25.03.2024 / Schwerpunkt / Seite 3

Keine kühlen Zeiten mehr

Symptome der Klimakatastrophe erreichen Rekordwerte: Weltorganisation für Meteorologie legte ihre Jahresbilanz für 2023 vor

Wolfgang Pomrehn

Lange Jahre ging es relativ nüchtern zu, wenn der Dachverband der nationalen Wetterdienste WMO (World Meteorological Organization) seine jährliche Bilanz des Zustands des Klimasystems vorlegte. Doch die Zeiten sind vorbei. Vergangene Woche sprach WMO-Chefin Celeste Saulo bei Veröffentlichung des diesjährigen Reports von »Alarmstufe Rot«: Zahlreiche Parameter verändern sich mittlerweile so rasant, dass die Sorgenfalten auf den Stirnen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer tiefer werden.

Die globale Temperatur ist inzwischen schon fast an der 1,5-Grad-Celsius-Grenze angelangt, die »möglichst nicht« überschritten werden sollte, wie es in der Pariser Klimaübereinkunft von 2015 heißt. In weiten Teilen Europas und Nordamerikas war es dem Bericht der Wissenschaftler zufolge 2023 durchschnittlich ein bis zwei Grad wärmer als im Mittel der Jahre 1991 bis 2020, die bereits stark durch die globale Erwärmung geprägt waren. In Teilen der Arktis war es sogar um zwei bis drei Grad wärmer. Entsprechend war in der nördlichen Hemisphäre die Schneebedeckung im Mai eine der niedrigsten seit Beginn der systematischen Erfassung im Jahr 1967.

Die Hochgebirgsgletscher haben seit 1950 fast die Hälfte ihrer Masse verloren, und die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis schrumpfen weiter. Die sieben Jahre mit dem höchsten dortigen Eisverlust wurden alle nach 2010 registriert. Nur in der Antarktis gab es aufgrund hohen Zuwachses durch Schneefälle in den letzten beiden Jahren eine Pause. Allerdings dürfte diese nur vorübergehend sein, denn das Meereis zieht sich inzwischen auch um den Südkontinent im Sommer immer weiter zurück, so dass die ins Meer fließenden Gletscher stärker Stürmen und Wellen sowie dem durch die Sonne erwärmten Wasser ausgesetzt werden.

Gleichzeitig nimmt die von den Weltmeeren aufgenommene Wärme immer mehr zu, da rund 90 Prozent der von den zusätzlichen Treibhausgasen eingefangenen Sonnenenergie dort landet. Das Wasser dehnt sich durch die Erwärmung aus, was neben dem Tauen der Gletscher und Eisschilde zum Meeresspiegelanstieg führt, der sich ebenfalls beschleunigt. Zwischen Januar 1993 und Dezember 2002 stieg der global gemittelte Meeresspiegel um jährlich 2,13 Millimeter, zwischen Januar 2003 und Dezember 2012 waren es schon 3,33 Millimeter und zwischen Januar 2014 und Dezember 2023 waren es bereits 4,77 Millimeter pro Jahr. Das entspricht mehr als einer Verdoppelung in den vergangenen 20 Jahren. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden die Pegel in den 2050ern im Mittel bereits um zwei Zentimeter im Jahr oder zwei Meter in 100 Jahren steigen. Für die rund 800 Millionen Menschen, die heute an den Küsten leben, sind das besorgniserregende Nachrichten. Eine Reihe von Inselstaaten wird einfach im Meer verschwinden.

Zusätzliche Probleme bekommen die Küstenbewohner durch die Versauerung der Meere und durch maritime Hitzewellen, zwei Faktoren, die dem Leben im Meer und damit perspektivisch auch der Fischerei stark zusetzen. Die Versauerung greift alle Lebewesen mit Kalkschalen und -skeletten an und gefährdet damit die Nahrungsketten in den Ozeanen. Sie ist eine Folge der Aufnahme des atmosphärischen Kohlendioxids an der Wasseroberfläche, die aufgrund der Treibhausgasemissionen zunimmt. Die zusätzlich auch wegen industrieller Überausbeutung schrumpfenden Fischbestände werden zum Problem für die an der Küste lebenden Menschen, die vom örtlichen Fang der Tiere abhängen. Sei es als Einkommensquelle, sei es, weil Fisch bisher eine kostengünstige Nahrung für sie ist.

