreihung von Lügen und Halbwahrheiten. Es wäre indes ein Fehler, sie deshalb nicht ernst zu nehmen. Denn das Regime betrachtet die Geschichte als Front in seinem hybriden Krieg gegen den Westen. Aus Sicht des Kremls ist die Durchsetzung seiner Version der Vergangenheit eine Frage der nationalen Sicherheit.«
Das erscheint angesichts des nichthybriden, sondern höchsten realen Stellvertreterkrieges in der Ukraine und angesichts westeuropäischer Hochrüstung, die von antirussischer Propaganda wie in Kriegszeiten begleitet wird, verständlich. In der deutschen Geschichtspolitik gibt es gegenwärtig immerhin noch Lippenbekenntnisse zum Gedenken an die sowjetischen Opfer des Völkermordes, die aber durch Androhung von Rauswurf diplomatischer Vertreter zugleich als solche kenntlich werden. Veser räumt ein, dass der »Große Vaterländische Krieg« für viele Russen »das wichtigste Ereignis ihrer Geschichte« sei: »Das liegt nicht an staatlicher Propaganda: Angesichts der unvorstellbaren Greueltaten der deutschen Besatzer und der großen Zahl gefallener Soldaten der sowjetischen Armee entspringt das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs einem echten Bedürfnis der Gesellschaft.«
Dem lässt der FAZ-Autor jedoch die Rücknahme dieser Aussage folgen: »Aber Putins Regime macht das Kriegsgedenken zu einer Demonstration eines großrussischen Machtanspruchs: Alle sowjetischen Opfer werden als Russen vereinnahmt, während aus dem Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über Deutschland der Anspruch einer Vorherrschaft Moskaus über den Osten Europas abgeleitet wird.« Das ist eine Propagandalüge. Er versucht gar nicht erst, das Ministeriumspapier als Beleg für »Machtanspruch«, »vereinnahmt« und »Vorherrschaft« anzuführen.
Veser verzichtet daher auf Argumente, sein Text endet in einem geschichtspolitischen Wimmern: »Es ist ein Warnsignal, dass die Kremlpropaganda nun auch Westeuropa zum Hort eines wiederauferstandenen Nationalsozialismus erklärt. Das ist nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine politische Eskalation. Darauf angemessen zu reagieren, ist schwierig – gerade im Umfeld symbolisch aufgeladener Gedenktage.« Auf die Idee, das Gedenkjubiläum zu nutzen, um Anstrengungen zu Versöhnung und Frieden anzumahnen, kommt der FAZ-Mann nicht. Wie auch? Da müsste der laufende Krieg im Osten gestoppt werden. Veser weiß: Fürs deutsche Führungspersonal undenkbar. Nur die »symbolische Aufladung« tut weh.
In der deutschen Geschichtspolitik gibt es gegenwärtig immerhin noch Lippenbekenntnisse zum Gedenken an die sowjetischen Opfer des Völkermordes, die aber durch Androhung von Rauswurf diplomatischer Vertreter zugleich als solche kenntlich werden.
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