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Aus: Dokumentation: »Wir klagen an«, Beilage der jW vom 08.05.2024
Palästina-Kongress

»Es geht nicht um Auschwitz, sondern um die NATO«

Materielle Interessen hinter der Staatsräson bedingungsloser Israel-Solidarität
Von Dror Dayan
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Verzweiflung, Hunger und Angst in den Augen palästinensischer Kinder (Gaza-Stadt, 27.3.2024)

Es freut mich sehr, mit euch heute reden zu können, auch wenn das leider nur per Video möglich ist und nicht persönlich, wie geplant. Mein Name ist Dror Dayan, ich bin Filmemacher und Akademiker. Und ich bin auch in der Palästina-Solidaritätsbewegung aktiv, sowohl in Berlin als auch in Großbritannien. Ich wurde darum gebeten, heute darüber zu sprechen, warum Deutschland so eine bedingungslose Unterstützung für den Zionismus betreibt. Dieses Thema ist immer wichtig, aber nach dem, was bei dem Kongress passiert ist, haben wir jetzt eine konkrete und klare ­Demonstration dafür, wie und in welchem Maß Deutschland den Genozid in Gaza und den Zionismus unterstützt, auch hier im Lande. Es ist wichtig, darüber zu sprechen, warum es so ist.

Eine wichtige Sache möchte ich schon vorwegnehmen: Wir hören oft die Parole »Free Palestine from German Guilt.« Sie ist gut gemeint, aber meiner Meinung nach fehlgeleitet. Ich versuche zu zeigen, warum das eine ideologische Falle ist, und versuche, sie zu durchdringen.

Wir wissen: Zionismus ist Staatsräson. Das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel schon 2008 vor der Knesset gesagt. Diese Rede gilt manchmal als die Geburtsstunde der jetzigen Diskussion. In dieser Rede ist nichts Neues, aber sie verkörpert viel. Zum 15. Jahrestag dieser Rede sollen wir sie wieder genauer anschauen.

Wir überspringen das peinliche Vorwort auf Hebräisch. Denn in guter deutscher Tradition lernt jeder Deutsche, der nicht Nazi sein will, ein paar Worte auf Hebräisch, oft Schalom und Schoah, und möchte damit prahlen. Das hat auch Merkel vor der Knesset gemacht.

Bevor wir zur Frage der Staatsräson kommen, heißt es in der Rede: »Für mich steht außer Frage: Israel und Deutschland, Israel und Europa sind solche Partner – verbunden durch gemeinsame Werte, verbunden durch gemeinsame Herausforderungen und verbunden durch gemeinsame Interessen. Denn Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, Sicherheit und Frieden in Europa wie in dieser Region sind in unserem beiderseitigen Interesse.« Wenn westliche Politiker von Sicherheit und Frieden reden, dann entsichere ich meine Browning, wie die Deutschen sagen. Aber hören wir weiter zu – was sah Merkel als die gemeinsamen Werte und Interessen des deutschen Imperialismus und des zionistischen Kolonialprojekts an? Denn das ist angesichts der jetzigen Situation um so relevanter:

»Wenn der Iran in den Besitz der Atombombe käme, dann hätte das verheerende Folgen – zuerst und vor allem für die Sicherheit und Existenz Israels, dann für die gesamte Region und schließlich, weit darüber hinaus, für alle in Europa und der Welt, für alle, denen die Werte Freiheit, Demokratie und Menschenwürde etwas bedeuten. Das muss verhindert werden.« Nicht Schoah, eigentlich auch nicht Palästina – es geht um Iran und die Sicherheit in der Region. Ein weiterer wichtiger Punkt, den Merkel deutlich machte, ist, dass diese gemeinsamen Werte und Interessen völlig unabhängig von den Werten und Interessen der Bevölkerung und Gesellschaft sind:

»Wie gehen wir damit um, wenn in Umfragen eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa sagt, die größere Bedrohung für die Welt gehe von Israel aus und nicht etwa vom Iran? Schrecken wir Politiker in Europa dann aus Furcht vor dieser öffentlichen Meinung davor zurück, den Iran mit weiteren und schärferen Sanktionen zum Stopp seines Nuklearprogramms zu bewegen? Nein, wie unbequem es auch sein mag, genau das dürfen wir nicht.«

Und deswegen heißt es ja auch Staatsräson – weil eine Staatsräson fest und unabhängig vom Willen der Bevölkerung ist. Es ist egal, was wir als Staatsbürger Deutschlands wollen, die Staatsräson hat immer Priorität. Und jetzt zum Highlight:

»Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.« Das kennen wir meistens wahrscheinlich schon, aber es ist vielleicht auch wichtig zu merken, wie der Absatz endet: »Die Bundesregierung wird sich dabei, wenn der Iran nicht einlenkt, weiter entschieden für Sanktionen einsetzen.« Es geht also bei dieser Staatsräson oder mindestens bei dieser Rede nicht um irgendeine abstrakte »Sicherheit«, sondern um konkrete imperialistische Maßnahmen.

