Saubere Produkte, schmutzige Ränder
Von Tania Rojas und Holger Elias
San Pedro de Atacama, im Norden Chiles, nahe der Grenze zu Bolivien, 14 Uhr. Die Sonne steht so senkrecht, dass selbst die Kakteen keine Schatten mehr werfen. Staub steht in der Luft wie ein zweiter Himmel. Hinter dem Dorf beginnen Rechtecke in unnatürlichen Farben: türkis, smaragdgrün, milchig-weiß. Lithiumbecken. Eine industrielle Geometrie, die aussieht wie Ordnung – und sich anfühlt wie Durst.
»Früher hatten wir zwei Ernten im Jahr«, sagt María Jesús*, Gemeinderätin seit zwölf Jahren, und kippt eine Tasse Wasser in die Aluminiumschüssel, so sparsam, als sei das Wasser ein Fremder. »Jetzt reicht es nicht mal für eine. Sie sagen, sie pumpen nur salzhaltiges Wasser. Aber unsere Brunnen? Leer.« Ihr Lachen ist kurz und bitter, mehr Staub als Stimme.
Am Dorfrand füllt Jorge* Wasser in Plastiktanks. Früher fuhr er Lkw, heute beliefert er Nachbarn. »Ich erkläre, warum der Preis wieder steigt«, sagt er, den Blick auf den Schlauch gerichtet. »Dann nickt man, aber man fragt nicht. Was bringt’s? Die Zäune drüben werden nur höher.«
Ein Pick-up passiert die Kreuzung, zwei Männer in Neonwesten blicken kurz herüber, dann wieder auf die spiegelnden Flächen hinter dem Zaun. Das Geräusch der Pumpen ist leise, aber ununterbrochen: das mechanische Atmen eines neuen Weltmarkts.
Glatter Stahl, saubere Welt
Zwickau, Automobilwerk, Endmontage. Ein Band surrt, Karosserien gleiten in Richtung Auslieferung, eine Tafel zeigt »CO2-neutral – unser Beitrag«. Daneben: »Nachhaltige Lieferketten – Chancen für Europa«. Ein Ingenieur erklärt den Energiemix der Fabrik, eine PR-Frau spricht über Transparenz. »Unsere Lieferanten erfüllen strenge Standards«, sagt sie. Auf Nachfrage nach den Herkunftsminen verweist sie auf Zertifikate, Audits, Verhaltenskodizes. Details? »Geschäftsgeheimnis«.
Der Schichtleiter sagt in der Pause laut: »Ich bin stolz auf das, was wir hier bauen.« Später ergänzt er nachdenklich: »Woher genau die Rohstoffe kommen – wer weiß das schon?« Er wischt seine Nachdenklichkeit schließlich fort: »Wir machen Autos. Politik macht Politik.«
Draußen lädt ein Lkw Batteriemodule. Auf seinem Plan steht: Rotterdam, Bremerhaven, Barcelona. Kein einziger Ort im globalen Süden.
»Lithium ist unser weißes Gold«, sagt der chilenische Bergbauminister. »Ohne Lithium keine Mobilitätswende«, antwortet in Berlin ein Staatssekretär. In Brüssel heißt es nüchtern: Critical raw materials. Und auf dem Weltmarkt tanzen die Kurven, als wären sie nervöse Seismographen. Zahlen, knapp und hart: Rund 70 Prozent der weltweiten Lithiumreserven liegen im »Lithiumdreieck« Chile–Bolivien–Argentinien; für eine Tonne Lithium werden in den Salzebenen bis zu zwei Millionen Liter Wasser verdunstet – in einer Region, die Regen nur aus Geschichten kennt. Der Lithiumcarbonatpreis explodierte zwischen 2020 und 2022, fiel 2024 deutlich und brachte Produzenten von Jubel in Schockstarre. Nach dem Rekordjahr 2022 folgten 2024/25 spürbare Gewinneinbrüche bzw. Verluste – die Branche lernt, wie brutal »grüne« Zyklen sein können. Die Politik verspricht Stabilität, der Markt verkauft Volatilität – und die Dörfer zahlen den Preis, bar und täglich.
Die Becken schimmern wie Fata Morganas. Was man nicht sieht: unterirdische Ströme, die über Jahrtausende entstanden; Gleichgewichte, die so empfindlich sind wie die Haut. Wenn Pumpen das salzhaltige Wasser in die Becken heben, verändert sich auch der Süßwasserkörper – langsam, aber eindeutig. In den Dörfern spricht man nicht über Hydrogeologie. Man zeigt auf Brunnen.
