Über neue Tendenzen in der
Literatur Lateinamerikas, Chávez’ Bekenntnis zum Marxismus und die
Wahlen in Venezuela. Ein Gespräch mit Luis Britto García
Luis
Britto García (geboren 1940 in Caracas) ist einer der bekanntesten
Schriftsteller, Essayisten und Literaturwissenschaftler Venezuelas. Auf
der Internationalen Buchmesse in Havanna stellte er seinen neuen Roman
»Pirata« vor
Welchen Eindruck haben Sie von der
Internationalen Buchmesse in Havanna?
Einige meiner
Kollegen haben gesagt, diese Messe gleiche eher einem Rockkonzert oder
einem Fußballendspiel. Es ist immer wieder beeindruckend, wie neue
Bücher so viele Menschen anziehen können. Wir kennen so etwas von
Großveranstaltungen wie der Buchmesse in Frankfurt, aber in
Lateinamerika, das noch immer vom Analphabetismus geprägt ist, ist eine
solche Veranstaltung, die so viele Menschen anzieht, die sich neue
Bücher ansehen wollen, einzigartig und beispielhaft.
Gibt es
etwas vergleichbares in Venezuela?
Es gibt eine
jährliche Buchmesse, aber diese erreicht keine solche Größenordnung wie
hier in Havanna oder auch in Bogotá, wo es ebenfalls eine große
Buchmesse gibt. In Venezuela hat die Regierung die Auflagenzahl der
veröffentlichten Bücher verdreifacht und den Analphabetismus überwunden,
wofür sie von der UNESCO ausgezeichnet wurde. Es gibt aber noch einige
Probleme beim Vertrieb und vor allem beim Leseverhalten.
Was
sind für Sie die derzeit wichtigsten Entwicklungen in der
lateinamerikanischen Literatur?
Interessanterweise
beeinflußt die Integration Lateinamerikas die Literatur noch nicht.
Manchmal dauert es, bis aktuelle Ereignisse von der Literatur
widergespiegelt werden. Andere Ereignisse werden von der Literatur
hingegen vorweggenommen. So spielt die derzeitige Entwicklung Venezuelas
zum Sozialismus in der Literatur unseres Landes bereits seit 1960 eine
Rolle, es gab eine revolutionäre Kulturavantgarde. Es gibt viele
Bücher, die die Rebellion und die Gewalt in Venezuela zum Thema haben,
aber der große Roman über den venezolanischen Prozeß ist noch nicht
erschienen. Das kann man aber nicht erzwingen, sondern muß Geduld haben.
Es hat bereits einige Versuche gegeben, die aber von ihrer Form her
nicht sonderlich gelungen sind.
In der Literatur Lateinamerikas
dominiert nach einer Phase von Experimenten auf der formellen Ebene
derzeit eine Richtung sehr einfacher Erzählungen über persönliche
Ereignisse und persönliche Sichtweisen. Die Autoren beschreiben sehr
umfangreiche und komplizierte Themen, aber in einer Weise, die das
Verständnis durch den Leser vereinfacht. Interessanterweise gibt es eine
reichhaltige Literatur über das Exil, viele Schriftsteller, schreiben
über ihre Erfahrungen in Europa oder in den USA. Ein weiteres Thema ist
der Staatsterrorismus, der in gewisser Weise das Genre des
lateinamerikanischen Kriminalromans prägt. Schließlich gibt es eine
starke Strömung weiblicher lateinamerikanischer Literatur. Immer mehr
Frauen schreiben sehr gute Bücher und erreichen damit ein großes
Publikum.
Welche Rolle spielen die Massenmedien?
Darauf
generell für ganz Lateinamerika zu antworten, ist schwierig, weil es
sehr unterschiedliche Aspekte gibt. In Venezuela haben die großen
Zeitungen zum Beispiel ihre Literaturbeilagen weitgehend abgeschafft,
weil sie sich wirtschaftlich nicht rentiert haben. Vor kurzem haben
jedoch einige Zeitungen diese Literaturbeilagen wieder eingeführt, aber
nur, um bestimmten Autoren aus der Opposition Raum zu geben und sie so
in gewisser Weise zu Sprechern der Regierungsgegner zu machen.
Verglichen mit der großen Macht, die die Massenmedien haben, ist ihre
Verbindung mit der Literatur aber sehr zurückhaltend.
Gibt
es darauf eine Antwort durch die fortschrittlichen Regierungen
Lateinamerikas?
