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Aus: Ausgabe vom 06.08.2025, Seite 12 / Thema
Hiroshima und Nagasaki

Sinn und Unsinn der Bombe

Die USA behaupteten, die Atombombenabwürfe dienten der Verkürzung des Krieges. War dieser Zweck wirklich ausschlaggebend für den Einsatz?
Von Kai Köhler
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Da fast alle japanischen Städte bereits verheerend bombadiert worden waren, begriff die Militärführung zunächst nicht das Ausmaß der Zerstörung in Hiroshima (Kaiser Hirohito im von US-Brandbomben zerstörten Tokio, Frühjahr 1945)

Im Frühjahr und Sommer 1945 stellte sich aus Sicht der japanischen Führung die Kriegslage als außerordentlich schlecht dar. Zwar hielten japanische Truppen noch zahlreiche der in den Jahren zuvor eroberten Gebiete in China und Südostasien. Doch waren die USA Schritt für Schritt an die japanischen Hauptinseln herangerückt und eroberten von April bis Juni 1945 Okinawa. Seit dem Fall der strategisch wichtigen Insel Iwo Jima im März besaßen die USA einen unversenkbaren Stützpunkt, von dem aus sie die japanische Industrie und wichtige Bevölkerungszentren bombardierten. Die Holzbauweise vieler japanischer Stadtviertel führte zu entsetzlichen Bränden und Verlusten.

Im Sommer zeichnete sich aus US-Sicht als Hauptproblem der Bombenkampagne der allmähliche Mangel an lohnenden Zielen ab. Der weitaus größte Teil der japanischen Kriegsindustrie war zerstört. Zudem hatte Japan in den Kämpfen des Vorjahres einen Großteil der Marine und viele der erfahrensten Piloten verloren. Die USA beherrschten das Meer und den Luftraum. Die japanischen Inseln waren isoliert und von kriegswichtigen Rohstoffen abgeschnitten.

Mit Deutschland hatte der wichtigste Verbündete im Mai 1945 kapituliert. Die Sowjetunion hatte am 15. April den 1941 geschlossenen Nichtangriffspakt gekündigt und schon vor der deutschen Niederlage begonnen, Truppen in den Osten zu verlegen. Damit zeichnete sich ein neuer Gegner ab, der das Potential hatte, entscheidend in den seit 1937 geführten japanisch-chinesischen Krieg einzugreifen.

In keiner Statistik

In dieser Lage trafen am 6. und 9. August 1945 US-amerikanische Atombomben Hiroshima und Nagasaki. Die Zentren beider Städte wurden komplett zerstört. Insgesamt gab es sofort um die 100.000 Todesopfer, bis zum Jahresende 1945 etwa 130.000 weitere. Bei der sehr großen Mehrheit handelte es sich um Zivilisten; in Nagasaki befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion zahlreiche aus Korea verschleppte Zwangsarbeiter.

Die Gesamtzahl der Getöteten zu ermitteln ist schwierig. Zum einen hatte Japan Großstadtbewohner zum Schutz vor Bombenangriffen aufs Land evakuiert, so dass nur zu schätzen ist, wie viele Menschen sich in den Zentren aufgehalten haben und spurlos verglüht sind. Zum anderen ist nicht immer zu unterscheiden, wer an Spätfolgen radioaktiver Verstrahlung oder an normalem Krebs starb. Die umfassende Zensur der US-Besatzungsbehörden ab 1945 erschwerte eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Folgen. Darum galten die Krankheitsbilder der Hibakusha, wie die Opfer von Hiroshima und Nagasaki genannt werden, lange Zeit als ansteckend. Entsprechend versuchten ehemalige Bewohner dieser Städte, die in andere Landesteile abgewandert waren, ihre Herkunft zu verbergen. Ihr Tod taucht darum in keiner Statistik auf.

War dieses Leid notwendig, um einen schrecklichen Krieg schnell zu beenden? Kritiker der Atombombenabwürfe vertreten die Position, dass es angesichts der Situation Japans gar nicht mehr nötig gewesen sei, die neue Waffe einzusetzen. Bei milder Beurteilung erscheint die Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis darum überflüssig, bei strengerem Blick als Verbrechen. Die Gegenseite weist darauf hin, dass im Pazifikkrieg zuvor japanische Truppen oft auch in hoffnungsloser Lage bis zum Tod gekämpft hätten. Die Atombombenabwürfe hätten mithin den Krieg verkürzt und Hunderttausenden das Leben gerettet.

