22.04.2024 / Schwerpunkt / Seite 3

Lenin als Nazikriegsbeute: Die historische Verantwortung für Zeugnisse des »Ostfeldzugs«

Carlos Gomes

Die BRD steht als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs in einer besonderen Pflicht bezüglich der Aufarbeitung der Nazikriegsverbrechen und des Gedenkens an die Opfer. Wie ernst diese historische Verantwortung genommen wird, scheint in den meisten Fällen allerdings stark von der Opfergruppe und den eigenen politischen Interessen abzuhängen. Geht es um die Sowjetunion und auch noch um Lenindenkmäler, bröckelt die Fassade der Vergangenheitsbewältigung. Das zeigt der Umgang nach 1990 mit zwei Lenindarstellungen, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsbeute von der Wehrmacht nach Deutschland gebracht worden waren.

In ihrem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion stahlen die Nazis massenweise Metallgegenstände, die in Deutschland eingeschmolzen werden sollten, um als Rohmaterial für die Kriegsindustrie zu dienen. Darunter befanden sich auch zwei Lenindenkmäler aus Bronze: ein Standbild und eine Büste. Das drei Meter hohe und über zwei Tonnen schwere Standbild war von der sowjetischen Stadt Puschko ins sachsen-anhaltische Eisleben transportiert worden. Da es nicht in den Schmelzofen passte, blieb es verschont und wurde wenige Wochen nach der deutschen Kapitulation von Mitgliedern des antifaschistischen Widerstands auf dem zentralen Rathausplatz aufgestellt. Später schenkte die Sowjetunion der Stadt Eisleben offiziell die Statue, die aufgrund ihrer sonderbaren Chronik Bekanntheit in der ganzen DDR erlangte. Nach dem Beitritt zur BRD wurde das Denkmal trotz seines historischen Werts unverzüglich abmontiert und ins Deutsche Historische Museum in Berlin gebracht. Doch als die Dauerausstellung vor wenigen Jahren umgestaltet wurde, verschwand der monumentale Lenin in einem staubigen Depot.

Noch beschämender war der Umgang mit der goldlackierten Leninbüste. Sie war in Küstrin-Kietz an der heutigen deutsch-polnischen Grenze gelandet, wo Arbeiter einer Verschrottungsfirma sie vor einer möglichen Einschmelzung retteten. Noch im Sommer 1945 kam die Skulptur auf einen steinernen Sockel. Nach 1990 wurde das Denkmal einfach demontiert und in einem Schuppen hinter dem Haus der Gemeindeverwaltung gelagert. Aufgrund bevorstehender Bauarbeiten sollte es dann zusammen mit anderen sperrigen Objekten entsorgt werden. Ein wachsamer Nachbar verhinderte dies und brachte die Leninfigur in Sicherheit. Inzwischen ist sie als Teil der DDR-Sammlung des privaten Vereins »IFA-Freunde« in Trebus-Fürstenwalde zu besichtigen.

Doch selbst wenn in diesem Fall die Skulptur gerettet werden konnte: Der staatliche Umgang mit diesen zwei Denkmälern ist nicht nur gegenüber dem kulturellen Erbe der DDR, sondern auch gegenüber den Millionen Opfern des deutschen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion eine unfassbare Anmaßung.

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