Die Medien in Lateinamerika stehen nahezu
geschlossen in Opposition zu den fortschrittlichen Regierungen. Sie
kritisieren absolut alles, was ja auch ihr gutes Recht ist, aber unter
dem Mantel der Meinungsfreiheit rufen sie auch zur Ermordung von
Staatschefs und zu Putschen auf und verbreiten Falschmeldungen, um
Verwirrung zu stiften. In dieser Lage kann eine Regierung nur wenig tun,
um diese Medien dazu zu bringen, der Kultur größeren Raum zu geben. Die
venezolanische Regierung hat eine Linie des absoluten Respekts der
Meinungsfreiheit verfolgt, selbst Medien, die zu Morden aufgerufen
haben, ist nichts passiert. Die Regierung läßt sich lieber dafür
kritisieren, überzogen viel Freiheit zu gewähren, als sich dem Vorwurf
auszusetzen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Die Privatmedien
interessiert nur der Gewinn, und sie richten ihre Programme vollständig
danach aus. Deshalb entstehen neue Medien, an der Basis oder
öffentlich-rechtliche Kanäle. In Venezuela gibt es mittlerweile fünf
öffentliche Fernsehsender, dazu kommen alternative Medien, kleine Radio-
und Fernsehsender mit sehr begrenzter Reichweite. Das ist eine sehr
starke Bewegung, um diese Einstimmigkeit der Medien zu durchbrechen. In
Venezuela erscheinen 90 Tageszeitungen, davon verfolgen nur zwei eine
ausgewogene Linie. Interessanterweise sind das die beiden Zeitungen mit
der größten Auflage, die Öffentlichkeit möchte also eine solche
ausgewogene Berichterstattung haben. In den letzten Jahren sind außerdem
zwei Zeitungen entstanden, die die Regierung unterstützen. Im Fernsehen
gibt es 70 Kanäle, die in eiserner Feindschaft gegen die Regierung
stehen. Anfangs gab es dagegen nur einen einzigen öffentlichen Kanal,
der noch nicht einmal im ganzen Land gesehen werden konnte. Zu diesem
sind mittlerweile vier weitere Programme gekommen.
In Bolivien
ist die Lage genauso, es gibt eine Blockade der Medien gegen die
Regierung von Evo. In Ecuador konnte ich beobachten, daß es eine
regelrechte Medienoffensive gegen die Regierung von Rafael Correa gibt.
Besonders
Venezuelas Präsident Hugo Chávez wirbt häufig bei seinen Auftritten für
Bücher, die dann oft an die Spitze der Verkaufslisten stürmen...
Ja,
das ist eine ganz spannende Sache. Der Präsident hat einen
unglaublichen Arbeitsrhythmus und beruft seine Minister manchmal mitten
in der Nacht zu Sitzungen ein. Er liest sehr viel und hat eine
wöchentliche Fernsehsendung, »Aló, Presidente«, bei der er sich
stundenlang mit dem Publikum unterhält, Anrufe entgegennimmt usw. In
jeder Sendung stellt er zahlreiche Bücher vor, nicht nur ein Buch, wie
er Barack Obama »Die offenen Adern Lateinamerikas« von Eduardo Galeano
empfohlen hat. Diese Empfehlungen sind ein wichtiger Ansporn für den
Verkauf dieser Werke. Der Präsident spielt also Buchhändler, aber wenn
die anderen Medien das nicht machen, ist das doch gut so.
Vor
kurzem hat Präsident Chávez erstmals erklärt, daß er Marxist sei,
während er früher immer betonte, nichts gegen den Marxismus zu haben,
selbst jedoch kein Marxist zu sein. Ist das nun ein Strategiewechsel?
Diese
Aussage bringt mir den Präsidenten noch näher, als zuvor schon, denn
ich glaube, ich bin seit meinen Jugendjahren Marxist. Chávez wurde elf
Jahre lang dämonisiert, ihm wurde alles mögliche vorgeworfen, seine
Regierung sei kommunistisch, stalinistisch, terroristisch. Vielleicht
hat sich Chávez zu einem bestimmten Zeitpunkt gefragt, was er gewinnt,
wenn er sagt, daß er kein Marxist sei, wenn sie ihm das trotzdem
vorwerfen. Chávez liest viel und hat sich auch in die marxistische
Literatur vertieft. Offenbar haben ihn diese Werke überzeugt. Seine
Verbindung zur Linken stammt schon aus der Zeit, als er noch ein sehr
junger Soldat war und auf ein Lager mit linker Literatur, kleinen
Broschüren und Faltblättern stieß und sie aus reiner Neugier las.
Venezuela
wählt in diesem Jahr die Abgeordneten der Nationalversammlung. Was
erwarten Sie von dieser Wahl?
Derzeit ist die
Zusammensetzung unserer Nationalversammlung das Ergebnis der
selbstmörderischen Aktionen der Opposition. Sie boykottierte die letzte
Wahl, um die Abstimmung als manipuliert darzustellen, obwohl sie von
Hunderten internationalen Wahlbeobachtern überwacht wurde. Wenn die
Opposition diesmal an der Wahl teilnimmt, wird es diese praktische
Einstimmigkeit natürlich nicht mehr geben. Ein bestimmter Teil der
Opposition hat eine gewisse Relevanz, aber diese geht meiner Meinung
nach nicht über 40 Prozent hinaus.
Die Nationalversammlung hätte
in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe wichtiger Gesetze auf den Weg
bringen müssen. Ich würde sogar sagen, die Parlamentarier hätten das
Gesetzsystem eines sozialistischen Staates ausarbeiten müssen. Das ist
nicht geschehen. Deshalb muß der bolivarische Prozeß sehr vorsichtig
sein, wen er für das Parlament aufstellt, denn es werden umkämpfte
Wahlen sein, und in der Nationalversammlung wird es dann komplizierte
Diskussionen geben.