Im Folgenden werden vier Fragekomplexe behandelt. Erstens wird skizziert, mit welchen Verlusten US-Planer für den weiteren Kriegsverlauf rechneten und was unter der Voraussetzung, dass Japan weitergekämpft hätte, an Opfern zu erwarten war. Zweitens geht es um die Frage, ob die Voraussetzung selbst richtig ist oder ob Japan ohnehin bereit zur Kapitulation war und die USA dies auch wissen konnten. In diesen Zusammenhang gehören drittens die Zielauswahl und die Überlegung, ob es mildere Mittel gegeben hätte, kapitulationsbereite Kräfte in Japan zu stärken. Viertens ist zu prüfen, ob es vom japanischen Verhalten unabhängige Gründe gab, die Bomben einzusetzen; konkret: welche Rolle die beginnende Auseinandersetzung mit der Sowjetunion spielte.

Unmittelbar nach den Abwürfen nahm US-Präsident Harry S. Truman für sich in Anspruch, durch seine Entscheidung »das Leben Tausender Amerikaner« geschont zu haben. Bei einer Rede am 15. Dezember war diese Zahl bereits auf eine Viertelmillion gestiegen. 1950 sprach Truman von einer halben Million Toter und Verwundeter, und 1959 rechtfertigte er sich vor Studenten der Columbia University: »Der Abwurf der Bomben hat den Krieg beendet, Millionen Todesopfer verhütet.« Der großzügige Umgang mit Zahlen lässt vermuten, dass sich Truman nicht auf eine konkrete militärische Kalkulation stützte, sondern die Nummern einfach für »ungeheuer viele« stehen sollen.

Bereits vor Hiroshima gab es Schätzungen in solchen Größenordnungen. Der ehemalige US-Präsident Herbert Hoover ging Ende Mai in einem Memorandum für Truman von 500.000 bis einer Million toten US-Soldaten aus. Der Physiker William B. Shockley leitete aus japanischen Kriegstraditionen her, dass mit einem Kampf bis fast zum letzten Mann gerechnet werden müsse. Daraus ergab sich für ihn eine Schätzung von bis zu vier Millionen US-Verlusten, darunter 400.000 bis 800.000 Toten, und mindestens fünf bis zehn Millionen toten Japanern.

Diese Vermutungen wurden allerdings nicht zur Planungsgrundlage. Zu Hoovers Memorandum merkte der Stabschef des Heeres, George C. Marshall, an, dass mit weitaus weniger Verlusten zu rechnen sei. Shockley verfasste sein Gutachten erst am 21. Juli, wenige Tage vor der Entscheidung zum Einsatz der Atombomben. Überdies ist ungewiss, ob das Papier während der zeitgleichen Potsdamer Konferenz überhaupt auf höherer Ebene zur Kenntnis genommen wurde.

Die genauesten Zahlen finden sich in dem Protokoll einer Besprechung vom 18. Juni 1945, in deren Vorfeld Truman eine Kalkulation zu erwartender Verluste für den Fall einer Invasion der japanischen Hauptinseln angefordert hatte. Die Zusammenkunft fand also knapp einen Monat vor dem ersten Test einer Atombombe am 16. Juli statt, mithin zu einem Zeitpunkt, als noch unklar war, ob die neue Waffe überhaupt funktionieren würde. Geplant war zunächst ein Angriff auf Kyushu, die südlichste der vier Hauptinseln. Hier findet sich eine Verlustzahl von 31.000, offensichtlich abgeleitet von den bei der Rückeroberung der größten philippinischen Insel Luzon gemachten Erfahrungen.

Diese Zahl geistert seitdem durch kritische Diskussionen: Die USA hätten mit nur 31.000 Toten gerechnet. Tatsächlich handelt es sich einerseits um eigene Verluste, also einschließlich Verwundeter und Vermisster. Andererseits waren damit nur die Ausfälle der ersten dreißig Tage geschätzt. Kyushu war weitaus größer und stärker besetzt als Okinawa, wo die Hauptkämpfe mehr als zwei Monate gedauert hatten, und danach wären neben Shikoku noch die viel größeren Inseln Honshu und Hokkaido geblieben.

