Ein Interview des lateinamerikanischen Fernsehsenders teleSUR mit dem Vertreter der Kubanischen KP auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz, Noel Carrillo. Darin unterstreicht dieser, daß die internationale politische und ökonomische Krise ihre Ursachen vor allem in der Struktur des kapitalistischen Systems habe. Von Lateinamerika müsse eine soziale Antwort auf diese Situation ausgehen.
Wir verändern die Welt
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teleSUR: Bericht von der Konferenz
Ein Beitrag des lateinamerikanischen Fernsehsenders. In der Ankündigung heißt es:
Tausende Aktivisten verschiedener Parteien und Organisationen der deutschen Linken versammelten sich in Berlin, wie stets im Januar seit 17 Jahren, um im Rahmen der Internationalen Konferenz im Geiste der vor 93 Jahren ermordeten kommunistischen Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Erfahrungen zu den Kämpfen in der Welt kennenzulernen und auszutauschen. (teleSUR)
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Andere Spielregeln
Franz Josef Degenhardt schildert in seinem Roman »Zündschnüre«, was gegen jugendliche Nazis getan werden kann, selbst wenn deren Väter regieren: Einer tritt gegen eine als Fußball getarnte Eisenkugel und landet später, da nur der Knochenbruch geheilt ist, aber politisch nichts, nackt für eine halbe Stunde in einem Ameisenhaufen.
Der Schauspieler Rolf Becker las diese Passage aus dem Bestseller des Jahres 1973 am Sonnabend während der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania.Das Buch, meinte der Liedermacher Kai Degenhardt, der mit ihm auftrat, sei so etwas wie die »Wunschbiographie« seines Vaters gewesen. »Farewell Karratsch« nannten beide ihr Kurzprogramm. Den Titel trug das von jW organisierte große Konzert im Berliner Ensemble vom 19. Dezember 2011.
An der Edition des Mitschnitts wird gearbeitet, war am Sonnabend zu erfahren, die ersten beiden der auf zehn Bände geplante Ausgabe seiner Texte im Berliner Verlag Kulturmaschinen wurden vorgestellt. Ehrung eines Klassikers? Ja, wenn klassisch nicht im Sinne von antiquarisch, sondern von ästhetisch und politisch vollständig verstanden wird.
Rolf Becker und Kai Degenhardt traten in der Mitte der neunstündigen Veranstaltung auf. Kunst, Kultur, Politik, Theorie, vor allem aber Debatte waren Inhalt auch ihrer siebzehnten Ausgabe, durch die Kabarettist Dr. Seltsam führte. Den Start und das Finale markierte das Trio Palmera mit lateinamerikanischer Musik. Pablo Miró, in Berlin lebender Songwriter aus Argentinien, sang Lieder des von Chiles Faschisten ermordeten Dichters Victor Jara und des von den USA mit einer Terrorstrafe belegten kubanischen Terrorbekämpfers Antonio Guerrero.
Jennipher Antoni und Michael Mäde luden zur Modotti-Ausstellung in die jW-Ladengalerie ein und lasen Texte der Revolutionärin und Fotografin. Peter Jacobs stellte Fidel Castros 800-Seiten-Band »Der strategische Sieg« vor, dessen deutsche Ausgabe demnächst im Verlag Neues Leben erscheint. Karl-Heinz Dellwo vom Hamburger Laika-Verlag präsentierte einen neuen Band der auf 100 Exemplare angelegten Bibliothek des Widerstands. Titel: »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv«. Dellwos Resümee von 35 Jahren angeblich alternativer Politik: »Die Grünen haben kein Atomkraftwerk abgeschaltet, nur den Marxismus in der Opposition.«
Bewegend die von Mut und Lebensmut bestimmte Botschaft der Cuban Five, verfaßt am 10. Januar in einem Knast in Georgia/USA, hier vorgetragen vom Botschafter Kubas Raúl Becerra Egana. Ebenso eindrucksvoll der packende Auftritt von Johanna Fernandez, Historikerin aus New York, Sprecherin des Verteidigungsteams von Mumia Abu-Jamal: Seit fast 40 Tagen ist er nicht mehr im Todestrakt, sondern in »administrativer Haft« - unter Umständen, die alle Kriterien für Folter erfüllen. Eine Audiobotschaft war diesmal nicht möglich.
Analoges gilt für den Soldaten Bradley Manning, der u. a. das Video vom Erschießen irakischer Zivilisten in Bagdad aus US-Hubschraubern heraus an die Öffentlichkeit brachte. Ihm droht die Todesstrafe. Per Akklamation protestierte die Konferenz gegen sein Verfahren. Die Repression im NATO-Vorposten Richtung Naher und Mittlerer Osten, in der Türkei, kritisierte der des Ex-Guerrillero und heutige Abgeordnete Ertugrul Kürkcü.
Ausführlich berichteten die Referenten aus ihren Ländern (nachzulesen in der jW-Beilage am 1. Februar). Sami Ben Ghazi (Union der kommunistischen Jugend Tunesiens): Die arabischen Aufstände haben »andere Spielregeln« in die Welt gebracht, aber islamistische Parteien in den Regierungen sind »Retter imperialistischer Interessen«. Geraldo Gasparin (Landlosenbewegung MTS in Brasilien): In der Krise strömte Kapital aus dem Norden in das Agrobusiness des Südens – mit verheerenden Folgen. Brasilien verfügt über fünf Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche weltweit, verbraucht aber 20 Prozent aller Agrogifte. Pedro Noel Carrillo Alfonso (KP Kuba): Wir brauchen ein neues Wirtschaftsmodell zur Weiterführung der Revolution, aber es ist kein Sozialismusmodell für alle Länder. Agostinho Lopes (KP Portugal): Die EU ist nicht reform- und veränderungsfähig, denn ihre Grundlagen sind Dominanz der Großmächte, Neoliberalismus und Militarismus.
Die Vorlage für die abschließende Podiumsdiskussion war geliefert, der große Urania-Saal füllte sich wieder restlos. Insgesamt waren über 1800 Besucher im Laufe des Tages da – allerdings wenige Kinder. Ein Ruf nach Betreuung und weniger Langeweile für die Jüngsten brachte es auf 160 Unterschriften.
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Ausschnitte aus der Podiumsdiskussion
Die Linke hat im Oktober in Erfurt ihr Grundsatzprogramm verabschiedet. Über Anspruch und Wirklichkeit dieser Partei sowie der linken Bewegung insgesamt diskutierten am Samstag im Berliner Urania-Haus der stellvertretende Linkspartei-Chef Heinz Bierbaum, die Frankfurter Publizistin und ÖkoLinX-ARL-Stadtverordnete Jutta Ditfurth, der Politikwissenschaftler Georg Fülberth sowie der Journalist und Autor Dietmar Dath. Es moderierte jW-Chefredakteur Arnold Schölzel.
Arnold Schölzel, Frage an Heinz Bierbaum:
Zwischen dem Programm einer sozialistischen Partei und ihrer Strategie, von der Taktik zu schweigen, herrscht stets eine bestimmte Spannung.Andreas Wehr hat in seinem jW-Artikel zum Programm der Linken formuliert: »In der Analyse antikapitalistisch, in der Strategie reformerisch.« Sie haben diese Kritik in Ihrem Text in der jungen Welt am Dienstag zurückgewiesen und den Zusammenhang von sozialistischem Ziel und reformerischen Schritten hervorgehoben.
Ich möchte aber noch einmal nachfragen. Im Programm heißt es: »Die Linke ist der Überzeugung, daß ein krisenfreier, sozialer, ökologischer und friedlicher Kapitalismus nicht möglich ist.« Meine Frage lautet: Ist diese Beschreibung des Ganzen nicht zu wenig?
Ich meine: Die Melodie vom krisenfreien, sozialen, ökologischen und friedlichen Kapitalismus wurde vor 20 Jahren nach dem Untergang des europäischen realen Sozialismus besonders laut gespielt.Inzwischen hat sie jede Menge Hörer verloren, anders gesagt, die Zahl der Menschen weltweit, die der Meinung sind, daß der Kapitalismus selbst die Katastrophe ist, hat enorm zugenommen. Das mag sich kaum in Wahlergebnissen in den westlichen Ländern niederschlagen, aber offensichtlich denkt es selbst dort.
Seit 2008, seit der ersten Bankenrettungsaktion mit knapp 500 Milliarden Euro, sind die wahren Machtverhältnisse z. B. hierzulande, aber auch anderswo sichtbar geworden. Die sogenannte Frankfurter Runde – Merkel, Sarkozy und der EZB-Chef – hat im Oktober/November 2011 in Griechenland und Italien die parlamentarische Demokratie faktisch liquidiert und Regierungen nach ihrem Diktat eingesetzt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise erhält wöchentlich einen neuen Schub, das Ende ist nicht absehbar. Kleinere Kriege wie an der Cote d’Ivoire oder in Libyen werden nach Belieben geführt, größere behalten sich die USA vor. Zehntausende Tote durch ihre Kriegführung werden von der NATO schlicht geleugnet. Breite Zustimmung findet das politische und sonstige Führungspersonal nicht mehr, im Gegenteil. Ist es da nicht ein zu zärtlicher Umgang mit den Verhältnissen, wenn nicht laut und deutlich und als Ausgangspunkt gesagt wird: Kapitalismus ist Krise, Verarmung immer größerer Gruppen, Naturzerstörung und Krieg, ist mit Demokratie letztlich unvereinbar? Muß die Analyse nicht genauer und damit härter ausfallen, um eine richtige Strategie zu formulieren?
Heinz Bierbaum:
Ja, in der Tat ist es aus meiner Sicht richtig, daß das Programm weiter diskutiert werden muß. Es ist zwar in Erfurt mit großer Mehrheit angenommen worden, hat aber bestimmte Schwächen. An manchen Stellen muß es noch vertieft werden. Wie die Strategie zur Umsetzung dieses Programms aussieht, muß weiter diskutiert werden. Was die Analyse angeht, so mag man sagen, daß sie vielleicht zu harmlos sei, aber immerhin, – und das ist nicht wenig, muß ich schon mal festhalten, – wird in diesem Programm sehr deutlich formuliert, daß es notwenig ist, eine andere Gesellschaft, eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufzubauen.
Das ist als Zielsetzung ziemlich klar. Im Kapitel dieses Programms »Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation« werden einige Entwicklungsstadien des Kapitalismus aufgeführt. Es geht auch auf das Thema Finanzmarktkapitalismus ein, sowie auf die verheerenden Wirkungen des gegenwärtigen Stadiums des Kapitalismus. Das kann man möglicherweise noch vertiefen oder dahingehend zuspitzen, daß wir es mit der Grundsituation einer strukturellen Überakkumulation des Kapitals zu tun haben, mit einer entsprechenden Dominanz der Finanzmärkte, mit zerstörerischen Wirkungen. Es wird darauf hingewiesen, daß nach wie vor imperialistische Kriege geführt werden. Wir haben eine soziale Zerstörung, wir haben Unterdrückung in der Welt. Der entscheidende Punkt ist aber, wie kommen wir – die Frage wirft auch Andreas Wehr auf, der ja durchaus konstatiert, daß unsere Analysen antikapitalistisch seien – wie kommen wir zu einer Strategie? Und ich glaube, da liegt das Hauptproblem. Nicht nur für die Partei Die Linke, sondern für die linke Bewegung insgesamt. Es stimmt, daß wir eine Situation haben, in der die Legitimationsbasis der herrschenden Politik bröckelt.. Es ist ja schon interessant, daß beispielsweise im Feuilleton der FAZ und auch in der Financial Times Deutschland sehr harte Kritik formuliert wird, daß Beiträge veröffentlicht werden, wie kürzlich beispielsweise ein Artikel des Ökonomen Michael Hudson mit der Überschrift, daß die Banken dem Volk den Krieg erklärt hätten. Die Legitimationsbasis bröckelt, aber das wirkt sich bisher nicht so aus, daß eine Alternative greifbar wird. Das ist eines der zentralen Probleme. Ich sehe zwei Ansatzpunkte, die im Programm angesprochen sind, die aber nach meinem Dafürhalten vertieft werden müssen.