Was lernen wir aus dieser Fallstudie? Wir müssen immer diese »Werte« und vor allem »Interessen« untersuchen. Merkel sagt deutlich, die Gefahren für das zionistische Projekt sind auch Gefahren für Europa und »die Welt« – damit meint sie die NATO-Staaten und nicht etwa Kuba oder Venezuela. Es ist kein Geheimnis und keine Verschwörungstheorie, dass Israel, auch wenn es manchmal aus der Reihe tanzt und eigene Ziele verfolgt, immer noch ein Bollwerk des Imperialismus im Nahen Osten ist. Das sollte die Basis für jegliche Analyse des Zionismus sein. Das bedeutet, dass wir solche Fragen, die wir uns an diesem Wochenende stellen – oder stellen wollten, bevor Deutschland es uns mit Gewalt verboten hat –, ständig im Zusammenhang mit der geopolitischen Situation in der Region sehen müssen. Und die vergangenen sechs Monate haben uns auch deutlich gezeigt, dass es eigentlich nur Akteure aus der Region sind, die sowohl den Willen als auch die Möglichkeit haben, den Preis des Genozids für den Zionismus teuer zu machen. Das sehen wir im Jemen, im Iran oder am Widerstand im Südlibanon.

Also müssen wir uns fragen, welche Rolle die Beziehungen zwischen der BRD und dem zionistischen Projekt in der Region spielen. Und weil Imperialismus eben Imperialismus ist, geben uns die wirtschaftlich-militärischen Aspekte dieser Beziehungen, und vor allem die Rüstungsexporte, einen Hinweis dafür.

Ich möchte nicht zu detailliert über Rüstungsexporte sprechen, da wir einige sehr gute Genossen haben, die sich damit viel besser auskennen und die darüber berichten können. Die meisten hier wissen wahrscheinlich, dass Deutschland der zweitgrößte Lieferant von Waffen an das zionistische Projekt ist, und dass die Rüstungsexporte sich seit Beginn des Genozids in Gaza fast verzehnfacht haben – also auch sehr relevant für den jetzigen Genozid und Deutschlands Komplizenschaft dabei sind. Aber wie bei allem, worüber wir hier sprechen, fing auch hier die Weltgeschichte nicht am 7. Oktober an, sondern vor Jahrzehnten. Und da will ich über zwei wichtige Aspekte der militärischen Zusammenarbeit und der Exporte sprechen, die stark miteinander verbunden sind. Ich möchte diese kurz unter die Lupe nehmen, da sie ein sehr gutes Beispiel sind für das, was Merkel »gemeinsame Interessen« nennt: Das sind der Verkauf von U-Booten und, noch wichtiger, das israelische Nuklearprogramm.

Im Januar 2022 hat Israel drei »Dakar«-U-Boote von Thyssen-Krupp im Wert von drei Milliarden Euro bestellt, zusätzlich zu drei »Dolphin«-U-Booten, die die BRD in den 90ern an Israel geliefert und zum großen Teil selbst finanziert hat. 2006 kamen noch zwei U-Boote dazu, im Wert von 1,3 Milliarden Euro. Schon allein das ist ein ziemlich großes Geschäft, das uns zeigt, dass es hier mindestens genauso viel um Geld geht wie um die Uniform, die noch im Schrank von Opa hängt. Aber dann müssen wir uns auch die Frage stellen, wozu eine Armee, deren Hauptaktivitäten in der Bombardierung von Kindern aus der Luft oder dem Schikanieren von Arbeitern an Checkpoints besteht, mehrere atomwaffenfähige U-Boote benötigt.

Nuklear-U-Boote sind der dritte und vielleicht wichtigste Teil einer sogenannten »Nuclear Triad« – die Möglichkeit, Atomwaffen vom Boden, aus der Luft und aus dem Meer abzufeuern. Sie bieten die Möglichkeit, sich im Meer zu verstecken, beispielsweise im Persischen Golf, und von dort aus Raketen abzufeuern. Deswegen sind sie auch so wichtig für den sogenannten »Second Strike«, einen nuklearen Schlag nach einem erfolgreichen nuklearen oder anderen großen Angriff auf das eigene Territorium. Die deutschen U-Boote erlauben dem zionistischen Projekt also, fast überall in der Region mit Atomwaffen anzugreifen, was es natürlich schwieriger für ein Land wie Iran macht, beispielsweise auf zionistische Terrorangriffe wie neulich auf das Konsulat in Damaskus zu reagieren.