Überdies sind bei all diesen Einschätzungen nur die US-amerikanischen Verluste berücksichtigt. Bei vorangegangenen Schlachten auf pazifischen Inseln waren die japanischen Totenzahlen fast stets um ein Mehrfaches höher gewesen. Zudem wäre teils in dicht besiedelten Gebieten gekämpft worden. Während der Kämpfe um Okinawa waren mehr als 100.000 Zivilisten getötet worden. Allein auf Kyushu mit einer weitaus größeren Bevölkerung wäre diese Zahl deutlich übertroffen worden.

Es ist fraglich, ob ein Versuch, Japan allein über die bestehende Seeblockade in die Knie zu zwingen, Leben gespart hätte. Japan war auf Reisimporte angewiesen, eine Hungersnot wäre die Folge gewesen.

All dies vernachlässigt zudem, dass es noch andere Kriegsschauplätze gab. In den immer noch von Japan kontrollierten Gebieten Südostasiens war durch jahrelange Kämpfe und die Konzentration auf militärische Erfordernisse die Infrastruktur, wo nicht zerstört, so doch überlastet. In Vietnam hatte es deswegen 1944/45 eine Hungersnot mit bis zu zwei Millionen Toten gegeben; ähnliches drohte sich zu wiederholen. Die Volksrepublik China nennt jetzt eine Gesamtopferzahl von 35 Millionen, wobei die Zahlen von Toten, Verwundeten und Vermissten nicht eigens ausgewiesen sind. Pro Kriegsmonat seit Juli 1937 ergibt das eine durchschnittliche Verlustzahl von 360.000. Natürlich spielte all dies in den US-Kalkulationen keine Rolle. Es stützt aber die These, dass die Atombombenabwürfe insgesamt weniger Tote forderten als eine mögliche Fortführung des Krieges.

Konflikte in Japan

Entscheidend wird also die Frage, ob diese Fortführung überhaupt nötig gewesen wäre oder Japan nicht ohnehin bereit war, zu kapitulieren. Die politische und militärische Führung hoffte nicht mehr auf einen Sieg. Gleichwohl waren hohe Offiziere, besonders in der Armee, zuversichtlich, den US-Truppen im Falle einer Landung so hohe Verluste zufügen zu können, dass sich der Feind mit einem Kompromissfrieden begnügen würde.

Entscheidend war, was unter der Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation, die die Alliierten seit der Konferenz von Casablanca 1943 erhoben, zu verstehen war. Bei allen Differenzen war die japanische Führung sich einig, dass ein Punkt nicht verhandelbar war: der Fortbestand des Kaiserhauses. Der Kaiser war religiös überhöhtes Symbol der nationalen Einheit. Darüber hinaus besaß er beträchtlichen politischen Einfluss. Zwar übte er diesen in Form von Hinweisen aus und nur in sehr seltenen Ausnahmefällen durch eine verbindliche Stellungnahme. Die Kriegsverbrecherprozesse, die nach der deutschen Niederlage in Europa anliefen, dürften aber aus japanischer Sicht Anlass zu Befürchtungen gegeben haben.

Außenminister Togo Shigenori stand in ständigem Austausch mit Sato Naotake, dem japanischen Botschafter in der noch neutralen Sowjetunion. Togos Absicht war, einen hochrangigen Politiker – den ehemaligen Premierminister Konoe Fumimaro – nach Moskau zu entsenden, um über diesen Kanal zu einer Verständigung mit den Westalliierten und China zu kommen. Dabei betonte er, dass das Kaisertum zu bewahren sei. Die sowjetische Regierung reagierte zurückhaltend. Schließlich war weder klar, ob Togo sub-stantielle Angebote machen wollte, noch, welche Spielräume er überhaupt angesichts der härteren Haltung des Militärs hatte.