Das eine ist die Eigentumsfrage. Die wird ja gerade von oben gestellt in der gegenwärtigen – ich nenn’ es mal abkürzend Eurokrise, obwohl ich natürlich weiß, daß es weder nur um eine Krise des Euros noch um eine Krise der Staatsschulden handelt, sondern um eine Krise der kapitalistischen Entwicklung. (...) So notwendig Maßnahmen wie beispielsweise eine Regulierung der Finanzmärkte sind, ist es damit nicht getan. Zumindest die Großbanken müssen verstaatlicht werden, wie wir das auch gut im Programm dargestellt haben. Zentral ist aber auch die Demokratiefrage. Wir erleben zur Zeit eine Situation, in der Parlamente nicht mehr gehört werden. Demokratische und gewerkschaftliche Errungenschaften werden mit einem Federstrich beseitigt. Die Frage der Demokratie stellt sich auch in der Wirtschaft. Das ist meiner Ansicht nach der Hebel, um eine gesellschaftliche Alternative so darzustellen, daß sie hegemoniefähiger wird.
Arnold Schölzel, Frage an Georg Fülberth:
Du vermutest, daß wir es seit 2007 mit der vierten systemischen Krise in der Geschichte des Kapitalismus zu tun haben, an deren Ende nicht die Überwindung des Kapitalismus stehen wird, sondern wie schon bei den vorangegangenen Krisen nur das Verschwinden des Kapitalismus, »wie man ihn kannte«, und das Kommen eines neuen. Die Frage nach der »Barbarei«, die du als Metapher für Zivilisationsbruch und den wiederum nicht als Regression, sondern als »etwas Modernes« bezeichnest, stellt sich demnach nicht. Ist das »ruchloser Optimismus«, den Schopenhauer bei Hegel und dessen Schülern sah? Warum nicht von Imperialismus, also Monopolkapitalismus und dem bestimmenden Produktionsverhältnis sprechen, dem Monopol, von imperialistischer Konkurrenz, Kampf um Rohstoffe, um strategische Positionen und permanentem Krieg, von Irrationalismus, Antidemokratie, also Niedergang im Überbau, was wiederum die Produktivkraftentwicklung entschieden behindert. Verordnest du – bei aller Betonung der Eigentumsfrage – nicht letztlich der Linken eine Politik ausschließlich im Rahmen des Kapitalismus, als dessen Einschränkung, nicht von seiner Überwindung? Ist da nicht etwas mehr Empörung nötig?
Georg Fülberth:
Vielleicht wurde ich da mißverstanden, denn ich sage: Das Aggressionspotential des Kapitalismus ist viel größer als das Aggressionspotential der vergangenen Gesellschaftsformen. Wenn ich ihn vergleiche mit der Barbarei zwischen Urgesellschaft und Zivilisation, dann meine ich, er ist schlimmer. Das heutige Zerstörungspotential des Kapitalismus bedeutet, daß er alles Leben auslöschen kann. Dazu haben die alten Barbaren mit ihren Faustkeilen keine Chance gehabt. Der Kapitalismus ist moderner, schlimmer, zerstörerischer. Zur Frage der Empörung. Rosa Luxemburg hatte eine Doppelbegabung: Sie konnte sich fürchterlich aufregen und trotzdem war sie bei so klarem Verstand, daß die Empörung nicht gestört hat. Wer zum Analysieren geringere Gaben hat, sollte sich die Empörung verkneifen. (...)
Wenn der Kapitalismus weiterbesteht, transformiert er sich. Ich denke mir schon, daß diese völlig ungeregelte Spekulation in der Form nicht fortgesetzt wird. Aber was bedeutet das?
Es wird wahrscheinlich zumindest versucht werden, dieselben Renditen, die Jahrzehnte lang an den Börsen erzielt wurden, weiterhin zu erzielen, indem noch höherer Druck auf die Arbeitsmärkte, noch mehr Druck auf die Löhne und die öffentlich-rechtlichen sozialen Sicherungssysteme ausgeübt wird. (…)
Die Gewaltförmigkeit der Politik wird zunehmen, die Bundeswehr wird zur Interventionsarmee ausgebaut, um an Rohstoffe heranzukommen. Auch der Druck auf die informationelle Selbstbestimmung nimmt zu. Dietmar Dath hat zutreffend vermutet, die Entdeckung eines Staatstrojaners 2011 bedeute einen ähnlichen Einschnitt wie 1986 Tschernobyl. Wenn so ein popeliges Landeskriminalamt mit einer offensichtlich nicht besonders guten Software dafür sorgen kann, daß nicht nur Computer ausgespäht werden, sondern Computer so manipuliert werden, daß sie Dinge tun, die ich nicht will, dann kann das jeder Konzern viel besser. (…)
Zum Parteiprogramm der Linken: Man hat diesem Programm vorgeworfen, daß die Eigentumsfrage gestellt wird. Das ist richtig. Die Eigentumsfrage ist aber eigentlich nicht erst durch Die Linke gestellt worden. Man hat öffentliches Eigentum im Osten abgeräumt, öffentliches Eigentum im Westen abgeräumt. Die Eigentumsfrage steht – sie wird vom Kapital gestellt. (…)
Es kommt darauf an, daß die Eigentumsfrage von links gestellt wird. Es geht um den Kampf gegen Bellizismus – ganz schwieriges Thema, sowie um den Kampf für informationelle Selbstbestimmung und Kampf gegen informationelle Fremdbestimmung.
(…) Die Frage ist, wer soll es machen? Und da wünsche ich mir zum Schluß, daß ich nach einem Jahr wieder etwas von dieser Partei höre. 2011 hat sie sich vor allem mit K- und P-Fragen beschäftigt.
K wie »Kuba-Diskussion« und »Kommunismusspektakel« und P wie »Palästina« oder »Personal«.
Mal sehen, wie das 2012 wird. Ich würde gern mehr vom Programm hören, und ich würde mich freuen, wenn ich allmählich den Eindruck bekäme, daß diese Partei ihr Programm auch ernst nähme.
Arnold Schölzel, Frage an Dietmar Dath:
Sie sehen die Lage etwas düsterer, wenn ich richtig interpretiere, was Sie in »Maschinenwinter« 2008 geschrieben haben. Ich zitiere: »Eine hochtechnisierte Zivilisation, die nicht als freier Verein freier Produzenten nach den wissenschaftlichen Einsichten plant, die ihren Stoffwechsel mit der Natur bestimmen, kann ins Grauen einer nachwissenschaftlichen Technik münden, die von (schwarzer) Magie wirkliche nicht mehr zu unterscheiden wäre – in ein kybernetisches Dunkles Zeitalter, neben dem die Epoche der Hexenverbrennungen sich wie der schwedische Sozialstaat ausnähme.« Sie werfen dort und in den in junge Welt abgedruckten Auszügen aus Ihrem neuen Buch »Implex«, das Sie gemeinsam mit Barbara Kirchner geschrieben haben und das in wenigen Wochen erscheint, nun die Organisationsfrage auf. Wie gelingt es in einer vom Kapitalismus weltweit verwüsteten und zerklüfteten Gesellschaft, im Zeitalter des »Informationsfeudalismus« und wenn nach Schernikau Staatspolitik Militärpolitik ist und Bürgerinitiativen Pipifax sind, von partikularer Interessenvertretung zu universaler zu kommen, also zu Programm, Strategie und Taktik?
Dietmar Dath:
Zur Barbarei: Ich glaube, daß Georg Fülberth philologisch völlig recht hat. Es ist tatsächlich verniedlichend. Man denkt da an Leute, die sich mit Knüppeln hauen, Pferde schlachten und ihren Met aus den Schädeln besiegter Feinde trinken. Wobei man hört, daß das zumindest bei den Marines auch schon wieder vorkommt. Aber wenn man jetzt mal nicht philologisch, sondern arbeits- oder herrschaftsgeschichtlich darüber nachdenkt, was mit der Barbarei als Alternative zum Sozialismus bei Luxemburg gemeint gewesen sein könnte, dann hab’ ich mir das immer so erklärt: Die ersten Formen der Herrschaft sind sehr unmittelbar. Da gibt’s halt was auf den Kopf. Da gibt’s die Peitsche, da gibt’s vielleicht in der Sklavenhaltergesellschaft jemanden, der in der Galeere trommelt und so weiter. Dann wird das immer – das hat sich das Bürgertum sehr zugute gehalten, immer abstrakter, immer vermittelter. (…)
Zunächst mal haben wir dann Feudalismus: Das ist der Besitztitel an dem Land, auf dem ihr lebt, deshalb gehört ihr uns; da kann man aber auch noch die Leute auf der Straße niederknüppeln, und weil man einem höheren Stand angehört, ist das nicht strafbar – oder jedenfalls vernachlässigbar strafbar. Und dann wird’s noch abstrakter, dann werden’s Verträge, denn irgendwann rechnen die das aus. Dann halten sie sich sehr zugute, daß sie die Sklaven freilassen. Das tun sie aber unter anderem deswegen. Wenn das Zeug keinen Absatz findet, müßte man Sklaven trotzdem weiter durchfüttern. Wenn sie dagegen Lohnarbeiter sind, verhungern sie halt irgendwo – das ist dann der Zivilisationsfortschritt, auf den man sich so viel einbildet.
Und nun könnte man sich eben vorstellen – das ist alles noch nicht von mir, das ist alles noch Marx – jetzt könnte man sich vorstellen, das wird immer abstrakter. Oder es kollabiert irgendwann in die unmittelbare Herrschaft zurück. Und ich glaube, das meinte Rosa Luxemburg mit Barbarei. Das heißt, sie meinte, daß es tatsächlich wieder was auf den Kopf gibt. Und wenn ich mir den Kapitalismus sogar ohne Kriege angucke, sogar ohne Marines, die auf die Körper ihrer Opfer urinieren, dann habe ich ein System, das in den reichsten Zonen, in den Metropolen die Kinder mit Drogen vollhaut, wenn sie nicht in dieses Schulsystem reinpassen, also sehr in den Körper hineinherrscht, das die Bewegungsformen der Leute dahingehend kontrolliert, daß ein paar tausend im Straßenverkehr jedes Jahr verrecken, weil man kein ordentliches Nahverkehrssystem ausbaut, denn – das würde ja kosten, das wäre ja Gemeineigentum. Statt dessen verkloppt man dieses Gemeineigentum an irgendwelche Investoren, die dann überall die Stationen streichen, weil sie sagen, das kostet viel – na ja, genau wie beim Bankenretten auch –, die Kosten werden halt verteilt auf die Leute, die trotzdem irgendwie nach Hause müssen. Dann werden vielleicht ein paar Autos mehr verkauft, und jeder Idiot, der sich irgendwie einen Jeep leisten kann oder einen Hummer, fährt einen Panzer durch die Innenstadt, und wenn der ein bißchen zu schnell fährt, ist das Kind halt tot. Angestellte sitzen dann in irgendwelchen Großraumbüros, wo die Klimaanlagen die Gesundheit kaputt machen, und arbeiten bis zum Burnout. (...)
Wenn das nicht unmittelbare Herrschaft über die Körper und Barbarei ist, dann weiß ich nicht, was es sonst ist. (...)
Ich hab’ jetzt die angenehmen Zonen beschrieben, nach denen sich Leute aus anderen Weltteilen sehnen, weswegen sie hierher kommen. So. Das ist also der Luxusteil.