Aber atomwaffenfähige U-Boote brauchen auch Atomwaffen, und Deutschland hat sehr viel zur Herstellung dieser Waffen beigetragen. Die Zeitung Die Welt, sicher keine Freundin der Verdammten dieser Erde, hat 2015 eine Recherche darüber veröffentlicht, wie Deutschland das Atomprogramm Israels mitfinanzierte. Laut dem Bericht finanzierte Westdeutschland schon 1961 die Anlage in Dimona in der Wüste Naqab, getarnt als Beitrag »zur Entwicklung des Negev« – das ist der zionistische Name der Naqab –, beschlossen durch Ben-Gurion und Adenauer und geführt heimlich und ohne Beteiligung von Bundestag und Kabinett unter dem Decknamen »Aktion Geschäftsfreund«. Das alles erlaubt Deutschland, einen atomschlagsfähigen Verbündeten in der Region zu haben, ohne selbst die Verantwortung für den roten Knopf tragen zu müssen. Deutsche U-Boote mit deutschen Waffen, dieses Mal aber ohne deutsche Schuld. Also viel mehr als ein historisches schlechtes Gewissen wegen Opa sehen wir hier geo­politische Interessen – die praktischerweise wieder gemeinsame Interessen sind, wie Merkel sagt.

Heute aber fließen ja die Waffen nicht nur in eine Richtung, da wir jetzt bekanntlich eine »Zeitenwende« erleben und dafür ausgerüstet sein müssen. Der NATO-Stellvertreterkrieg in der Ukraine pusht den EU-Imperialismus auf Hochtouren. So fließen jetzt drei Milliarden Euro wieder in die andere Richtung, weil die BRD von Israel »Arrow 3« Abwehrraketen kauft, in einem weiteren Ausdruck gemeinsamer Werte und Interessen. Diese Raketen kamen auch bei den letzten Vergeltungsaktionen Irans zum Einsatz. Dazu erklärte der israelische Kriegsminister Joaw Gallant während des Deals in Berlin: »Heute sind wir mehr denn je von gemeinsamen Bedrohungen betroffen. Der iranische Fingerabdruck ist überall zu sehen.« Laut Bericht der Times of Israel bezieht er sich hier »auf iranische Stellvertreter an Israels Grenzen als auch auf den Verkauf iranischer Drohnen an Russland, mit denen das Schlachtfeld in der Ukraine beschossen wird«. Gemeinsame Feinde, gemeinsame Interessen, gemeinsame Werte. Gallant fügte auch hinzu, dass diese Waffensysteme nur an Staaten verkauft werden, die Israels Interessen vertreten. Boris Pistorius sagte dazu: »Wir würden ›Arrow 3‹ gerne in den umfassenden Verteidigungsschild der NATO einbinden, damit unsere Nachbarn davon profitieren können.« Damit meint er andere NATO-Staaten. Wenn Gallant sich nach so einem Deal an »Gleis 17« fotografieren lässt, geht es um die NATO und nicht um Auschwitz.

Ich hoffe, all das macht es deutlicher, worum es bei der Unterstützung des zionistischen Projekts seitens der BRD geht. Dann wird auch die Repression gegen die Palästina-Solidarität klarer. Es ist wichtiger, über diese Aspekte zu reden als über deren ideologische Tarnung wie »historische Verantwortung« oder andere Lügen. Die Ideologie ist nur eine Waffe der Herrschenden, um die materielle Realität zu verteidigen und aufrechtzuerhalten oder zu verschleiern. Aber es ist natürlich auch wichtig, über diese Waffe zu sprechen, da viele von uns dieser Repression ausgesetzt sind. Und es ist wichtig, anzumerken, dass auch dies nicht am 7. Oktober begonnen hat. Verbote von Nakba-Demos hatten wir schon in den Jahren davor. Heute werden Leute wegen »From the River to the Sea – Palestine will be Free« festgenommen – eine Parole, die unbedingt zu verteidigen ist, da sie nichts außer gleiche Rechte für alle Menschen im Lande fordert. Aber vor zehn Jahren war es die Parole »Kindermörder Israel«. Vielleicht haben wir heute mehr mit institutioneller Repression zu tun, mit der Kündigung von Journalisten, mit Ausladungen, dem Streichen von Geldern. Aber es war nie besonders einfach, hier palästinasolidarisch zu sein. Und natürlich sind Institutionen der Kultur und Medien die Hauptträger der Staatsideologie, vor allem wenn sie vom Staat finanziert werden.

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