Am Rand der Potsdamer Konferenz, auf der sich die Sieger über eine Nachkriegsordnung zu verständigen versuchten, forderten die USA, Großbritannien und China Japan zur Kapitulation auf. Die Erklärung vom 26. Juli garantierte den Fortbestand der japanischen Nation. Auf Drängen seines Außenministers James F. Byrnes, aber gegen die Stellungnahme fast aller anderen Berater, verhinderte Truman jede Erwähnung einer künftigen Rolle des Kaisers. Damit war der Friedenspartei in Tokio der Boden entzogen. In einer Erklärung vom 28. Juli benutzte Premierminister Suzuki Kantaro die Formulierung »mokusatsu«, was ungefähr bedeutet: »durch Schweigen erledigen«.

Nach der Zerstörung am 6. August benötigte die japanische Führung Zeit, um überhaupt zu begreifen, was geschehen war. Der harte Flügel der Militärs hielt Schutzmaßnahmen für möglich und bezweifelte, ob die USA über genügend Material für mehrere Atombomben verfügten. Aus dieser Sicht handelte es sich um eine bloße Fortführung des US-Luftkriegs, und tatsächlich hatten die Brandbomben, die am 9. März auf Tokio abgeworfen worden waren, vermutlich eine höhere Zahl unmittelbarer Opfer gefordert als die Bombe auf Hiroshima. Die Spätfolgen waren noch nicht absehbar.

Kurz darauf verschärfte sich die japanische Lage erheblich. Am Abend des 8. August traf die sowjetische Kriegserklärung ein. Am 9. August drangen um 0.10 Uhr sowjetische Truppen in den japanischen Marionettenstaat Mandschukuo ein und rückten gegen nur geringen Widerstand vor. Die dort stationierte japanische Kwantung-Armee war früher nicht nur militärisch ihr stärkster Heeresverband gewesen, sondern hatte auch politisch eigenständig, unabhängig vom Willen der Regierung in Tokio, den Konflikt mit China eskaliert. Nun war sie zwar noch numerisch stark, doch hatte sie einen Großteil ihrer Ausrüstung und viele ihrer besten Offiziere an Frontverbände abgeben müssen. Kurz nach 11 Uhr explodierte dann die Bombe über Nagasaki.

Die entscheidende Sitzung des Obersten Kriegsrats fand am Abend des 9. August statt und dauerte bis in die Morgenstunden des 10. August. Der erforderliche Konsens war nicht zu erzielen. Drei Teilnehmer forderten die Kapitulation, Garantien für den Kaiser immer noch vorausgesetzt: Auf der Seite von Suzuki und Togo stand auch Marineminister Yonai Mitsumasa. Heeresminister Anami Korechika und die Stabschefs von Heer und Marine, Umezu Yoshijiro und Toyoda Soemu, stellten drei weitere Bedingungen: Japan dürfe nicht von fremden Truppen besetzt werden, die Entwaffnung der japanischen Armee müsse ebenso in Eigenregie geschehen wie die Aburteilung möglicher Kriegsverbrechen.

Sogar als sich Japan allen Hoffnungen zum Trotz einem weiteren Kriegsgegner gegenübersah und nach zwei Atombomben war also der Widerstandswille des überwiegenden Teils der militärischen Führung ungebrochen. Es bedurfte der Autorität des Kaisers, der in einem ungewöhnlichen Schritt offen seine Meinung erklärte und damit das Patt durchbrach. Nun gelte es, »das Untragbare zu ertragen«.

Dem Kaiser zu widersprechen, war für die meisten Offiziere kaum vorstellbar. Der Unmut war trotzdem groß. Okamura Yasuji, japanischer Oberbefehlshaber in China, notierte in seinem Tagebuch am 11. August, er hoffe, dass die Alliierten die geforderte Garantie für die Stellung des Kaisers ablehnten: Dann nämlich werde der Krieg weitergehen. Noch am 14. August unternahm eine Gruppe junger Offiziere in Tokio einen Putschversuch. Ihr Ziel war, den Kaiser zu entführen und ihn zum Weiterkämpfen zu bewegen. Das Unternehmen scheiterte, weil die militärische Führung, trotz aller Sympathie für die Radikalen, sich dem Befehl zur Kapitulation unterwarf. Am 15. August hörte die japanische Bevölkerung in einer Rundfunkansprache zum ersten Mal die Stimme ihres Kaisers und erfuhr von der Niederlage.