Jetzt zur Strategie. Es gibt so einen, durchaus auch bürgerlichen, Linkstrend. So ein bißchen, daß man halt die Schnauze voll hat von Leuten wie George Bush und diesem Cheney, die sich unmittelbar an so einem Krieg bereichern. Oder wenn so ein Guttenberg in Verschiß gerät oder so ein Wulff. Man kann das irgendwie nobel finden im Sinne der Korruptionsbekämpfung, man könnte aber auch einen Zusammenhang sehen zu dem, was Georg Fülberth gesagt hat, nämlich: Wenn der Ton jetzt noch härter wird, was nach jeder Krise passiert, weil jede Krise als Umverteilungsgelegenheit genutzt wird, dann braucht man halt eine andere Garde, dann braucht man nicht mehr diese Kasperfiguren, sondern wieder jemanden mit deutschen Sekundärtugenden. (...)
Zum Schluß: Verstaatlichung von zwei Seiten.
Der Staat ist ja nicht irgendein Staat, sondern im Kapitalismus ein kapitalistischer Staat. Er ist dafür da, die Märkte zu garantieren, er ist dafür da, die Verträge zu schützen, und zwar die ungerechten, den ungerechten Tausch und all dieses Zeug. Es ist tatsächlich so, daß ein gewisses Quantum Verstaatlichung schon immer dazugehört hat. Zum Beispiel, wenn der Onkel Dagobert alles verzockt hat, dann geht das Fähnlein Fieselschweif mit den Mützen rum und sammelt bei den Armen, damit die Bank nicht Pleite macht.
(…) Die Vergesellschaftung von Energie, von Informationen und so weiter muß auf der Ebene stattfinden, wo die Leute produzieren. So etwas wird nicht ausschließlich im Parlament entschieden. Aber man kann das Parlament natürlich als Tribüne nutzen.
Und wenn man das nicht macht, wenn man statt dessen das Parlament nutzt, und sich Leuten, die sich fremde Arbeit auf inzwischen wieder sehr unmittelbare Art aneignen können, als sozialer Friedensstifter und Unterhändler anbietet, hat man eben die Geschichte einer Partei, die zuerst den Bernstein hervorbringt, dann die Kriegskredite gut findet, dann den Radikalenerlaß, das KPD-Verbot, den NATO-Doppelbeschluß, die Bundeswehr fit macht, die Hartz-Schweinerei durchzieht. (...)
Und wenn man also fragt, wie wünsche ich mir die Strategie, so daß all das bitte nicht passiert.
Arnold Schölzel, Frage an Jutta Ditfurth:
Deutschland ist in den vergangenen 22 Jahren weit vorangekommen: Die Bundeskanzlerin teilt Sarkozy nur noch mit, wenn sie anordnet, Griechenland keine Kreditrate auszuzahlen. In der jährlichen Vorausschau der US-Agentur Stratfor, die auch als »Schatten-CIA« bezeichnet wird, für 2012 heißt es, daß Deutschland in der Finanzkrise eine Gelegenheit sieht, durch Nutzung seiner finanziellen und ökonomischen Überlegenheit die Struktur der Euro-Zone zu seinen Gunsten zu verändern. Es werde wahrscheinlich – Stichwort Fiskalunion – den Verlust der Budgethoheit und damit der Souveränität mehrerer Euro-Staaten durchsetzen.
1990, mitten in der nationalistischen Aufwallung, die dem DDR-Anschluß folgte und deren Resultat u. a. das staatlich finanzierte Neonazinetzwerk ist, bot die Grüne Antje Vollmer im Bundestag geistige Hilfe bei der neuen Weltmachtrolle der Bundesrepublik an. Die Grünen in der Regierung standen 1999 an der Spitze der Kriegshetzer beim NATO-Angriffskrieg gegen Serbien und Montenegro. Sie haben sich gerade wieder bewährt als staatstragende Partei in Baden-Württemberg und setzten den Widerstand gegen »Stuttgart 21« – wie Du in »Krieg, Atom, Armut« vor einem Jahr geschrieben hast, von der Straße vor den Fernseher. Schicksal linker Organisationen?
Jutta Ditfurth:
Stichwort EU-Diktatur, tja, das war jetzt die kürzest mögliche Fassung, aber dahinter verbirgt sich natürlich etwas, was in bestimmten linken wissenschaftlichen Kreisen unter dem Stichwort geostrategische Interessen deutscher Außenpolitik nicht erst seit Wilhelm schon länger diskutiert wird. Da gibt es ziemlich schlaue Bücher drüber. Was wir jetzt beobachten können ist etwas, wofür wir vor zehn Jahren noch ausgelacht worden wären, hätten wir gesagt, Deutschland ist auf dem Weg, strebt an, will werden, die Struktur zwingt das System dazu, es werden zu wollen, nämlich Führungsnation in Europa. Und jetzt ist es schon fast als Normalzustand abgehakt. Ich erinnere mich noch an Schwachsinnsdebatten aus den 90ern, mit irgendwelchen Grünlingen und anderen Leuten, auch Reformisten aus der SPD, und ich glaube, ich habe solche Texte auch bei der DKP gelesen. Da wurde über Zivilgesellschaft geplappert und darüber, daß man den Kapitalismus zähmen könne. Dieser ziemlich bekiffte Traum zieht sich auch durch das linke Programm.
Das zweite ist die Frage – und die war so gut gestellt, ich hätte es selber nicht besser zusammenfassen können: Ja, es gibt ein staatlich finanziertes Nazinetzwerk, die NSU und andere faschistische Organisationen, man sollte sie nicht mehr »Neonazis« nennen. (...)
Diese Netzwerke gäbe es nicht ohne staatliche Finanzierung, und deswegen löst man das Problem auch nicht, obwohl ich eigentlich dafür bin, durch ein NPD-Verbot. Das ist nur eine Beruhigungstaktik, weil es die faschistischen Strukturen in Teilen der Institutionen – und vor allem den Rassismus in dieser Gesellschaft und den Antisemitismus in seinen Spielarten gibt. Der läßt sich ja leider nicht verbieten. Der blüht dann anderweitig weiter, und ich weiß auch nicht, ob man einen Sarrazin verbieten kann – kann man nicht. Aber man begreift in dem Moment, wo der in München im Literaturhaus sitzt und selbst bei ganz moderat, ich würde sagen, biederbraven, höflichen Fragen – nicht so welchen, die ich gestellt hätte –, vor bürgerlichem Publikum, die Leute ausgebuht und fast rausgeschmissen werden – es war ein Mob, der sich da äußerte. In dem Moment sind wir mitten in Deutschland, und dann nützt auch kein NPD-Verbot etwas, weil wir diese Kreise damit nicht erreichen.
Jetzt möchte ich gern den Sprung machen zu dem, was andere gesagt haben und was mich besonders kitzelt, darauf einzugehen, und meiner Rolle gerecht zu werden, den Reformismus niederzumachen – ich hoffe mit einigem Erfolg. Nötig ist immer wieder der Verweis auf den wunderbarsten aller Klassiker, nämlich Marx, aber auch noch ein paar andere Autoren, ich kann das ja offenlegen, schätzen tue ich zum Beispiel auch Luxemburg, aber auch Krahl, Marcuse und noch so ein paar andere, damit ihr irgendwo wißt, wo das herkommt, was ich so denke.
Wir haben einen Krieg, der ist längst erklärt, das muß man sich nicht andauernd erzählen, den Krieg haben Milliardäre erklärt, und sie haben auch gleich angekündigt, vor fast zehn Jahren jetzt, daß sie diesen Krieg gewinnen werden. (…)
Dieses System herrscht weltweit, und was mich an diesem linken Programm so ärgert: Es gibt ein paar Bonbons für den linkeren Teil der Partei, aber die Hauptlinie heißt: Kapitalismus ist reformierbar. Und dann soll man immer klatschen und sich freuen, wenn einer sagt, ich will aber wirklich keinen Krieg. (...)
Kapitalismus ist schon in seinem menschenzerstörenden und naturplündernden Normalzustand unser Problem, ist täglicher Krieg und täglicher Terror. Was über diesen terroristischen Normalzustand hinaus geht, das zusätzliche Dilemma des Kapitalismus ist seine Krisenhaftigkeit. Deshalb kommt es zu diesen systemischen Schüben und verschiedenen Schritten und Wandlungsformen, aber immer nur innerhalb des Kapitalismus – es wird nicht was anderes, Besseres draus, und schon gar nicht eine andere, bessere Welt. So groß sind die Risse nicht. Und so groß ist auch die Legitimationskrise nicht. Diese Überproduktionskrisen, die regelmäßig kommen wie eine Krankheit, wie eine Grippe im Winter, sind eine Gesetzmäßigkeit. Was aber immer unterschätzt wird von vielen Linken, auch von vielen linken Strömungen außerparlamentarischer Art, ist die äußerste Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus, einerseits den Feudalismus abgeschafft zu haben, aber andererseits das Patriarchat zu übernehmen, was in diesem Programm komischerweise neben dem Kapitalismus steht, als ob es etwas Eigenes sei, genau wie die Ökologie daneben steht und nicht Teil des Kernproblems ist. (...)
Wie Herbert Marcuse das 1967 auch in Berlin sagte: Die Utopie ist an ihrem Ende, weil alle Techniken entwickelt sind, um den Menschen und die Natur zu zerstören; aber auch alle Mittel entwickelt sind, mit ein paar Variationen, um die Welt zu einer menschenwürdigen zu machen mit einer Ökologie, die den Menschen nicht zerstört und nicht krank werden läßt. Aber die Ruinierung des Menschen und der Natur bleiben eben profitabler als ihr Glück und ihre Freiheit und die soziale Gleichheit, die ja unser Wertmaßstab sein muß. Die Sache ist also nicht die Frage fehlender Alternativen, sondern eine der Herrschaft von Staat und Kapital – und wann und mit welchem Ziel wir mit ihr brechen können. -
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Internationale zum Dessert
Mit der gemeinsam gesungenen Internationale endete gegen 20.30 Uhr der offizielle Teil der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Berliner Urania-Haus. Die Dolmetscherinnen und Dolmetscher hatten tapfer durchgehalten.
Zum Abschluß der Podiumsdiskussion »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« sagte jW-Chefredakteur Arnold Schölzel: »Ich erkläre mich für fast gescheitert bei dem Versuch, dieses Podium zu spalten. Die Trauer darüber wird aber überkompensiert durch das, was wir heute abend hier gehört haben.«
Auf dem Podium hatten sich der stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke, Heinz Bierbaum, die Frankfurter Publizistin und ÖkoLinks-Stadtverordnete Jutta Ditfurth und der Politikwissenschaftler Georg Fülberth sowie der Journalist und Autor Dietmar Dath über wichtige Zukunftsfragen ausgetauscht.
Einen Schwerpunkt bildete dabei die Unvereinbarkeit von Ökologie und kapitalistischer Verwertungslogik. Bierbaum fand zwar die Ausführungen von Dath und Ditfurt »etwas zu apokalyptisch«. Er selbst sei aber auch »entschieden nicht der Auffassung«, daß Kapitalismus reformierbar sei. Das Programm der Linkspartei habe »eine klare sozialistische Perspektive«. Es gebe aber innerhalb der Partei »eine Diskussion über die Reichweite der zivilisatorischen Tendenzen des Kapitals«.
Die Diskussion wurde per Livestream im Internet übertragen. Eine Zusammenfassung erscheint am Montag in der Printausgabe der jungen Welt. (jW)
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Immer stärker kontrollieren »modernisierte« Großgrundbesitzer die brasilianische Landwirtschaft. Darauf machte in seinem Referat der Vertreter der brasilianischen Landlosenbewegung »Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra« (MST), Geraldo Gasparin, aufmerksam.