Toconao, 38 Kilometer von San Pedro. Lucía*, 24, stemmt einen Kanister an die Dorfpumpe. »Früher warteten wir auf Wohnraum. Jetzt warten wir auf Wasser.« Sie lächelt entschuldigend, als hätte sie eine Unhöflichkeit begangen. »Jeder nimmt nur so viel, wie er tragen kann.«
Drei Kilometer weiter: eine Lagune, an der früher Flamingos standen. Heute: graubraune Kruste, giftig schön. Ein Biologe zeigt auf Salzrisse. »Das ist eine Karte«, sagt er, »der Risse wegen. Jede Rille eine Geschichte, wie schnell es trocknet.«
In der Regionalverwaltung erklärt ein Beamter: »Die Wasserrechte sind vergeben. Das ist Gesetz. Wir können nicht einfach …« Er hebt die Hände. Das ist keine Geste der Macht, es ist eine der Hilflosigkeit.
Die geopolitische Bühne
Chile sitzt mitten zwischen Blöcken, die längst keine Ideologien mehr repräsentieren, sondern Lieferketten. Die USA nutzen Lithium als Baustein der Energiesouveränität; Militär- und Rohstoffpolitik halten Händchen. China hält Beteiligungen an Minen, langfristige Kontrakte, betreibt gigantische Batteriefabriken von Shenzhen bis Changzhou. Die EU will »Diversifizierung« – und findet Partner, die genau wissen, was »Sicherheit« heißt.
In La Paz verspricht man, die Wertschöpfung im Land zu halten. In Buenos Aires locken Steuererleichterungen. In Santiago wird eine nationale Lithiumstrategie diskutiert, die öffentlich so klingt wie eine Sozialpolitik – und privat wie ein Investitionsprospekt.
»Die neue Rohstoffpolitik«, sagt Rodrigo Sanchez, Politökonom in Santiago, »ist ein Wettbewerb zwischen Zertifikaten. Wer hat die hübscheren Siegel, die schöneren Versprechen? Die Ökologie kommt in Fußnoten vor – die Geopolitik zwischen den Zeilen.«
Auf Werbebildern glitzern Becken neben Solarpanels. Ein Arbeiter in sauberer Schutzkleidung lächelt in die Kamera. »20 Prozent weniger Wasserverbrauch«, sagt ein Sprecher. Ein Umweltgutachten sagt: Das ist die halbe Wahrheit – gezählt wird, was passte; ausgelassen, was stört.

Camila Muñoz, Umweltanwältin im nordchilenischen Antofagasta: »Das Problem ist nicht nur der Verbrauch. Es ist die Kumulation. Mehr Bohrungen, mehr Becken, mehr Verdunstung. Die kumulative Entnahme zerstört Gleichgewichte. Aber genehmigt wird Projekt für Projekt. Das Große verschwindet im Kleingedruckten.«
Historische Kontinuitäten
Chile kennt diese Musik. In den 1960ern spielte sie in Kupfertonart. Salvador Allendes Verstaatlichung 1971 – ein Versuch, Ressourcen in soziale Rechte zu verwandeln. Dann Sabotage, Embargo, 1973 der Putsch. Heute gehört der Kupferbergbaukonzern Codelco noch dem Staat, beim Lithiumabbau werden Lizenzen an private Unternehmen vergeben. Die Melodie ist die gleiche, nur die Instrumente sind moderner.
Eduardo Zambrano, 72, ehemaliger Gewerkschafter: »Früher kauften sie Präsidenten. Heute kaufen sie Zertifikate. Ist billiger und macht sich besser in den Nachrichten.«
Die Parallelen sind unbequem: Öl im Nahen Osten, Bananen in Mittelamerika, Kobalt im Kongo. Immer die gleiche Grammatik: peripher fördern, zentral profitieren, politisch absichern. Im Falle von Lithium wird dem Satz nur ein »grün« hinzugefügt.
Deutschland. Im Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Klimaschutz erklärt ein Abgeordneter, man brauche »robuste Partnerschaften«. Auf Nachfrage nach Sanktionsmechanismen bei Wasserrechtskonflikten wird es still. Eine NGO-Vertreterin sagt: »Menschenrechtsklauseln ohne Zähne sind Poesiealben.« Ein Ministerialer antwortet höflich, man prüfe.