Der Wille zur Gewalt

Nach dem Krieg befragten US-Stellen einstmals führende Japaner, ob der sowjetische Kriegseintritt oder die Atombomben der entscheidende Faktor für die Kapitulation gewesen seien. Die Antworten fielen unterschiedlich aus. In der Gesamtschau ergibt sich das Bild, dass die Kombination beider Ereignisse eine große Wirkung entfaltete.

Will man die US-Entscheidung zum Abwurf der beiden Bomben bewerten, muss man freilich von dem Wissensstand vor dem 6. beziehungsweise 9. August ausgehen. Und hier stellt sich die Frage, ob nicht ein weniger brutales Mittel ausgereicht hätte.

Hier taucht zunächst wieder die Frage nach der Rolle des Kaisers auf. Die USA hatten die japanische Codierung entschlüsselt und konnten die Nachrichten zwischen Togo in Tokio und Sato in Moskau mitlesen. Der US-Führung war also bekannt, dass dieser Punkt auch für die japanische Friedensfraktion zentral war; schwer abzuschätzen war der Einfluss dieser Fraktion. In Potsdam plädierten die militärischen Führungen der USA und Großbritanniens dafür, die Stellung des Kaisers zu garantieren – sie fürchteten, ohne anerkannte Gesamtkapitulation unzählige Widerstandsnester auf dem pazifischen Kriegsschauplatz niederkämpfen zu müssen. Später hatten die USA keine Probleme damit, den Kaiser nicht als Kriegsverbrecher zu verfolgen und eine konstitutionelle Monarchie zuzulassen. Die Frage ist also, weshalb ausgerechnet in der entscheidenden Deklaration vor dem Atombombenabwurf dieses Zugeständnis fehlt.

Die Wirkung von Atombomben hätte sich auch auf wenig bewohntem Gebiet oder im Umfeld einer militärischen Anlage demonstrieren lassen. Solche Überlegungen gab es. So forderte Stabschef Marshall, als erstes Ziel einen Marinestützpunkt auszuwählen und erst, wenn dies zu keinem Ergebnis führe, Rüstungszentren zu bombardieren; aber auch dies nicht, ohne durch Flugblätter zuvor die Bevölkerung zur Flucht aus den Zielgebieten aufzufordern. Aus den Protokollen des mit der Einsatzplanung befassten Interim Committee geht nicht hervor, wie die Gruppe am 31. Mai in Marshalls Abwesenheit zu dem Ergebnis kam, das beste Ziel sei »eine Rüstungsfabrik, in der viele Arbeiter beschäftigt seien, und in deren unmittelbarer Umgebung sich Arbeiterwohnungen befänden«, mit anderen Worten: Zivilisten. Aber auch später finden sich in US-Dokumenten Belege, dass es Einwände gegen den Abwurf auf eine Großstadt gab. Am Ende traf es trotzdem Hiroshima, wo zudem die militärischen Einrichtungen so weit am Stadtrand lagen, dass sie am 6. August nicht ganz zerstört wurden. Für Hiroshima als Ziel sprach, dass es eine der wenigen vom US-Bombardement noch nicht betroffenen Großstädte war und man so die Folgen der Atombombe präziser erfassen konnte.

Zuletzt stellt sich die Frage, weshalb zwischen dem ersten und dem zweiten Abwurf lediglich drei Tage vergingen und Nagasaki getroffen wurde, bevor die US-Führung überhaupt wissen konnte, welchen politischen Effekt die erste Bombe hatte. Eine undatierte Mission Planning Summary beschreibt die Konzentration von Geschäften und Verwaltung in dem Zentrum und dem Ostteil von Nagasaki: »Dichtgedrängte Häusergruppen umgeben diese Gebäude und erstrecken sich als fast geschlossene Masse bis zu den Hügeln.« Dann heißt es: »Der Zielpunkt wurde östlich vom Hafen Nagasakis in das Geschäftsviertel der Stadt verlegt.«

In der Zusammenschau wird klar, dass die USA ohne zwingende Gründe eine Variante wählten, die weitaus mehr Opfer forderte, als für das legitime Ziel, eigene Verluste bei einer Invasion zu vermeiden, nötig gewesen wäre. Allein aus den Erfordernissen des Kriegs gegen Japan ist diese Variante nicht zu erklären. So stellt sich die Folgefrage, ob andere Überlegungen eine Rolle spielten.

