25.03.2024 / Ansichten / Seite 8

Falsche Flaggen

Terror in Russlands Hauptstadt

Reinhard Lauterbach

Zwei Tage nach dem Anschlag auf einen vollbesetzten Konzertsaal in Moskau fehlt die ganz heiße Spur. Dass vier mutmaßliche Täter südwestlich von Moskau in der Nähe der Grenze zur Ukraine gestellt wurden, beweist weniger, als auf russischer Seite behauptet wird. Solange nicht Russland den Beleg für Wladimir Putins Behauptung vorlegt, die Verdächtigen hätten »ein Fenster für den Grenzübertritt in die Ukraine vorbereitet« gehabt, sollte man erst einmal die einfachste Vermutung verfolgen. Jeder Terrorist wird sich dorthin abzusetzen versuchen, wo die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, belangt und/oder ausgeliefert zu werden. Vor diesem Hintergrund ergab sich für die Täter von Moskau das Fluchtziel Ukraine von selbst: Sie ist auf dem Landweg halbwegs schnell zu erreichen, und das Gelände im Grenzgebiet ist unübersichtlich und bietet viele Verstecke. Daraus allein folgt nicht, dass die Ukraine hinter der Tat steht; schließlich hat auch die DDR seinerzeit aussteigewilligen RAF-Mitgliedern Unterschlupf geboten, ohne dass sie für die Aktivitäten der RAF verantwortlich war.

Ebenso zweifelhaft ist die in der Ukraine vorgetragene Version, es handle sich bei dem Anschlag um eine False-Flag-Operation des russischen Geheimdienstes. Hier wird erstens ein neues Gerücht unter Verweis auf ältere Gerüchte in die Welt gesetzt: die bis heute nicht aufgeklärten Anschläge in Russland zu Beginn von Putins erster Amtszeit. Auch damals schon hatten westliche Medien behauptet, diese Explosionen seien vom FSB inszeniert worden, um die öffentliche Meinung zugunsten des zweiten Tschetschenien-Krieges zu beeinflussen. Wenn es jetzt aus Kiew heißt, der Anschlag vom Freitag habe die russische Öffentlichkeit einstimmen sollen auf eine weitere Eskalation des russischen Vorgehens in der Ukraine, dann ist dies schon deshalb nicht zwingend, weil die russische Gesellschaft gerade erst mit der hohen Zustimmung zu Putin auch ihre grundsätzliche mit dem Krieg in der Ukraine bekundet hat. Das Hilfsargument, dieses Wahlergebnis sei ja manipuliert gewesen, zieht ebenso nicht. Denn jetzt soll es doch nicht manipuliert gewesen sein, und die russische Öffentlichkeit soll einen neuen Anstoß brauchen für eine Zustimmung, um die sie bisher auch nicht gebeten worden ist?

Dass die unmittelbar Ausführenden womöglich Islamisten waren, beweist im übrigen nicht viel. Der IS hat eine lange Geschichte darin, in fremdem Interesse zu morden. Wo hätte er von sich aus auch die Ressourcen für seinen jahrzehntelangen Terror etwa in Syrien holen sollen? Es waren die USA, die seinerzeit zum Beispiel seinen Raubbau an ostsyrischen Ölquellen geduldet haben. Es wird wahrscheinlich lange dauern, bis halbwegs verlässlich herauskommt, wer dieses Massaker in wessen Auftrag angerichtet hat. Wenn überhaupt.

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