07.05.2024 / Titel / Seite 1

NATO: Volles Risiko

Brüssel erwägt Kampftruppen für Ukraine, Scholz an der »Ostflanke«. Moskau reagiert mit Atomwaffenübung

Arnold Schölzel

Die selbstgesetzten »roten Linien« der NATO für eine direkte Beteiligung am Krieg gegen Russland werden seit Wochen überschritten: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schloss trotz angeblicher Ablehnung Berlins und NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg wiederholt die Entsendung von Soldaten nicht aus. Am Freitag gab der britische Außenminister David Cameron bei einem Besuch in Kiew grünes Licht, britische Raketen auch in Russland selbst einzusetzen.

Am selben Tag reagierte Dmitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten: »Das ist eine sehr wichtige und sehr gefährliche Äußerung.« Peskow bezeichnete Macrons und Camerons Aussagen als »direkte Eskalation der Spannungen um den ukrainischen Konflikt, die potentiell eine Gefahr für die europäische Sicherheit und die gesamte Architektur der europäischen Sicherheit darstellen kann«. In diesem Zusammenhang warnte das russische Außenministerium Kiew vor einem »verheerenden Vergeltungsschlag«, sollte es die Krim oder die Krimbrücke angreifen.

Am Sonntag berichtete dann die italienische Tageszeitung La Repubblica, die NATO habe erstmals inoffiziell »rote Linien« für ein direktes Eingreifen in den Krieg bestimmt: Das erste Szenario sei der Kriegseintritt von Belarus beim gleichzeitigen Zusammenbruch der nordwestlichen Verteidigungslinie der Armee Kiews, das zweite eine militärische Provokation Russlands gegenüber dem Baltikum oder Polen sowie ein gezielter Angriff auf Moldau.

Am Montag teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit, Raketenverbände des südlichen Militärbezirks und Seestreitkräfte würden die Vorbereitung und den Einsatz »nicht strategischer Atomwaffen« üben. Ziel sei es, die territoriale Integrität Russlands »als Reaktion auf die provokativen Äußerungen und Drohungen einiger westlicher Offizieller gegen die Russische Föderation« zu gewährleisten. Peskow machte am selben Tag noch einmal auf die Äußerungen Macrons sowie die britischer und US-Politiker aufmerksam, »Streitkräfte in die Ukraine zu schicken«. Das bedeute »faktisch, NATO-Soldaten gegen russische Militärs aufzustellen. Dies ist eine völlig neue Runde der Eskalation von Spannungen. Es ist beispiellos«. Ebenfalls am Montag teilte das russische Außenministerium mit, es habe den britischen Botschafter in Moskau, Nigel Casey, einbestellt. Er sei gewarnt worden, dass die russische »Antwort auf ukrainische Angriffe mit britischen Waffen auf russischem Territorium jede britische Militäreinrichtung und Ausrüstung auf ukrainischem Territorium und darüber hinaus« treffen könne. Ein Sprecher des deutschen Verteidigungsministeriums erklärte, von Änderungen in der Bereitschaft der russischen Atomstreitkräfte sei nichts bekannt. Der Kovorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour sprach von einer Provokation.

Selbstverständlich keine Provokation: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ließ sich am Montag auf dem größten Truppenübungsplatz Litauens wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu Belarus in einem »Boxer«-Schützenpanzer zu einer Gefechtsübung mit scharfer Munition fahren. Er würdigte die Übung mit Tausenden Bundeswehrsoldaten als Teil des NATO-Manövers »Steadfast Defender«: »Das ist die größte Verteidigungsübung der NATO seit dem Ende des Kalten Krieges. Sie zeigt auch, dass wir entschlossen sind, unser NATO-Territorium zu verteidigen.«

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