Der wirkliche Feind

Ein sowjetisches Eingreifen in den asiatischen Teil des Weltkriegs hatte aus US-Sicht den Vorteil, dass die japanische Niederlage beschleunigt und eigene Opfer gespart würden. Dagegen sprachen Bedenken, dass die Sowjetunion Positionen, die sie erst einmal in der Mandschurei und im noch von Japan kolonisierten Korea gewonnen hatte, nicht so leicht wieder räumen würde und dies auf Kosten der verbündeten nationalchinesischen Regierung ginge.

Entsprechend wandelte sich die US-Einschätzung je nach Stand des Krieges. Lange Zeit war unstrittig, dass der Vorteil überwog. Bei einem Landkrieg gegen die Rote Armee hätte Japan keine Truppen auf die Hauptinseln zwecks Verteidigung gegen eine US-Invasion verlegen können. Dieses Argument wurde im Frühjahr 1945 hinfällig, als ein Großteil der japanischen Flotte ausgeschaltet war und US-Kräfte die Luftherrschaft besaßen; Verlegungen größeren Ausmaßes waren nun nicht mehr möglich. Die hohen US-Verluste bei der Eroberung Okinawas allerdings führten dazu, dass eine sowjetische Intervention doch wieder wünschenswert erschien: als psychologischer Schlag gegen Japan, der den USA möglicherweise einen Kampf um die Hauptinseln ersparen würde.

Bei all dem war noch nicht bekannt, wann die ersten Atombomben einsatzbereit sein würden und ob sie überhaupt wie geplant funktionieren würden. Während des Sommers 1945 gelang es Truman, gegen britische und sowjetische Wünsche das Treffen in Potsdam bis Mitte Juli zu verschieben. Seine Motive sind nicht nachweisbar; zu belegen ist allerdings, dass die Wissenschaftler, die an der Bombe arbeiteten, gedrängt wurden, den geplanten ersten Test auf den 16. Juli vorzuverlegen, auf den Tag vor Beginn der Konferenz. Der Test verlief erfolgreich, und die Zerstörungskraft der neuen Waffe war größer als erwartet. Damit war Trumans Verhandlungsmacht in Potsdam gestärkt. Bereits die bloße Existenz der Atombombe war ein Machtfaktor im sich abzeichnenden Kalten Krieg.

Ursprünglich hatte die Sowjetunion zugesichert, Japan drei Monate nach einer Kapitulation Deutschlands anzugreifen. Am 17. Juli, zu Beginn der Potsdamer Konferenz, nannte Stalin mit dem 15. August einen geringfügig späteren Termin. Bei einer Besprechung der alliierten Stabschefs am 24. Juli sprach der sowjetische Generaloberst Alexej Innokentjewitsch Antonow ungenauer davon, dass die Offensive in der zweiten Augusthälfte beginnen würde. Entscheidend sei die Abstimmung mit der chinesischen Regierung, auf deren Territorium schließlich gekämpft werden sollte.

Damit war zwar das Zeitfenster, Japan ohne sowjetische Beteiligung zur Kapitulation zu zwingen, größer als gedacht. Doch standen auch mit Fristverlängerung immer noch nur gut drei Wochen zur Verfügung. Bereits am 31. Juli war die erste Atombombe abwurfbereit auf der Pazifikinsel Tinian zusammengesetzt. Es handelte sich um den einfacher konstruierten Typ einer Uranbombe, der nicht getestet worden war, weil noch nicht genügend Uran für eine zweite Bombe zur Verfügung stand. Der Einsatz war für den 1. August befohlen, musste aber wegen eines Taifuns um fünf Tage verschoben werden. Dass Nagasaki nur drei Tage später zerstört wurde, lässt sich möglicherweise durch das Interesse erklären, mit einer Plutoniumimplosionsbombe einen anderen Typ unter Einsatzbedingungen zu erproben. Im skizzierten Zusammenhang liegt der Gedanke näher, dass Japan in den nur noch wenigen Tagen bis zu einem sowjetischen Eingreifen kapitulieren sollte. Dies freilich misslang, weil die Sowjetunion doch exakt zum ursprünglich zugesicherten Termin Japan den Krieg erklärte.

