27.04.2024 / Kapital & Arbeit / Seite 9

Boeing in Turbulenzen

Unfälle, Sicherheitsmängel und ein toter Whistleblower: Krise um Mittelstreckenjet 737 Max bedroht US-Konzern

Klaus Fischer

Ein Gigant wird durchgeschüttelt: Nach einer Serie von Unfällen und Sicherheitsmängeln in der Zivilflugzeugbranche des Rüstungsmultis The Boeing Company (die für circa 44 Prozent des Umsatzes steht) verliert der Konzern nicht nur eine Menge Geld. Auch die Reputation des Airbus-Konkurrenten ist ramponiert – nicht zuletzt nach dem rätselhaften Selbstmord des Whistleblowers John Barnett Anfang März und den Aussagen eines weiteren konzerninternen Informanten. Inzwischen versuchen Fluggesellschaften offenbar, die Furcht der Passagiere vor den Pannenfliegern durch den Einsatz anderer Flugzeugtypen zu mildern. »Die zahlreichen Pannen bei Boeing-Maschinen lassen Fluggäste ängstlich werden. Manche würden am liebsten auf einen anderen Flugzeugtyp umbuchen«, schrieb am 11. April das Magazin Stern.

Boeing ist seit den Abstürzen zweier 737-Max-Jets mit 346 Todesopfern im Jahre 2019 praktisch in einer Dauerkrise. Der Konzern musste u. a. ein langfristiges Flugverbot für die 737er-Serie hinnehmen. Daraufhin fiel der US-Platzhirsch aus Seattle hinter Airbus zurück. Und auch 2024 begann desaströs. Zunächst brach ein Teil der Bordwand bei einer Boeing 737 Max 9 der Alaska Airlines ab. Im März wurden 50 Personen verletzt, als auf einem Flug zwischen Australien und Neuseeland »technische Probleme« (Handelsblatt) auftraten. Und zuletzt verlor eine Maschine während des Fluges die Abdeckung eines Triebwerkes.

All das alarmierte nicht nur Passagiere und Airlines, sondern rief auch die US-Luftfahrtbehörde FAA auf den Plan. Die verordnete zunächst ein Startverbot der Maschinen bis zu einer technischen Überprüfung. Auch die Produktionsprozesse wurden untersucht. Vorerst darf das Unternehmen nicht mehr als 38 Maschinen der 737-Reihe pro Monat bauen.

Im ersten Quartal hat Boeing nach Angaben von dpa fast vier Milliarden Dollar (3,74 Milliarden Euro) verloren. Allein die Entschädigungen für Fluggesellschaften nach dem längeren Startverbot sollen 443 Millionen Dollar gekostet haben. Das schlug sich auch auf den Aktienkurs nieder. Trotz des von US-Regierung und -Kongress angefachten Booms der Rüstungsindustrie und Subventionen durch den Staat (Boeing erhielt laut Wikipedia seit 1999 fast 24 Milliarden Dollar direkt und zusätzlich Exportunterstützung in Höhe von 200 Milliarden Dollar) gab das Papier im ersten Quartal um 33 Prozent nach.

Das vergrößert den Vorsprung von Airbus. Der westeuropäische Multi baut aktuell rund 50 Maschinen der Boeing-Konkurrenzmodelle der A320neo-Familie im Monat, teilte die Nachrichtenagentur Reuters mit. Konzernchef Guillaume Faury wolle die Zahl bis 2026 auf 75 Jets steigern. Doch die Ausfälle von Boeing können durch den Marktführer nicht einfach kompensiert werden. Substantielle Kapazitätserweiterungen sind kurzfristig nicht möglich. Wie Boeing treiben auch Airbus Probleme mit den Zulieferern um. Die Lieferketten seien weiterhin angespannt, so Faury am Donnerstag. Vor allem der Fertiger Spirit Aerosystems, der früher zu Boeing gehörte und wieder in den US-Rivalen eingegliedert werden soll, macht Airbus laut Reuters Sorgen.

Boeing-Chef David L. Calhoun – früher Spitzenmanager des Investmentriesen Blackstone – sprach am Mittwoch von einer »kurzfristig« schwierigen Phase für den Konzern. »Aber Sicherheit und Qualität müssen und werden über allem stehen«, zitierte ihn Reuters. Wie ernst die Lage tatsächlich ist, bewies Calhoun damit, dass er seinen Rückzug vom Chefposten zum Jahresende verkündete. Der CEO räumte auch Probleme beim Langstreckenjet Dreamliner 787 ein.

Die Whistleblower sind auch nach John Barnetts »Selbstmord« auf einem Motelparkplatz nicht verstummt. Kurz vor einer Senatsanhörung in der vergangenen Woche hatte Boeing-Ingenieur Sam Salehpour auch die Sicherheit der Langstreckenjets angezweifelt. Weltweit müssten sämtliche Dreamliner vorübergehend aus dem Verkehr gezogen werden, so der Informant. Das Flugzeug könnte auseinanderfallen und »zu Boden stürzen«, warnte Salehpour im US-Sender NBC News.

Boeing hat auch Probleme aufgrund der US-Sanktionen gegen Russland. Wärmetauscher für den Dreamliner wurden früher beim aktuellen Erzfeind gekauft. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs und der gegen Moskau verhängten »Strafen« wurde der Auftrag an einen neuen Zulieferer vergeben, bestätigte Calhoun gegenüber Reuters. Der allerdings könne seine Kapazitäten nicht schnell genug ausbauen.

https://www.jungewelt.de/artikel/474241.flugzeugbau-boeing-in-turbulenzen.html