Die all das verursachenden Treibhausgase reichern sich, auch das zeigen die neuen Daten der Weltorganisation für Meteorologie, weiter in der Atmosphäre an. Am wichtigsten ist das sehr langlebige Kohlendioxid, dessen Konzentration dort einen neuen Rekordstand erreichte. Ebenso die des Methans und des Distickstoffoxids. Letzteres wird in einigen industriellen Prozessen sowie bei unsachgemäßer Düngung freigesetzt. Methan entweicht unter anderem bei der Öl- und Gasförderung, und zwar im erheblich größeren Umfang als bisher gedacht, wie kürzlich die Internationale Energieagentur IEA feststellte.

Hintergrund: Strukturell konservativ

Die Nachrichten über den Zustand des Klimas sind erschreckend, jedoch nicht unerwartet. Seit spätestens den 1980ern wird vor dem, was da nun auf uns zurollt, öffentlich gewarnt. Immer eindringlicher wurden die Mahnungen der Wissenschaft, der Regierungen der Inselstaaten und zuletzt auch des UN-Generalsekretärs, der den Verantwortlichen ins Stammbuch schrieb, dass nicht Klimaschützer, sondern untätige Politiker kriminell sind. Schon 1993 hatte sich die Weltgemeinschaft – die reale und nicht nur die im Westen so gern imaginierte – darauf geeinigt, dass die Industriestaaten ihre Emissionen rasch herunterfahren, damit die Entwicklungsländer mehr Raum für ihre Entfaltung haben. Doch passiert ist herzlich wenig. Das CO2, das wichtigste Treibhausgas, reichert sich in der Atmosphäre an und verbleibt dort für mehrere Jahrtausende. Daher reicht es nicht, wie in Deutschland seit 1990, die Emissionen ab und zu ein bisschen zu vermindern, um in ferner Zukunft einmal bei null anzukommen. Notwendig wäre schon damals ein Plan gewesen, der die Emissionen kontinuierlich und zügig reduziert. Damit hätten viele Dörfer in den Braunkohleregionen gerettet werden können, wir hätten heute eine funktionsfähige Bahn und einen ebensolchen ÖPNV, die Luft in den Städten wäre erheblich weniger schadstoffbelastet, die Zahl der Verkehrstoten deutlich geringer und ganz nebenbei auch noch das Klima besser geschützt.
Es hat viele Gründe, weshalb sich eine solche Politik bisher nicht durchsetzen konnte. Zunächst ist da sicherlich der allen großen, hierarchischen Apparaten – Behörden wie Konzernen – innewohnende und systemunabhängige Strukturkonservatismus. So richtig ausleben kann sich dieser allerdings erst, wenn es auch mächtige wirtschaftliche Interessen gibt, die dem Wandel entgegenstehen. Etwa jene der hiesigen Automobilindustrie, die ihren Gewinn vor allem im Luxussegment mit irrwitzig verschwenderischen Limousinen und SUV macht, oder der Chemie-, Stahl- und Zementindustrien, die weder bereit sind, Marktanteile an weniger klimafeindliche Produkte abzugeben noch ihre Produktion ohne riesige staatliche Subventionen umzustellen. Dann sind da die Immobilienkonzerne, die sich mit Macht gegen die thermische Sanierung ihrer Bestände stemmen, jedenfalls solange sie diese nicht zugleich zum Schröpfen der Mieter einsetzen können. Nicht zuletzt ist es schließlich die allgemeine Wachstumssucht des Kapitalismus. Klimaschutz gibt es ihretwegen nur dort, wo sich mit ihm neue Märkte erschließen lassen und Gewinn machen lässt. Doch dass wir damit nicht schnell genug ans Ziel kommen, wird immer deutlicher. (wop)

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