Ihre ökonomische und ideologische Vormacht und Kontrolle über Markt und Preise für landwirtschaftliche Produkte basiere auf einem Klassenbündnis zwischen transnationalen Unternehmen, Finanzkapital, großen Medien und Latifundisten, welche die Commodities (standardisierbare landwirtschaftliche Produkte) herstellen. Die 50 größten Agrarindustriebetriebe mit ausländischem und nationalem Kapital kontrollieren in Brasilien praktisch deren gesamte Produktion.
Dabei setzt sich, so Gasparin, immer stärker die Monokultur spezialisierter Produkte durch. Die brasilianischen und ausländischen Unternehmer investieren immer stärker in die Soja-, Mais- und Zuckerrohrproduktion. Durch intensive Mechanisierung fallen Arbeitsplätze weg. Chemische Düngemittel und Agrargifte kommen unbeschränkt zum Einsatz. Transnationale Agrargifteproduzenten dominieren auch das, häufig gentechnisch angepasste, Saatgut.
Seit 2008 fließt verstärkt Finanzkapital und fiktives Kapital in die Länder des Südens - eingesetzt zur Aneignung der Natur – zum Kauf von Land, natürlichen Ressourcen und landwirtschaftlichen Produzenten. In Brasilien werden jährlich etwa 80 Milliarden Dollar ausländischen Kapitals in natürliche Ressourcen investiert.
Acht Jahre Lula-Regierung haben am brasilianischen makro-ökonomischen Modell praktisch nichts verändert, schätzt der MST-Vertreter ein. Unter der ebenfalls von der Arbeiterpartei PT stammenden Präsidentin Dilma Rousseff hat sich der Prozeß der Agrarreform - einem zentralen Kampffeld der Landlosen - sogar noch weiter verlangsamt.
Die Bodenpreise sind gestiegen und durch die die Entwicklung des exportorientierten Agrobusiness werden Flächen blockiert, die für die Expansion späterer Geschäfte nicht kultiviert werden.
Besonders dramatisch schätzt der MST die Bedrohung von Mensch und Umwelt durch den Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln und anderen giftigen Agrarchemikalien ein. Diese zerstören die Biodiversität und beeinträchtigen die menschliche Gesundheit, indem sie Krebs und andere Krankheiten verursachen. Fazit: Das Modell des Agrobusiness ist nicht in der Lage, gesunde Nahrung zu produzieren.
Nur eine Million der etwa 4,8 Millionen landwirtschaftlichen Klein- und Familienbetriebe Brasiliens ist in den Markt integriert. Der großen Mehrzahl ist der Weg dahin versperrt und sie produzieren praktisch nur für den Eigenbedarf. Das Kapital betreibt landwirtschaftliche Produktion ohne Landwirte und mit wenigen Arbeitskräften. Verstärkte Migration und Entvölkerung des Binnenlandes sind die Folge.
Ein Schwerpunkt des MST ist die Verteidigung jener brasilianischen Umweltgesetze - wie das Waldgesetz -, die ein Hindernis für das Vorankommen des Kapitals in der Landwirtschaft darstellen. Hierzu sollen große Kampagnen durchgeführt werden, genauso gegen den Einsatz von Agrargiften (im Umfeld der Konferenz Rio+20). Für eine wirkliche Agrarreform soll es auch 2012 Mobilisierungen geben, Besetzungen von brachliegenden Latifundien, neue Feldlager.
Seine Bewegung - als große, sozialistisch orientierte Massenbewegung, unterstrich Gasparin, sehe die aktuelle Herausforderung darin, Organisation und Bewußtseinsbildung zu verstärken, um der Offensive des Kapitals entgegenzutreten und soziale Errungenschaften für das brasilianische Volk zu erkämpfen. (pst)
Die vollständigen Inhalte aller Referate werden in einer Sonderbeiolage der jungen Welt und in der Broschüre zur Rosa-Luxemburg-Konferenz 2012 veröffentlicht.
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Ab 18 Uhr: Podiumsdiskussion als Livestream!
Voraussichtlich um 18 Uhr beginnt im Berliner Urania-Haus die Podiumsdiskussion »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?«, die als Livestream im Internet übertragen wird.
Es diskutieren Heinz Bierbaum, stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke sowie Professor für Betriebswirtschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und Leiter des hochschulansässigen INFO-Instituts, Jutta Ditfurth, Publizistin, Buchautorin und Stadtverordnete von ÖkoLinX-ARL im Frankfurter Römer sowie Georg Fülberth, emeritierter Professor für Politikwissenschaft sowie Dietmar Dath, Autor und Journalist.
Bisher haben sich rund 1750 Zuhörer in der Urania eingefunden, zur Podiumsdiskussion werden insgesamt rund 2000 erwartet. (jW)
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Aus dem Bundesgefängnis in Georgia, USA erreichte die Rosa-Luxemburg-Konferenz 2012 diese Botschaft der inhaftierten Kubaner Antonio Guerrero, René González, Gerardo Hernández, Fernando González und Ramón Labñino Salazar, bekannt als »Cuban Five«:
Liebe Genossinnen und Genossen,
die Welt, in der wir heute leben, unterscheidet sich nicht sehr von der, die in der Zeit unserer geliebten Rosa Luxemburg existiert hat.
Der Imperialismus in seiner letzten und finalen Phase überfällt weiter unsere Völker und überzieht sie mit furchtbaren Kriegen, deren einziges Ziel es ist, Gebiete zu besetzen, um wichtige Naturressourcen zu kontrollieren und mit der Ausrottung des Planeten und der Existenz der menschlichen Gattung fortzufahren.
Die von der Habsucht des Kapitals verursachte globale Erwärmung nimmt zu. Ebenso nehmen der Hunger, die Krankheiten und auch die sozialen und territorialen Ungerechtigkeiten zu.
Die zyklischen Krisen des Kapitalismus werden immer häufiger, tiefgreifender und länger. So war es in der jüngsten internationalen Banken- und Finanzkrise, die ganze Nationen zerstört, und zwar immer die ärmsten, die Regierungen ändert – obwohl an deren Spitze die selben Politiker stehen, die die Unternehmen und Großkonzerne beschützen -, und die die gesamte Last der Schulden und der Habgier der Reichen auf die Arbeiter und Unterdrückten ablädt.
Aber das Schlimmste ist, daß es immer wenige Auswege aus diesen Krisen gibt, so daß der Tag kommen wird, an dem der Imperialismus, um seine Herrschaft zu verewigen, zu seiner extremen faschistischen Phase zurückkehren wird, um eine oberste Weltregierung zu schaffen, die alle anderen Wesen des Planeten in Sklaverei hält. Das ist fast die einzige Option, die ihnen noch bleibt, und die wir in ihrem gegenwärtigen kriegerischen Vorgehen bereits erkennen können.
Zum Glück wächst auch die Hoffnung. Die sozialen Bewegungen wachsen, darunter die Gruppen der »Empörten«, die »Occupy Wall Street«-Bewegung und alle unsere Völker, die in der einen oder anderen Weise Wege suchen, die Anstrengungen der 99 Prozent der Menschheit zu befördern.
Wir müssen uns besser organisieren und standfestere und entschlossenere Führungspersönlichkeiten haben. Wir müssen uns ein Arbeitsprogramm geben, unsere feste und unerschütterliche Einheit schaffen und dort, wo es in einigen Fällen und Ländern möglich ist, dafür sorgen, daß diese sozialen Bewegungen zu Parteien oder politischen Kräften werden, die in der Lage sind, die Wahlen zu gewinnen, damit die Macht der großen Mehrheit der Unterdrückten, die den Planeten bevölkern, dient, und nicht mehr dem Kapital.
Es ist die Stimme von Rosa, die uns vorantreibt und uns heute mehr denn je Orientierung gibt: Nur der Sozialismus wird uns vor der Barbarei retten!
In unserem Lateinamerika erleben wir mit der Schaffung der CELAC (Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik) wirklich umwälzende historische Augenblicke. Diese Organisation läßt sich gestützt auf Brüderlichkeit, Solidarität und Zusammenarbeit von Beziehungen leiten, die die Differenzen, die nationale Souveränität und die Unabhängigkeit respektieren.
Dies ist unsere bescheidene Ehrung für die Frau, die ihr Leben für diese bessere Welt gegeben hat, die wir alle so sehr brauchen, und die uns heute in diesem Saal zusammengebracht hat.
Aus den Gefängnissen der USA, in denen sie uns ungerechtfertigt gefangenhalten, senden Euch eure fünf kubanischen Brüder die den Ruf und das Beispiel von Rosa Luxemburg bewundern und ehrenvoll verteidigen, unsere Herzlichkeit und Zuneigung.
Gemeinsam werden wir siegen!
Fünf ewige Umarmungen!
Antonio Guerrero
René González
Gerardo Hernández
Fernando González
Ramón Labñino Salazar
Bundeshaftanstalt Jesup, Georgia (USA)
10. Januar 2012, 9.53 Uhr -
· Berichte
»Runter vom Balkon«
Das Kulturprogramm der Rosa-Luxemburg-Konferenz hat begonnen. Rolf Becker liest aus dem Roman »Zündschnüre« von Franz Josef Degenhardt, den der Kulturmaschinen-Verlag im Rahmen einer Werksausgabe neu aufgelegt hat. Der proletarische Jugendroman ist in den letzten Kriegsjahren angesiedelt und erstmals 1973 erschienen. Degenhardt wäre im Dezember 80 Jahre alt geworden. »Zündschnüre« sei die »Wunschbiographie« seines Vaters gewesen, sagt Kai Degenhardt, der anschließend zur Gitarre greift. Wie »Väterchen Franz« ist auch Sohn Kai ausgebildeter Rechtsanwalt und Liedermacher.
Einigen Zuhörern war es neu, daß sein Vater Texte wie »Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf« später zurückgenommen hatte. Einige nehmen das wohlwollend, andere etwas enttäuscht zur Kenntnis.
Franz Josef Degenhardt:
Nostalgia
Genossinnen, Genossen,
wir haben uns genossen und auch den Wein im schwarzen Krug.
Hinter den viel zu starken Sätzen, den zersprungenen Gitarren,
hörten wir auch die Signale nicht mehr klar genug.
Das Morgenrot, es streut schon seine Rosen,
in den Straßen stehen Leute, und die singen schon.
Und es werden immer mehr.
Die brauchen neue Lieder, neu geschriebene Blätter.
Also los, kommt runter vom Balkon. -
· Berichte
Solidaritätsadresse aus der Türkei
Auch der Abgeordnete des türkischen Parlaments, Ertugrul Kürkcü, hat soeben ein Grußwort an die Rosa-Luxemburg-Konferenz gehalten.
Kürkcü ist einer der bekanntesten Vertreter der 68er Generation in der Türkei. Er war Vorsitzender der Revolutionären Jugendföderation Dev Genc und Mitbegründer der Stadtguerilla THKP-C. 1972 war er an der Entführung von drei NATO-Technikern beteiligt, um zum Tode verurteilte Genossen freizukämpfen.
Als einziger überlebte er 1972 in Kizildere ein Massaker der Armee an seiner Guerillaeinheit und wurde anschließend bis 1984 inhaftiert. Nach seiner Freilassung war Kürkcü in verschiedenen sozialistischen Parteien und in der linken Presse aktiv. Im Juni 2011 wurde Kürkcü als Direktkandidat für den aus sozialistischen und prokurdischen Parteien gebildeten Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit in der Stadt Mersin in das Türkische Parlament gewählt, wo er heute der Fraktion der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP angehört.Rosa Luxemburg sei für die Sozialisten in der Türkei eine wichtige Inspirationsquelle, sagte Kürkcü. Diejenigen, die heute in der Türkei im Sinne Rosa Luxemburgs für Freiheit eintreten, sehen sich starker Repression durch die allein regierende islamisch-konservative AKP-Partei ausgesetzt. Insbesondere die kurdische Befreiungsbewegung, die für demokratische Autonomie eintritt, wird verfolgt.