Nicht in dieses Bild passt freilich die Potsdamer Erklärung, die, wie gezeigt, am 26. Juli ohne Beteiligung der Sowjetunion so formuliert worden war, dass sie eine schnelle japanische Kapitulation äußerst unwahrscheinlich machte. Nun wurde darauf hingewiesen, dass Truman bereits am 25. Juli befohlen hatte, den Einsatz einer ersten Atombombe vorzubereiten. Doch belegt dies allein noch nicht die Absicht, die Waffe auf jeden Fall zu verwenden. Hätte Japan rechtzeitig eingelenkt, hätte der Prozess, der schließlich zum Abwurf führte, sofort abgebrochen werden können. Die Vermutung, dass schließlich die Eigendynamik des militärischen Apparats zur Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis führte, überzeugt nicht, zumal führende Militärs Bedenken gegen den Einsatz der Atombombe geäußert hatten. Es gab eine bewusste Entscheidung, die beiden Angriffe durchzuführen und eine Verständigung mit Japan bis dahin zu erschweren. Als Motiv dafür liegt nahe, die Wirkung der neuen Waffe möglichst eindrücklich zu demonstrieren.

Auftakt mit Massenmord

War also der Einsatz der Atombomben ein Kriegsverbrechen? Dagegen lässt sich anführen, dass die Zahl der Todesopfer bei einer Invasion der japanischen Hauptinseln vermutlich höher gewesen wäre. Auf den anderen asiatischen Kriegsschauplätzen wären schon bis zum geplanten Landungsdatum auf Kyushu Anfang November mehr Menschen umgekommen als in Hiroshima und Nagasaki (was freilich im US-Entscheidungsprozess keine erkennbare Rolle spielte). Doch war in den USA die Existenz einer japanischen Friedenspartei bekannt. Wenn auch an ihrer Durchsetzungskraft begründete Zweifel bestehen mögen, so hat ihr in den entscheidenden Wochen die Potsdamer Erklärung die Grundlage entzogen: Vor den Atombombenabwürfen wurden Garantien für den Kaiser bewusst verweigert, kurz danach zugebilligt.

Vorschläge, die Wirkung einer ersten Bombe über unbewohntem Gebiet oder einem rein militärischen Ziel zu demonstrieren, wurden zurückgewiesen. Der Ablauf der Ereignisse im Juli und August legt die Interpretation nahe, dass der Hauptadressat der Bomben nicht die japanische, sondern die sowjetische Führung war; der kurze Abstand zwischen den beiden Abwürfen, der Japan kaum Zeit zu einer angemessenen Reaktion ließ, stützt diese These. Dies spricht dafür, dass die USA den Kalten Krieg mit zwei Massenmorden eröffneten.

Literaturhinweise

Apologetisch, aber mit sehr gutem und ausführlichen Dokumententeil: Michael Kort: The Columbia Guide to Hiroshima and the Bomb. New York 2007

Kritisch zu den Abwürfen: Gar Alperovitz: Hiroshima. Die Entscheidung für den Abwurf der Bombe. Hamburg 1995

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Juli 2025 über die »Hunnenrede« von Kaiser Wilhelm II. vor 100 Jahren: »Pardon wird nicht gegeben«

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  • Leserbrief von Artur Borst aus Tübingen (7. August 2025 um 11:06 Uhr)
    Dem gut geschriebenen Artikel von Kai Koehler füge ich noch eine Anmerkung hinzu. Bereits 1964 berichtete der russisch-britische Journalist und Historiker Alexander Werth in seinem Buch »Russia at war« (dt. 1965: »Russland im Krieg 1941–1945«), dass Präsident Truman die Japan-Experten des Außenministeriums ignorierte. Dabei ging es um den von Kai Koehler beschriebenen Sachverhalt, dass ohne Garantie des Fortbestehens des Kaiserhauses Japan nie kapitulieren würde. Hätte Truman dies beachtet, wäre es nicht mehr zur sowjetischen Kriegserklärung gegenüber Japan am 8. August 1945 gekommen, da Japan dann zuvor kapituliert hätte. Truman ging es deshalb in erster Linie um den Test der zwei unterschiedlich konstruierten Atombomben. Dies war dann natürlich auch eine Demonstration der USA als Weltmacht.

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