In einem Zulieferbetrieb zeigt ein Betriebsrat die Schichtpläne. »Unsere Leute arbeiten gern an was Sinnvollem. Aber wir sind doch nicht die UNO. Wenn die Kette sauber wäre, hätte ich nichts dagegen, dass man sie mal offenlegt.«
Im Hafen hebt ein Kran einen Container mit der Aufschrift »Battery Grade«. Ein Fahrer grinst: »Ist das das Zeug, das die Welt rettet?« Eine Sekunde Pause. »Dann passt auf, dass es nicht unterwegs verdunstet.«
Vor einem Gericht in der Wüstenstadt Calama verhandeln Anwälte über die Frage, ob Gemeinden ausreichend konsultiert wurden. Draußen halten drei Frauen Schilder: »Agua para la vida« (Wasser ist Leben). Eine sagt leise: »Wir bitten nicht um Gnade. Wir bitten um Regeln.« Drinnen referiert ein Unternehmensvertreter Verfahrensschritte. »Transparenz«, sagt er. Draußen nickt niemand. Die Polizei ist präsent, aber zurückhaltend. Man kennt sich. Es ist ein kleiner Ort mit großen Fragen.
Transformation im kapitalistischen Sinne heißt: neue Märkte, alte Eigentumsverhältnisse. Saubere Produkte, schmutzige Ränder. Die Kurve zeigt nach oben, die Brunnen nach unten. »Grün« ist hier kein politisches Projekt, sondern eine Produktkategorie. Es gibt Zertifikate, die das belegen.
Eine Wirtschaftshistorikerin bringt es auf den Punkt: »Ohne Eigentumswende bleibt die Energiewende eine Wertschöpfungswende – weg von fossilen Renditen, hin zu mineralischen. Wer bezahlt, ändert sich nicht. Nur die Farbe des Marketings.«
Stimmen aus der Zukunft
Zurück in San Pedro. Es ist später Nachmittag, die Luft wird dünner, die Hitze bleibt. María Jesús betrachtet die spiegelnden Becken, als läge dort eine zweite Sonne. »Vielleicht sagen sie später, wir waren Teil der Lösung«, sagt sie. »Unsere Kinder werden sagen: Wir standen Schlange – für Wasser.«
Jorge hebt den Schlauch. »Man gewöhnt sich an vieles. Aber nicht an Durst.« Ein Junge fährt auf einem rostigen Fahrrad vorbei, klapprig wie eine alte Metapher.
In Zwickau endet die Spätschicht. Der Schichtleiter hält seine Karte an die Stechuhr. »Morgen wieder«, sagt er. »Und übermorgen auch. Hoffentlich hält der Akku.« Er meint die Produktion. Und vielleicht sich selbst.
Der neue Rohstoffkrieg hat ein grünes Banner. Er verspricht Elektronen, die die Welt erlösen, und rechnet in Kilowattstunden, die niemand trinken kann. Er liebt die Geometrie seiner Becken und hasst die Unberechenbarkeit der Menschen, die daneben leben. Er nennt das »Standortfaktor«.
Besitz dort, wo Macht ist. Mangel dort, wo der Rohstoff liegt. Das ist keine Pointe, das ist ein System. Und solange »grün« eine Renditekategorie bleibt, wird das Wasser eine Randnotiz bleiben – bis es keines mehr gibt.
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Die mit * gekennzeichneten Namen einzelner Gesprächspartner sind von der Redaktion geänderte
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (20. August 2025 um 17:48 Uhr)Leider fehlt im Artikel eine Übersicht der (potentiellen) Lieferstaaten – und auch der derzeitigen Verbraucher weltweit. Auch Chinas wirtschaftliche Entwicklung wiederholt mit voller Kraft die (angeborenen) Fehler des Kapitalismus, statt zu beweisen, dass Sozialismus Schutz und nicht Ausbeutung (im Wortsinn) der Natur bedeutet. Der »Sozialismus« in China ist keine Alternative für die Welt oder gar die südamerikanische »Pacha Mama«, sondern nur eine (scheinbar) andere kapitalistische Entwicklung.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (19. August 2025 um 21:52 Uhr)Die fehlgeleitete Mobilitätswende ist nicht Teil der Lösung, sondern Bestandteil des Problems. Also kann auch die Lithiumförderung nicht Teil einer Lösung sein. Batterietechnisch gibt es Lösungen in Hülle und Fülle, womöglich werden sogar Marktgesetze wirken (z.B. Natriumionenbatterie). Die gesellschaftliche Aufgabe, sinnvolle statt profitorientierter Lösungen zu implementieren, harrt ihrer Umsetzung. Da muss aber erst die Klasse an sich zur Klasse für sich werden.
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