Tausende Mitglieder der BDP, einschließlich Bürgermeister, Stadträte und Parlamentsabgeordnete sind heute in Haft. Während die Regierung Erdogan die Völker des Mittleren Ostens mit einer antizionistischen Rhetorik für sich einzunehmen versucht, ist sie in Wirklichkeit der engste Bündnispartner Israels und der NATO. In der Türkei wurde ein Raketenabwehrsystem der NATO errichtet, das seit Januar 2012 in Betrieb ist. Kürkcü schloß sein Grußwort mit einem Appell zur internationalen Solidarität:»Der Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit kämpft für Arbeiterrechte, für die Rechte des unterdrückten kurdischen Volkes. Wir sind eure Genossen. Laßt uns gemeinsam diesen Kampf gegen Imperialismus und Kapitalismus führen.« (nib)
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Veranstaltung am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) führte eine sportliche Aktion unter dem Motto »Jugend trainiert für Dresden« auf dem Wittenbergplatz durch.
Damit sollte auf die Mobilisierung gegen den Naziaufmarsch in Dresden und die Verstrickung der Staatsbehörden in rechte Terrororganisationen, wie der Zwickauer Terrorzelle »NSU« , hingewiesen werden. Im Februar wollen tausende Faschisten mit einer Demonstration der Bombardierung Dresdens während des Zweiten Weltkriegs gedenken. Dabei blenden sie aus, dass es Nazideutschland war, das ganze Länder verwüstete, Millionen Menschen tötete und in Lager steckte. Nachdem es in den letzten zwei Jahren gelang, den Aufmarsch trotz staatlicher Repression zu verhindern, ruft dieses Jahr erneut ein breites Bündnis aus Antifa-Gruppen, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen zu Massenblockaden auf. In diesem Sinne: »Block Dresden 2012 – Den Naziaufmarsch blockieren, bis er Geschichte ist!«
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Mumia entwickelt hier einen fiktiven Dialog mit Rosa Luxemburg über die neue Occupy Bewegung. Er ist momentan extremer Isolationshaft im SCI Mahanoy Gefängnis ausgesetzt und konnte er den Beitrag nicht selbst sprechen. Daher haben seine Tochter Samiya und seine Literaturagentin Frances Goldin seinen Beitrag für die Konferenz in Berlin eingesprochen. Vielen Dank an alle, die mit diesem Video geholfen haben, Mumias Stimme aus der Isolation heraus hörbar zu machen. Solidarität ist eine Waffe! FREE MUMIA!
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Die Situation der politischen Gefangenen in den USA ist auch bei der diesjährigen Berliner Rosa-Luxemburg-Konferenz ein Schwerpunktthema.
jW-Autor Markus Bernhardt verlas eine Resolution des Berliner Freundeskreises für den in den in den USA inhaftierten Soldaten Bradley Manning. Dem mutmaßlichen »Whistleblower« kann bei einer Verurteilung durch ein Militärgericht im schlimmsten Fall die Todesstrafe drohen.
Dem afroamerkianischen Journalisten Mumia Abu-Jamal, der in den 1980er Jahren als angeblicher Polizistenmörder verurteilt wurde und bereits mehrfach eine Grußbotschaft zur Rosa-Luxemburg-Konferenz beisteuerte, droht sie nun zum ersten Mal nicht mehr. Die Todesstrafe wurde in seinem Fall nach drei Jahrzehnten in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Eine weltweite Solidaritätsbewegung fordert weiterhin seine Freilassung. Als Mitglied seines Verteidigerteams spricht bei der Konferenz in Berlin soeben Johanna Fernandez.
Dokumentiert:
Solidaritätserklärung für Bradley Manning
Wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 17. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz erklären hiermit unsere Solidarität mit dem in den USA inhaftierten Soldaten Bradley Manning. Der junge Mann, der für die US-Army im Irak stationiert war, wurde im Mai 2010 unter dem Verdacht verhaftet, der Enthüllungsplattform »WikiLeaks« als sogenannter Whistleblower Videos und Dokumente zugespielt zu haben. Darunter jener Videomitschnitt des weltweit bekannt gewordenen US-Hubschrauberangriffs 2007 in Bagdad, bei dem die Besatzung gezielt auf Zivilisten und zwei Journalisten geschossen und diese ermordet hat. Insgesamt zwölf Personen fielen dem Luftangriff, der die Brutalität der Besatzung des Iraks für viele Menschen weltweit erschreckend sichtbar werden ließ, zum Opfer. In der Öffentlichkeit lösten besonders die Kommentare der Kampfhubschrauber-Piloten Empörung aus. Ein Pilot kommentierte den Vorfall mit »Sieh dir diese toten Bastarde an!«, während ihm ein anderer Funkteilnehmer zu den »guten Schüssen« gratulierte.
Bradley Manning wird seitens der US-Regierung vorgeworfen, durch eine angeblich systematische Weitergabe geheimer Dokumente an »WikiLeaks« militärisches Personal und die nationale Sicherheit der USA gefährdet sowie ausländischen Geheimdiensten und Terroristen in die Hände gearbeitet zu haben. US-Außenministerin Hillary Clinton fabulierte sogar im vergangenen Jahr herbei, daß diese Enthüllungen nicht nur als Angriff auf die US-Außenpolitik, sondern auch auf die internationale Gemeinschaft zu verstehen seien. Sie kündigte an, »aggressive Schritte unternehmen« zu wollen, »um jene zur Rechenschaft zu ziehen, die diese Informationen gestohlen haben«.
Wir hingegen finden: Anstelle von Haft und der Manning zuteil gewordenen Erniedrigung und Folter gebührt dem jungen Mann ein Preis für Zivilcourage! Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, renommierte Juristen aus der ganzen Welt und das internationale Solidaritätsnetzwerk für Bradley Manning werfen der US-Regierung eine unmenschliche Behandlung« von Manning vor und forderten die Lockerung der »erniedrigenden und illegalen«
Haftbedingungen. Wir verurteilen aufs Schärfste, daß Bradley Manning, dem in der Isolationshaft sogar die komplette Kleidung, ein Kissen und eine Bettdecke verwehrt wurden und der nackt auf dem Boden schlafen musste, nunmehr der Prozeß vor einem Militärgericht gemacht werden soll. Wegen angeblicher »Kollaboration mit dem Feind« kann ihm sogar die Todesstrafe drohen. Derzeit strebt die Anklage an, Manning zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilen zu lassen.
Um überhaupt etwas Positives für ihren Mandanten erreichen zu können, sehen sich Bradley Mannings Verteidiger offenbar gezwungen, gar nicht erst zu versuchen, den angeblich von ihm begangenen Geheimnisverrat zu widerlegen oder womöglich dessen Beitrag bei der Aufdeckung eines Kriegsverbrechens zu betonen. Stattdessen bitten sie um Milde und rücken die Seelennöte des schwulen Soldaten in den Vordergrund ihrer Verteidigungsstrategie. Dabei werfen sie seinen Vorgesetzten vor, Manning in der Truppe vor Ausgrenzung aufgrund seiner Homosexualität nicht hinreichend geschützt zu haben. Damals galt in den US-Streitkräften noch die »Don't ask, don't tell«-Regelung, die es Soldaten verbot, gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Öffentlichkeit zu führen. Die Vorgesetzten hätten Manning aufgrund seiner »emotionalen Probleme« niemals an
geheime Daten lassen dürfen. Deshalb sei eine Haftstrafe von 30 Jahren »mehr als genug«, so Mannings Anwalt David Coombs. Wie erdrückend die Beweise auch sein mögen und egal, welcher Druck auf Manning während seiner Zeit beim Militär gelastet haben mag, einen solchen strategischen Rückgriff auf das Zerrbild eines »tratschsüchtigen Schwulen« lehnen wir ab.
Wir betrachten den Fall Bradley Manning nicht isoliert, sondern ordnen ihn ein in eine Fülle an staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen Menschenrechtsaktivisten, Gegner von Krieg und Besatzung sowie die politische Linke insgesamt und weltweit. Wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 17. Internationalen Rosa Luxemburg-Konferenz in Berlin, fordern hier und heute von der USRegierung die umgehende Freilassung und eine angemessene finanzielle Entschädigung Bradley Mannings! In aller Deutlichkeit verurteilen wir die von den USA betriebene Kriegspolitik!
In diesem Sinne: Freiheit für Bradley Manning und alle fortschrittlichen Gefangenen weltweit.
Berlin, den 14. Januar 2012
Weitere Infos, auch zu Spendenmöglichkeiten, beim
Bradley Manning Support Network:
http://www.bradleymanning.org/
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· Berichte
17. Rosa-Luxemburg-Konferenz eröffnet
Unter dem Motto »Wir verändern die Welt« ist heute um 11 Uhr im Berliner Urania-Haus die 17. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz eröffnet worden. Nach der Begrüßung durch Moderator Dr. Seltsam und den stellvertretenden jW-Chefredakteur Rüdiger Göbel beginnt das Programm.
Der erste Referent ist auch der jüngste: Sami Ben Ghazi, Mitglied der Direktion der Union de la jeunesse communiste de Tunisie (Union der Kommunistischen Jugend Tunesiens) war aktiver Teil der Revolte, die vor einem Jahr in Tunesien zum Sturz des Dikators Ben Ali führte.
Er begrüßt die Konferenzteilnehmer zu ihrer großen Überraschung auf Deutsch. Als er auf die aktuelle Situation in seinem Land und Geschichte der Arbeiterbewegung Tunesiens zu sprechen kommt, wechselt er ins Französische.
Geopolitik und Revolte
»Die Revolution destabilisiert eine Diktatur nach der anderen«, sagt Ben Ghazi. Der stellvertretende jW-Chefredakteur Rüdiger Göbel fragt ihn später, ob man die Aufstände gegen dem Westen verbundene Regimes in Tunesien und Ägypten wirklich mit denen in Libyen oder Syrien vergleichen könne, deren Regierungen vom Westen seit Jahrzehnten bekämpft worden seien. Ben Ghazi sagt, der libysche Übergangsrat bestehe zum Teil aus Leuten, die schon im alten Regime eine wichtige Rolle gespielt hätten und nun »den Kolonialismus der NATO begrüßen.« Von guten oder schlechten Beziehungen zum Westen will er es aber nicht abhängig machen, ob ein Regime demokratisch ist.
»Es stimmt, daß Syrien keinen guten Kontakt zu westlichen Staaten hat, aber es ist kein Regime, das die Arbeiterklasse respektiert«, sagt der Jungkommunist, »sondern eines, das das syrische Volk auch ausbeuten will.« Es gebe sowohl Diktaturen, die an die USA gebunden seien, als auch solche, die an Rußland oder China gebunden seien. Auch die Rolle der Medien und die Überprüfbarkeit der Berichte über Syrien spricht Rüdiger Göbel in der Diskussion an. Um 12.30 Uhr steht allerdings mit Geraldo Gasparin von der brasilianischen Landlosenbewegung schon der nächste Referent auf dem Plan. (jW)
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Schon vor einem Jahr zeichnete sich ab, daß die Rosa-Luxemburg-Konferenz bald zu groß für das Urania-Haus in Berlin sein wird. Für den morgigen Samstag deutet sich ein neuer Besucherrekord an. Im Vorverkauf seien bereits mehr Eintrittskarten unter Volk gebracht worden als im letzten Jahr, berichtete jW-Geschäftsführer Dietmar Koschmieder am Freitag abend beim Referentenempfang in der Ladengalerie der jungen Welt in der Torstraße.
