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Aus: Ausgabe vom 06.08.2025, Seite 2 / Inland
Brandanschlag Solingen 2024

»Ganz klar, Rassismus hat eine Rolle gespielt«

Vier Menschen starben 2024 bei Feuermord in Solingen. Angehörige kritisieren fehlende Aufklärung des Tatmotivs. Ein Gespräch mit Jan-Robert Hildebrandt
Interview: Max Grigutsch
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Trauermarsch zum Tatort in der Grünewalder Straße in Solingen-Höhscheid (30.3.2024)

Der Prozess um den Brandanschlag in Solingen 2024 ist zu Ende, der Verurteilte hat die Höchststrafe bekommen. Als Opferberatung Rheinland kritisieren Sie das Urteil: Viele Fragen seien nicht beantwortet worden. Welche?

Ein Großteil der juristischen Fragen ist geklärt, der Täter ist verurteilt. Die Frage des rassistischen Tatmotivs ist aber unbeantwortet geblieben. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft und des Gerichts liegt kein solches Tatmotiv vor. Gegen diese Einschätzung richtet sich die Kritik der Hinterbliebenen und Überlebenden, die wir als Opferberatungsstelle betreuen.

Sie beklagen, der Staat habe sein Schutzversprechen nicht eingelöst, und sprechen von institutionellem Versagen.

Alle Opferberatungsstellen bundesweit beobachten strukturelle Schwierigkeiten und Fehler, wenn Straftaten gegen Betroffene von Rassismus oder Menschen mit Migrationshintergrund begangen werden. Während des Solingen-Prozesses kam zum Beispiel ans Licht, dass der Angeklagte in Wuppertal im Jahr 2022 wahrscheinlich einen weiteren Brandanschlag verübt hat. Damals hieß es, ein technischer Defekt sei die Ursache gewesen. Jetzt – drei Jahre später – konnte ein Sachverständiger vor Gericht sofort sagen: Das war auch ein Brandanschlag. Das betroffene Haus wurde hauptsächlich von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnt. Und das Schlimme ist: Hätte es Ermittlungen in diese Richtung gegeben, hätte der Angeklagte schon damals festgenommen und die Tat 2024 in Solingen verhindert werden können. Das ist etwas, das die Hinterbliebenen der Getöteten wahnsinnig macht. Das ist einfach unfassbar.

Wenn man nach einem Anschlag in Solingen sucht, erscheint der sogenannte Messeranschlag von August 2024 – eine mutmaßlich islamistische Attacke, bei der drei Menschen getötet wurden. Daraufhin hatte die Bundesregierung ihren Antimigrationskurs verschärft und die Kompetenzen der Ermittlungsbehörden erweitert. Der Brandanschlag nur wenige Monate zuvor hatte vier Menschen das Leben gekostet, 21 Menschen wurden verletzt. Politische Konsequenzen blieben aus, obwohl er an den Brandanschlag 1993 erinnert. Können Sie sich einen Reim darauf machen?

Nach kurzer Ermittlungsdauer hat sich der Staatsanwalt vor die Kameras gesetzt und berichtet, es gebe keine Hinweise auf Rassismus – das, wie man später herausgefunden hat, nachdem in den Akten vermerkt worden war, dass die Tat möglicherweise »rechts« einzuordnen sei. Dieser Vermerk wurde handschriftlich gestrichen. Wir fragen uns: Sollte das Tatmotiv verborgen werden? Sollte eine Rufschädigung der Stadt verhindert werden? Es ist bezeichnend, dass der Staatsanwalt in seinem Plädoyer sowohl der Nebenklage als auch der Presse und Zivilgesellschaft Panikmache vorwarf. Das können sich auch die Hinterbliebenen und Überlebenden nicht erklären. Und wie kann es sein, dass mehrere Datenträger gefunden und nicht ausgewertet wurden, nur weil sie der Partnerin des Täters gehören sollen, mit der dieser zusammen in einer Wohnung lebte? Die aus dem NSU-Prozess erfahrene Nebenklagevertreterin Seda Başay-Yıldız sagte in ihrem Plädoyer, dass sie so etwas noch nie erlebt habe. Das sind nur einzelne, beispielhafte Einblicke, viel mehr wäre zu sagen. Da muss man sich wirklich fragen: Ist das nur Ermittlungsversagen, oder will man es sich leichtmachen?

Was haben die Hinterbliebenen nach dem Urteil noch zu Ihnen gesagt?

Der kleinere Teil ist Erleichterung, dass der Prozess jetzt endlich vorbei ist – und damit die Belastung gerade für die Hinterbliebenen aus Bulgarien, immer wieder in das Land anzureisen, in dem ihre Kinder und Enkel getötet wurden. Aber es überwiegen das Unverständnis und die Trauer darüber, dass die Tatmotivation nicht herausgearbeitet wurde. Aus Sicht der Betroffenen ist es ganz klar, dass Rassismus eine Rolle gespielt hat. Vielleicht ist es nicht das alleinige Tatmotiv. Aber dass Rassismus gar nicht benannt wurde, das wiegt schwer. Alle Betroffenen sind sehr frustriert. Sie haben das Vertrauen in das Justizsystem verloren und sind unsicher, ob das in Zukunft noch mal passieren könnte.

Jan-Robert Hildebrandt von der Opferberatung Rheinland begleitet seit dem Brandanschlag im März 2024 die Hinterbliebenen und mehrere Überlebende

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