25.03.2024 / Inland / Seite 5

Stunde der Spekulanten

Viel Geld auf der Suche nach Profit: Börsenboom trotz wirtschaftlichen Niedergangs – das ist kein Widerspruch

Klaus Fischer

Auch am Freitag blieb der Dax auf Rekordjagd. Nachdem der Deutsche Börsenleitindex in diesem Jahr bereits Anfang Februar die 17.000-Punkte-Marke nach Handelsschluss geknackt hatte, schaffte er am vergangenen Mittwoch den nächsten Tausendersprung und beendete den Handelstag mit 18.015 Punkten. Im Laufe des Freitags stieg er mehrmals auf über 18.200 Zähler. Die Euphorie scheint anzuhalten.

Allerdings hat die Börsenhatz – die in den USA gestartet wurde – keinen direkten Bezug zur wirtschaftlichen Lage. Denn die ist jenseits des Atlantiks eher mittelmäßig. In den EU-Staaten kann sie nur als trübe bezeichnet werden. Die besten Prognosen für dieses Jahr hat der Ministaat Malta, währen in Germany, der immer noch mit Abstand stärksten Ökonomie des Staatenbundes, die Zeichen auf Rezession stehen.

Das erscheint widersprüchlich, ist aber nicht ungewöhnlich. Die Vorstellung, wonach ein ansteigender Dax ein gutes Zeichen für alle sei, ist längst nicht mehr stimmig. Die BRD ist seit über 30 Jahren nicht mehr der rheinische Vorzeigestaat, das schillernde Schaufenster nach Osten, sondern eine im ökonomischen Abstieg befindliche Industrie- und Handelsmacht, deren verantwortliche Politiker eigentümliche Vorstellungen davon haben, was Kapitalismus bedeutet oder was eine »Zeitenwende« ist.

Deutschlands Wirtschaftsleistung ist 2023 zurückgegangen. Auch für das laufende Jahr sind nur Wunschdenker überzeugt davon, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um ein oder zwei Zehntelprozentpunkte wachsen könnte. Vor allem die Industrie leidet unter nicht konkurrenzfähigen Energiekosten. Die sind das Resultat einer dilettantischen Klimaschutzpolitik und eines ökonomisch sinnfreien Wirtschaftskriegskurses gegen Russland. Hinzu kommen ein vielbeschworener Fachkräftemangel, unzählige Kontroll-, Berichts- und Überwachungsvorschriften der EU und der Regierung – was die ohnehin überbordende Bürokratie zu einem hemmenden Produktionsverhältnis gemacht hat. »Aufschwung« geht anders.

Wie also passt das zu dem Aktienboom? Knapp gesagt: Das BIP beschreibt (von statistischen Mogeleien abgesehen) die materielle Realität. Börsenindizes sind Ausdruck von Erwartungen und Hoffnungen von Leuten, deren größte Angst darin besteht, ihr Geld könnte keine Rendite mehr abwerfen – diese Indizes sind eine Art imaginäre Realität.

Mit letzteren sind nicht die zahllosen Kleinanleger gemeint, die ihr Erspartes als Alterssicherung oder zweites Einkommen angelegt haben. Die entscheidenden Akteure – insbesondere des Dax, in dem die 40 wichtigsten börsennotierten Unternehmen der BRD zusammengefasst sind, sind institutionelle Großinvestoren, allen voran die US-Megafondsgesellschaften wie Blackrock, Vanguard und Co. Letztere haben von jedem Dax-Unternehmen Aktienpakete im Depot, über die sie Einfluss nehmen und Kontrolle ausüben. Und das D im Wort Dax weist allenfalls auf den Standort hin, an dem die Aktien gehandelt werden. Rund 80 Prozent der Anteilseigner kommen aus dem Ausland.

Ähnliches gilt für die meisten der 40 Dax-Konzerne selbst: Bei denen beträgt der Auslandsanteil am Umsatz laut Business Insider rund 75 bis 80 Prozent. Auch die Produktion erfolgt demnach zu einem weit höheren Teil im Ausland als bei kleinen und mittleren Unternehmen. Es ist kaum verwunderlich, dass die Performance der zweiten und dritten Liga, M-Dax und S-Dax, bei den Kursen nicht mit den Großkonzernen mithalten kann.

Jede Börsenrallye braucht – wie es die Zeit will – auch eine spezielle »Erzählung«. Aktuelles Narrativ ist der scheinbar unaufhaltsame Boom von Anwendungen sogenannter künstlicher Intelligenz. Dies hat den Aufstieg von Microsoft an die Spitze der Weltbörsenliga (»wertvollstes« Unternehmen und Anführer der »glorreichen sieben« US-Tech-Giganten, zu denen noch Alphabet, Apple, Meta, Nvidia, Amazon und Tesla zählen) ermöglicht.

Natürlich zeichnen steigende Aktienindizes bei schwacher Konjunktur auch ein Bild vom gesamten Geschäftsumfeld. Die Flucht von Anlegern in Edelmetalle, besonders in Gold (dessen Preis hat zuletzt wieder stark angezogen) spiegeln durchaus die steigende Kriegsgefahr wider. Fazit: Der Aktienboom ist eher ein Anzeichen von Schwäche und Unsicherheit. Es ist die Stunde der Spekulanten.

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