Dabei hatte es 2011 einen besonderen Medienhype im Vorfeld der Rosa-Luxemburg-Konferenz gegeben, nachdem Linkspartei-Chefin Gesine Lötzsch vorab ein Referat unter dem Motto »Wege zum Kommunismus« in dieser Zeitung veröffentlicht hatte. Das böse K-Wort wurde nach Kräften skandalisiert. 2200 Gäste nahmen daraufhin an der Konferenz teil; 140 Journalisten waren akkreditiert, darunter ein gutes Dutzend Kamerateams. Die Podiumsdiskussion im großen Saal mußte bereits per Großleinwand in den Eingangsbereich übertragen werden.
In diesem Jahr blieb die Aufregung der »Leitmedien« aus. Das Interesse an der Rosa-Luxemburg-Konferenz scheint dennoch kontinuierlich zu wachsen.
Ein Teil der ausländischen Referentinnen und Referenten traf bereits am Freitagabend in der jW-Ladengalerie ein. So etwa Geraldo Gasparin von der Landlosenbewegung »Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra« (MST) in Brasilien sowie Sami Ben Ghazi von der Union der Kommunistischen Jugend Tunesiens und die Sprecherin des Verteidigerteams von Mumia Abu Jamal in den USA, Johanna Fernandez. (jW)
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10.00 Einlaß
10.30 Musikalische Eröffnung: Trio Palmera
Beiträge: »Wir verändern die Welt«
11.00 Sami Ben Ghazi, Mitglied der Direktion der Union de la jeunesse communiste de Tunisie (Union der Kommunistischen Jugend Tunesiens)
12.20 Geraldo Gasparin, Mitglied der Bundesdirektion der Landlosenbewegung »Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra« (MST) Brasilien, Beiratsmitglied der Bundesschule »Escola Nacional Florestan Fernandes«
13.15 Grußbotschaft von Mumia Abu-Jamal, Journalist und politischer Gefangener, USA; Johanna Fernandez, Historikerin und Sprecherin des Verteidigungsteams von Mumia Abu-Jamal, USA
14.20 »Farewell Karratsch«, Lieder von Kai Degenhardt und Rezitation Rolf Becker
15.10 Pedro Noel Carrillo Alfonso, Mitglied des Ressorts Internationale Beziehungen im ZK der KP Kubas16.10 Grußbotschaft der Cuban Five
vorgetragen von Botschafter Raúl Becerra Egaña, Kubaanschl. Solikonzert für die Cuban Five: Pablo Miró, Singer/Songwriter, Multiinstrumentalist, argentinische Volksmusik
17.00 Agostinho Lopes, Mitglied des ZK der Kommission für ökonomische Angelegenheiten der KP Portugals, Mitglied der Parlamentsfraktion des Linksbündnisses Coligação Democrática Unitária (Koalition demokratische Einheit)
13.00–14.30 Parallelprogramm von Jugendverbänden: »Jugend aus dem Schußfeld! Strategien gegen den Einfluß der Bundeswehr im Bildungsbereich«
im Kleistsaal
18.00 Podiumsdiskussion »Sozialismus oder Barbarei – Welche Rolle spielt Die Linke?mit: Georg Fülberth, emeritierter Professor für Politikwissenschaft
Jutta Ditfurth, Publizistin, Buchautorin und Stadtverordnete von ÖkoLinX-ARL im Frankfurter Römer
Dietmar Dath, Journalist, Autor
Heinz Bierbaum, stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, Professor für Betriebswirtschaft an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes und Leiter des hochschul- ansässigen INFO-Instituts
Moderation: Arnold Schölzel, Chefredakteur junge Welt
Konferenzsprachen: Englisch, Spanisch, Deutsch (es wird simultan übersetzt)
20.00 Ausklang im Foyer
Lateinamerikanische Musik und Mojito mit Trio Palmera -
· Berichte
Liveberichte aus der Urania
Von der am kommenden Samstag, den 14. Januar 2012 in der Berliner Urania stattfindenen Rosa-Luxemburg-Konferenz soll es erstmals eine Live-Berichterstattung über das Internet geben. Schon während der Konferenz wird die jW-Redaktion mittels Kurzbeiträgen, Interviews und Fotos über Referate und Diskussionen mit Gästen aus Nord- und Südamerika, Afrika und Europa berichten. Auch die Videobotschaft der Tochter von Mumia Abu-Jamal wird dann aktuell im Internet verfügbar gemacht. Diese neue Art der Konferenzberichterstattung ist kostenfrei unter www.jungewelt.de zugänglich.
Die voraussichtlich ab 18 Uhr stattfindende Podiumsdiskussion kann per Internetstream live am Computer mitverfolgt werden. Der stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Heinz Bierbaum diskutiert dann mit der Publizistin Jutta Ditfurth, dem Schriftsteller Dietmar Dath und dem Autor Georg Fülberth über die Frage »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt die Linkspartei?«.
Die Tageszeitung junge Welt organisiert seit 17 Jahren die Konferenz gemeinsam mit Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen, Medien und Bürgerinitiativen am Vortag der jährlich stattfindenden Demonstration zur Erinnerung an die Ermordung der Mitbegründer der KPD Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919. Die Konferenz gilt als das wichtigste regelmäßig stattfindende Symposium der Linken im deutschsprachigen Raum. In diesem Jahr werden über 2000 Teilnehmende erwartet, zwei Tage vor Konferenzbeginn ist die Veranstaltung bereits fast ausverkauft. Da das Interesse an der Konferenz jährlich wächst, wollen Redaktion und Verlag der Zeitung in diesem Jahr erstmals Erfahrungen mit der Liveberichterstattung über die Online-Ausgabe der jungen Welt sammeln. Das komplette Veranstaltungsprogramm ist auch unter www.rosa-luxemburg-konferenz.de einsehbar. -
Beginnen wir mit dem berühmten Zitat von Rosa Luxemburg aus der Juniusbroschüre von 1916: »Friedrich Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.«1
Hier stimmt etwas nicht. Das Engels-Zitat ist nicht belegt. Es ist sogar unwahrscheinlich, daß der Mitbegründer des historischen Materialismus vor der Barbarei warnte. Zu ihr hatte er nämlich kein negatives Verhältnis. Ausweislich seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« von 1884 war sie – als Gentilgesellschaft – eine historische Periode zwischen zwei anderen: »Wildheit« und »Zivilisation«.2 Der Übergang zu letzterer war für ihn ein Fortschritt, aber ein problematischer: Es entstanden die patriarchale Familie, das Privateigentum und der Staat, die irgendwann, im Verein freier Menschen, wieder abzuschaffen sind. Als Engels 1893 die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Miliz vorschlug, wollte er sogar wieder zurück zur Wehrorganisation der Gentilgesellschaft.
Tatsächlich hatte Rosa Luxemburg bei der Beschreibung der Katastrophe von 1914ff. nicht die prähistorische Barbarei im Sinn, sondern die Gegenwart und eine Analogie aus der schriftlich überlieferten Geschichte, mithin zwei Beispiele aus der Geschichte der Zivilisation, wenngleich, wie gezeigt, unter falschem Namen: »Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.«3
Barbarei ist für sie demnach eine Metapher für einen Zivilisationsbruch, und das ist schon wieder etwas schief, denn letzterer ist keine Regression, sondern etwas Modernes. Das hat Engels tatsächlich vorhergesehen: den mit neuesten Waffen geführten Materialkrieg. Als Militärtheoretiker, der die technische Entwicklung genau verfolgte, wußte er, wovon er redete. Seine Anschauung von dem, was kommen konnte, hatte er als Kommentator des Krimkriegs (1853–1856) gewonnen. Der ist noch von einem anderen prominenten Zeitgenossen studiert worden: Leo Tolstoi, dort als Offizier eingesetzt, brachte seine Schilderung der Lazarettzustände in »Krieg und Frieden« von da mit. Er wurde Pazifist; Engels wußte: So was kommt von so etwas, also vom Kapitalismus. Deshalb Sozialismus. Die Katastrophe ist kein Rückfall, sondern etwas noch nie Dagewesenes. Lassen wir also die unschuldigen Barbaren in Ruhe. Katastrophen Die sozialistischen Bewegungen sind von den Bedingungen des Kapitalismus, auf die sie reagieren, verunstaltet. Ihre größte Schubkraft erhielten sie immer in Zeiten eklatanter Katastrophen der bürgerlichen Gesellschaft. Der Aufstand der Pariser Arbeiter im Juni 1848 antwortete auf die durch eine Wirtschaftskrise ausgelöste Massenarbeitslosigkeit, in der Commune erhoben sich 1871 die in der Niedergangsperiode des Bonapartismus besonders Gebeutelten. Die Große Depression 1873ff. brachte einen Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie, der selbst durch das Sozialistengesetz nicht zu stoppen war. Die revolutionäre Krise in Europa 1917–1923 einschließlich der russischen Revolution hatte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zur Voraussetzung. Im schweren Wirtschaftseinbruch ab 1929 wurden die Kommunisten wieder stärker, und die Nazis hatten ihre Sozialismusdemagogie (so wie bereits ab 1873 die Antisemiten die »soziale Frage« des deutschen Arbeiters für sich entdeckten). 1945 war der Kapitalismus so diskreditiert, daß auch die CDU kurze Zeit nichts mehr von ihm wissen wollte.
Beschränkt sich die Legitimation des Sozialismus darauf, daß er die Antwort auf Katastrophen (durch dieses Fremdwort haben wir inzwischen das andere – Barbarei – ersetzt) ist, dann erscheint er als das kleinere Übel, das gern auch einmal umso größer sein darf, je schrecklicher die Blamage der alten Ordnung ist. Sozialismus ist dann wie eine chirurgische Operation, über die sich ja auch niemand freut, selbst wenn sie unvermeidlich ist. Gedeiht der Kapitalismus einige Jahrzehnte und an ausgewählten Orten einigermaßen, dann versteht, wer ihn nicht anders kennt, gar nicht, weshalb Menschen auf die Idee kommen konnten, zum Zweck seiner Überwindung Mangel und Mauer zwar für nicht besonders hübsch, aber doch als in ihrer Zeit alternativlos anzusehen. Das System ohne Alternative ist nämlich dann der Kapitalismus. Möglichkeiten Hier wurde tatsächlich etwas übersehen. Marx dachte über eine neue Gesellschaft nicht nur deshalb nach, weil die alte so katastrophal war und ist, sondern weil sie selbst das Potential ihrer Überwindung – und damit des besseren Lebens – erzeugt. Wir lächeln heute etwas darüber, wenn er im »Kapital« die Aktiengesellschaften und die Konzentration des Kapitals, bei der ein Kapitalist viele andere beseitigt, als Anzeichen dafür auffaßte, daß die bürgerliche Gesellschaft sich aufheben könne. Steigerung der Arbeitsproduktivität rechnete er sogar zu den »zivilisatorischen Seiten des Kapitals«.4 Das war für ihn keine Zwangsläufigkeit und keine Prophezeiung, sondern der Hinweis, daß man etwas daraus machen könne. »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«, in der »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«5, sei eben mehr möglich als im Kapitalismus (so steht es in der Kritik des Gothaer Programms von 1875), und diese Differenz macht den Kommunismus attraktiv, nicht das Elend der Gegenwart, die manchmal ja auch auszuhalten ist. Wenn Lenin den Imperialismus als faulenden Kapitalismus bezeichnete, dann meinte er, daß ein Zustand bereits erreichter Überreife überschritten sei. In ihrem Buch »Monopol Capitalism« von 1966 haben Paul A. Baran und Paul M. Sweezy als »potential surplus« jenen Überschuß an Wohlfahrt identifiziert, der über das kapitalistisch schon Erreichbare hinausgehe. Die Bewegung der Intellektuellen (und danach auch von Arbeitern) des Jahres 1968 antwortete nicht auf eine Krise, sondern auf die Chancen, zu denen der höchstentwickelte Kapitalismus in den Metropolen die Voraussetzungen geschaffen hatte. In Deutschland allerdings wurde skandiert: »Kapitalismus/Führt zum Faschismus/Kapitalismus/Muß weg.« Daß die RAF aus dieser Alternative ihre Legitimation zog, mag einen Teil ihrer Irrtümer erklären. Auch die US-amerikanische Intellektuellenbewegung verwies teilweise auf eine Katastrophe: Vietnam. Und es ist ja auch wahr: Im Goldenen Zeitalter des Kapitalismus, das Träume wachsen ließ, war die Gefahr des Atomkriegs immer präsent. Aber der Sozialismus wollte mehr als nur die Vermeidung von Krieg. Peter Hacks lächelte über den armen Brecht, der sich mit Gewerkschaftsstücken habe behelfen müssen, während man nun den Leuten schon etwas Vollkommenes und Klassisches zeigen könne. Barbara Kirchner und Dietmar Dath werden in ihrem Buch »Der Implex« (2012) – wie Dath schon in »Maschinenwinter« (2008) – die kapitalistischen Widersprüche nicht als Mangelproduktion definieren, sondern als den Gegensatz zwischen dem Wirklichen und dem jetzt schon Möglichen.
Um Utopie handelt es sich bei alledem nicht. Die war nämlich eine Gedankenkonstruktion, die eine einzige Voraussetzung hatte: einen Vorgang im Kopf ohne Anhalt in der Realität. Etwas anderes ist das Sichtbarmachen eines aktuellen Potentials. Gegenrechnung Wenn das jetzt schon zu machen wäre, warum tut man es nicht? Der polnisch-US-amerikanische Politologe Adam Przeworski, ein Vertreter des akademischen »Analytical Marxism« (einer Gedankenrichtung, der man im Übrigen nicht unbedingt anhängen muß), hat bei dem Versuch, gesellschaftliche Prozesse auf individuellen Nutzenkalkül zurückzuführen, ein brandgefährliches »Valley of Transition«, ein Tal der Tränen, entdeckt, in dem die Hoffnungen von Revolutionären verschwinden, wenn sie feststellen, daß es für sie und ihre Familien erst einmal viel schlechter werden wird, bevor es für künftige, ihnen persönlich unbekannte Generationen besser werden kann.6 Warum sollten sie also mit der Wurst nach dem Schinken werfen?
Das hätten die Pariser Arbeiter 1848 und 1871, die eine solche Rational-Choice-Theorie noch nicht kannten, sich eben vorher überlegen sollen, bevor sie niederkartätscht wurden. Der Kapitalismus wehrt sich, und deshalb überlegt man sich eben das Risiko. Theodor W. Adorno, dessen erfahrungsgesättigte Ängstlichkeit immer etwas Sympathisches, weil Grundehrliches hatte, hat die Verinnerlichung dieses Schutzmechanismus einst so beschrieben: »Auch in der hochliberalen Gesellschaft war nicht Konkurrenz das Gesetz, nach dem sie funktionierte. Diese war stets ein Fassadenphänomen. Die Gesellschaft wird zusammengehalten durch die wenn auch vielfach mittelbare Drohung körperlicher Gewalt, und auf diese geht die ›potentielle Feindseligkeit‹ zurück, die sich in Neurosen und Charakterstörungen auswirkt.«7 Großen Eindruck macht überdies, daß in den realen Sozialismen des 20. Jahrhunderts, die sich auf nicht viel mehr berufen konnten als darauf, daß sie Ergebnis einer üblen kapitalistischen Vergangenheit waren, das Valley of Transition nicht aufhörte, sondern da und dort immer weiter in die Tiefe führte. So schwer ist das also. Überakkumulation Nachdem wir vorhin wichtigtuerisch an Rosa Luxemburg herumgemeckert haben, weil sie keine gute Ethnologin war und den Barbaren falsch nachredete, wollen wir nun doch ihr großes Verdienst nicht verschweigen: ihre Theorie der Überakkumulation, niedergelegt in ihrem Hauptwerk »Die Akkumulation des Kapitals« von 1913.
Sie hat, wie schon Marx, gezeigt: Kapitalistisches Privateigentum, das sich bei Strafe des Untergangs des konkurrierenden einzelnen Unternehmens ständig vermehren muß, bedeutet nicht nur Akkumulation, sondern Überakkumulation, aus der es fast immer nur katastrophische Auswege gibt. Das führt zu den systemischen Krisen, bisher vier.
Die Industrielle Revolution endete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Überakkumulation vor allem von Montankapital. Nachdem die Gegend mit Gleisen und Lokomotiven vollgestopft war, platzte 1873 die Eisenbahn- und Terrainblase. In der langen Depression entstanden der Organisierte Kapitalismus und Imperialismus. Krupp baute jetzt eben nicht nur nahtlose Eisenbahnradreifen, sondern mehr Kanonen und belieferte die Schlachtflottenrüstung; der Erste Weltkrieg war eine prima Abhilfe gegen die Überakkumulation, die sich dann aber in den USA der zwanziger Jahre neu aufbaute und in die Weltwirtschaftskrise von 1929ff. führte.
Wieder ging ein Kapitalismus, wie man ihn kannte (Dynamik der Produktion, nicht der Nachfrage), unter, und ein neuer kam: der staatsmonopolistische keynesianische Kapitalismus mit seinen zwei Phasen: als Kriegskapitalismus bis 1945 und als Wohlfahrtskapitalismus bis 1973/75, der in gewisser Weise noch von der Katastrophe der Jahre 1929–1945 lebte: Es war viel aufzuholen. Der nächste Einschnitt kam in der Weltwirtschaftskrise von 1975: die Dritte Industrielle Revolution, kombiniert mit dem Monetarismus, steigerte die organische Zusammensetzung des Kapitals, die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit drückte auf Löhne und Nachfrage, dadurch überakkumuliertes Kapital produzierte Blasen und schließlich den vierten Einbruch: seit 2007. Nach 1975 war aus dem staatsmonopolitischen Kapitalismus (SMK) der finanzmarktgetriebene Kapitalismus (FMK) geworden. Jetzt kommt wohl wieder etwas Neues. Was? Dazu später. Wie in jedem guten Drama wird in der Darstellung vor dem letzten Akt zwecks Erhöhung der Spannung jetzt erst einmal ein retardierendes Moment eingelegt, nämlich: Die Eigentumsfrage Das kapitalistische Privateigentum, so haben wir gesehen, war immer wieder mit periodischer Überakkumulation verbunden. Ihm müssen wir uns also nun zuwenden.
1848 schrieben Marx und Engels über die Kommunisten – wo kommen die plötzlich her? Ach so: Wir reden immer noch von Rosa Luxemburg, sie war Kommunistin –: »In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.«8
Die Formulierung ist vorsichtig: Die E-Frage wird gestellt aber nicht positiv, sondern zunächst nur negativ beantwortet – die »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«9, sei unvereinbar mit dem bürgerlichen Privateigentum. Deshalb: »In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.«10 Wir merken uns nebenbei: Hier ist nicht nur von Beseitigung die Rede, sondern von Aufhebung. Das, was aufgehoben werden kann, muß vorher selbst die Voraussetzung dafür geschaffen haben.
Die Eigentumsfrage ist – wie der Mehrwert – eine Puppe in der Puppe. So wie dieser kaum einmal blank zutage tritt, sondern eingepackt in (selten) freihändige Aufschläge auf die Produktionskosten, Innovationsgewinn, Vorteil bei zeitweiligem Überwiegen der Nachfrage über das Angebot, Monopolprofit, so nimmt das Privateigentum an den Produktions- und Zirkulationsmitteln wechselnde Formen an: nach 1873 Monopole, Verstaatlichungen (der Eisenbahnen!) und Kommunalisierungen, öffentlich-rechtliche Regulationen (z.B. von vermietetem Immobilienbesitz), ab 1929 Steuerung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Privatisierungen. Und jetzt? Operationalisierung Wer gegenwärtig dafür eintritt, daß die Finanzspekulation eingeschränkt wird, hat davon keinen politischen Konkurrenzvorteil, denn das verlangen mittlerweile alle. Es wird wohl auch – spätestens nach dem nächsten Crash – zu einer Neuordnung kommen, aber zu welcher?
Denkbar ist, daß versucht wird, die Schmälerung der hohen Renditen, die einige Jahrzehnte lang an den Börsen erzielt wurden, durch noch stärkeren Druck auf die Löhne und Sozialtransfers und weitere Ausschlachtung der Staaten zu kompensieren. Dabei ist der Finanzsektor mittlerweile in einem Zustand, daß hier die Eigentumsfrage mit mehr unmittelbarer Evidenz gestellt werden kann als in anderen Bereichen. Man mag gegen die Partei Die Linke ja dies oder jenes einzuwenden haben, aber hier ist bei ihr konzeptionell gut vorgearbeitet worden, auch schon zu Zeiten der PDS. Dankbar darf an den Ökonomen Peter Hess erinnert werden, der bereits 1990 darauf hinwies, daß Marx von zwei Möglichkeiten der Aufhebung des Privateigentums gehandelt habe: positiv durch die öffentlichen Hände, negativ mit Hilfe des Kredits. Letztere Form – so Hess – sei im gegenwärtigen Kapitalismus dominant. Mit den »Konzernen, Banken, Versicherungsgesellschaften, Investmenthäusern, Pensions- und anderen privaten und staatlichen Geldfonds« sei jene finanzkapitalistische Eigentumsform entstanden, neben welcher das staatssozialistische Eigentum – man befand sich in der Abwicklungsphase der DDR – für einige Zeit schließlich etwas alt aussah.11 Zweiundzwanzig Jahre später ist einerseits dieser Lack gründlich ab, andererseits hat man sich auf der Linken Gedanken über verschiedene Formen des öffentlichen Eigentums gemacht: nicht nur staatliches, sondern auch kommunales, genossenschaftliches; gesellschaftliche Kontrolle der verbleibenden kapitalistischen Unternehmen, Schutz des individuellen Reproduktionsbesitzes vor kapitalistischer Enteignung.12 Bei seinem Einstand in die Linkspartei hat Oskar Lafontaine 2007 in die gleiche Richtung argumentiert.13 Überführung der Finanzdienstleistungsindustrie in öffentliches Eigentum und seine Reduktion auf die Funktion der Sparkassen – hier hat die Eigentumsfrage eine aktuell lösungsreife Form angenommen. Gleiches gilt für den Energiesektor.
Das Problem der Steuern und der Finanzierung der sozialen Sicherung gehört ebenfalls hierher. Die Liberalen wissen schon, weshalb sie Vermögenssteuern, steile Progression der Einkommensteuern und Sozialabgaben (»Lohnnebenkosten«) als sozialistisch ablehnen. Als das britische Parlament 1847 die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkte, freute sich Marx: »Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.«14 Wie das? Die freie Verfügung der Unternehmer über die von ihnen gekaufte Arbeitskraft war öffentlich-rechtlich eingeschränkt. Heute argumentieren Heinz J. Bontrup und Mohssen Massarrat in ihrem Manifest »Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!« so – 30stündige Arbeitswoche, neue Beschäftigung in durch Vermögens- und höhere Spitzensteuersätze finanzierter ausgebauter öffentlicher Infrastruktur.
Die Dritte Industrielle Revolution hat eine sich ausweitende Allmende geschaffen, in der Softwareprodukte (z.B. per Download) erfreulich frei zugänglich sind, nicht aber ihre Produktionsmittel. (Das ist wie mit den Kugelschreibern, die man nicht mehr kaufen muß, denn man erhält sie als Werbegeschenke. Irgendwo aber werden sie in privaten Fabriken hergestellt.) Paul W. Cockshott und Allin Cottrell entwerfen einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der auf der Basis moderner Datenverarbeitung umfassende Demokratie und effiziente Allokation ermöglicht. Wunderbar. Zugleich hat Dietmar Dath zutreffend vermutet, die Entdeckung eines Staatstrojaners 2011 bedeute einen ähnlichen Einschnitt wie 1986 Tschernobyl. Was der Staat kann – Informationen stehlen, kontrollieren, manipulieren – bringen auch private Firmen zustande. Herrschaft über die Daten der Nutzer, das heißt: ihre Überführung von Eigentum der Individuen in fremde Verfügungsgewalt. Kein Wunder, daß hier eine neue Partei entstehen mußte. Zentralperspektive Wir sehen: Das Eigentumsproblem stellt sich meist in vermittelter Form – vorderhand nicht als Beseitigung des Kapitals, sondern als Einschränkung seiner Macht. Wenn eine sich sozialistisch nennende Partei programmatisch die »Zentralität der ökologischen Frage« verkündet, muß sie zeigen können, wie diese von jenem Kernthema her beantwortet werden kann, oder sie hat Pause. Dann wird diese Angelegenheit vorerst politisches Eigentum der Grünen bleiben.
Gerade ist Verdruß entstanden, weil einige Politikerinnen der Linkspartei sich einer Initiative für 30 Prozent Führungsposten in DAX-Unternehmen angeschlossen haben. Zur Überführung dieser Firmen in menschenfreundlichere Eigentumsformen wird das tatsächlich nichts beitragen. Aktuell weiterführend wäre die Frage, ob denn durch eine solche Reform die Altersarmut von Frauen gemildert wird und – falls nein – wie letztere durch Lohn-, Arbeitszeit – und Rentenpolitik, in denen jeweils Modifikationen der kapitalistischen Verfügungsgewalt ins Spiel kommen, zu verhindern ist.
Wer die Eigentumsfrage nur abstrakt propagiert, ist steril. Andererseits: Eine sozialistische Organisation, für die sie nicht der Zentralpunkt ist, von dem aus alle anderen Themen – bis hin zu Krieg, Frieden, Rüstungsproduktion und – exporten – beleuchtet werden, ist nicht mehr erkennbar. Dies war die Bilanz der Partei Die Linke im Jahr 2011. Statt sich der E-Frage zu stellen, ließ sie sich auf allerlei K- und P-Kram (Kommunismus-, Kuba- und Personaldebatten) ein. Mal sehen, wie das 2012 wird.
Anmerkungen
1 Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden, Band 3, Frankfurt/Main 1971, S. 49
2 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 30–35 und 152–173
3 Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie. a.a.O.
4 MEW 25, S. 827
5 MEW 19, S. 21
6 Przeworski, Adam: »Material Interests, Class Compromise, and the Transition to Socialism«, in: Roemer, John (Hrsg.): Analytical Marxism, Cambridge (USA), New York, Melbourne, Paris 1986, S. 162-188
7 Adorno, Theodor W.: »Die revidierte Psychoanalyse«, in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 2003, S. 32
8 Marx, Karl, und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 493
9 A.a.O., S. 482
10 A.a.O., S. 475
11 Hess, Peter: Ausgangspunkte moderner Kapitalismuskritik, in: IPW-Berichte 1/1990, S. 33–39
12 Klein, Dieter: »Die Linke und das Eigentum. Zur programmatischen Diskussion«, in: Brie, Michael, Cornelia Hildebrandt, Meinhard Meuche-Mäker (Hrsg.): Die Linke. Wohin verändert sie die Republik? Berlin 2007, S. 192–218
13 Lafontaine, Oskar: www.faz.net/themenarchiv/2.1198/linke-freiheit-durch-sozialismus-1463999.html
14 Marx, Karl: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London, MEW 16., S. 11 Auf der Konferenz nimmt Georg Fülberth an der Podiumsdiskussion zum Thema »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« teil. -
· Vorberichte
Debatte. Alternative der Solidarität
Die von Rosa Luxemburg mit Bezug auf Friedrich Engels getroffene Aussage »Sozialismus oder Barbarei« erfolgte zwar in Zusammenhang mit den Schrecken des Ersten Weltkrieges1, hat aber nach wie vor aktuellen Bezug.
Nicht nur, daß auch heute noch Kriege imperialistischen Charakters geführt werden, im Zuge der kapitalistischen Entwicklung sind auch immer wieder soziale Errungenschaften, zivile und demokratische Rechte bedroht. »Sozialismus oder Barbarei« kann aber auch als ein Synonym für den grundlegenden Widerspruch kapitalistischer Entwicklung verstanden werden. Auf der einen Seite entwickelt die kapitalistische Produktionsweise die Produktivkräfte in bisher nie gekannter Weise, auf der anderen Seite werden Produktionsverhältnisse geschaffen, die der allgemeinen Nutzung der entwickelten Produktivkräfte im Wege stehen und ihre Entwicklung selbst behindern, ja sie sogar zerstörerisch werden lassen.
Während die Entwicklung der Wirtschaft, der Technik, des Wissens überhaupt oder allgemeiner: die Beherrschung der Natur ein enorm hohes Maß erreicht hat und die Produktivität so vorangetrieben wurde, daß ein immer geringeres Quantum an Arbeit zur Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse notwendig ist, ist ein großer Teil der Menschheit unterversorgt, dem Hunger ausgeliefert, sind die sozialen Probleme nicht gelöst, herrschen an vielen Orten der Welt Krieg und Elend. Zugleich werden aber auch die Produktions- und damit Existenzgrundlagen selbst unterminiert. Verwiesen sei auf die vielen und gravierenden Schäden der Umwelt, auf die drohende Klimakatastrophe, die Bedrohung durch die Atomtechnologie und durch eine Energiepolitik, die wesentlich auf fossilen Brennstoffen beruht. Die soziale Polarisierung nimmt gerade auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern zu. Die Schere bei den Einkommen geht auseinander, die Verteilung der Vermögen wird immer ungerechter. Wir sind weit entfernt von einer gleichmäßigen, stabilen oder gar krisenfreien wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Gerade die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat eindrucksvoll die grundsätzliche Krisenanfälligkeit kapitalistischer Entwicklung unter Beweis gestellt. Ihre Folgen sind keineswegs überwunden, sondern manifestieren sich in der »Euro-Krise«, wobei es sich letztlich nicht um eine Euro- oder gar Schuldenkrise, sondern um Krise kapitalistischer Entwicklung handelt.
Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß der Kapitalismus auch zivilisatorische Tendenzen aufweist und damit – wenn auch in widersprüchlicher Form – zur Entwicklung der Zivilgesellschaft beiträgt. Es ist ja nicht zuletzt das Verdienst gerade der politischen Kräfte und Bewegungen, die Kritik am Kapitalismus üben und für sozialistische Alternativen eintreten, ihm Reformen abgetrotzt und so auch zu seinem Überleben beigetragen zu haben. Auch in der jüngsten Krise war eine gewisse Lernfähigkeit festzustellen, indem diese mit keynesianisch inspirierten wirtschaftspolitischen Konzepten, d.h. mit öffentlichen Konjunkturprogrammen, bekämpft wurde – also mit einer Politik, die überhaupt nicht ins vorherrschende neoliberale Schema paßte. Die grundsätzlichen Widersprüche, die letztlich aus der Ausrichtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an der Verwertung des Kapitals resultieren, sind damit jedoch nicht aufgehoben. Insbesondere bleiben die strukturelle Überakkumulation und die dafür charakteristische Dominanz des Finanzkapitals bestehen – und damit die hohe Krisenanfälligkeit. Sozialistische Perspektive Die Frage, inwieweit die dem Kapitalismus innewohnenden zivilisatorischen Tendenzen tragen und befördert werden können, konkretisiert sich aktuell in der Frage nach dem Green New Deal. Gemeint ist damit ein umfangreiches Programm der ökologischen Erneuerung im Rahmen bestehender Produktionsverhältnisse. In der ökologischen Erneuerung werden neue Wachstumspotentiale gesehen, die die kapitalistische wirtschaftliche Entwicklung zumindest mit ökologischen Anforderungen in Einklang bringen und zugleich eine neue Wirtschaftsdynamik entfalten sollen. So sehr mit der ökologischen Erneuerung gerade auch wirtschaftliche Entwicklungspotentiale verbunden sind, so werden aber dabei der widersprüchliche Charakter der kapitalistischen Entwicklung und die Schranken einer profitorientierten Wirtschaft verkannt. Eine entscheidende Frage stellt dabei die Eigentumsfrage dar, die eben im Rahmen der Konzeption des Green New Deal – zumindest wie er von den Grünen vertreten wird – nicht gestellt wird. Solange die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals dominieren, werden weder die sozialen Fragen gelöst noch die ökologischen Erfordernisse erfüllt werden.
Zwar spricht auch Die Linke von der Notwendigkeit der ökologischen Erneuerung, doch ist dies erstens aufs engste mit der sozialen Frage verbunden und zweitens in einen antikapitalistischen Zusammenhang eingeordnet. Diese Orientierung findet sich auch in dem in Erfurt verabschiedeten Grundsatzprogramm. Zwar stellt das Programm von Erfurt durchaus in vielen Bereichen einen Kompromiß dar und ist sicherlich auch nicht frei von Widersprüchen, doch weist es eine nicht nur kapitalismuskritische, sondern im Kern eine antikapitalistische, eine sozialistische Stoßrichtung auf. Erklärtes Ziel ist der Aufbau einer »Gesellschaft des demokratischen Sozialismus (…), in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird. Wir kämpfen für einen Richtungswechsel der Politik, der den Weg zu einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft öffnet, die den Kapitalismus überwindet.«2 Ausdrücklich wird Bezug genommen auf das Kommunistische Manifest und der darin enthaltenen Zielsetzung einer die Klassen und Klassengegensätze überwindenden Gesellschaft. Und es wird kein Zweifel daran gelassen, daß Deutschland eine Klassengesellschaft mit dem dafür charakteristischen antagonistischen Klassengegensatz von Lohnarbeit und Kapital ist. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern ist es daher notwendig, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu überwinden. »Eine entscheidende Frage gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage (…) Die Linke kämpft für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse.«3 Konkret geht es darum, »strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft (…) in demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen (zu) überführen (…) Die Daseinsvorsorge, die gesellschaftliche Infrastruktur, die Finanzinstitutionen und die Energiewirtschaft gehören in öffentliche Hand und müssen demokratisch kontrolliert werden.«4 Einen besonderen Stellenwert nimmt das Belegschaftseigentum ein – nicht nur, um den Einfluß des Kapitals auf die Unternehmenspolitik zu brechen, sondern auch, um eine breite Beteiligung der Beschäftigten selbst zu ermöglichen und sie am Ertrag ihrer Arbeit teilhaben zu lassen. Es geht insgesamt um eine »demokratische Wirtschaftsordnung, die die Marktsteuerung von Produktion und Verteilung der demokratischen, sozialen und ökologischen Rahmensetzung und Kontrolle unterordnet«.5
Das Programm ist weder ein traditionssozialistischer Rückfall, der die heutige Realität kapitalistischer Entwicklung ignoriert, wie einige meinen, noch Ausdruck eines sozialdemokratisch geprägten Reformismus. Es ist – wie gesagt – in vielen Bereichen ein Kompromiß unterschiedlicher politischer Auffassungen im Hinblick auf die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung und der Ansatzpunkte zu ihrer Veränderung, doch kann an der grundsätzlichen sozialistischen Perspektive kein Zweifel bestehen. Antikapitalistische Reformpolitik Die entscheidende Frage ist dabei die nach der Umsetzung, also der politischen Strategie, wie man zu der angestrebten Gesellschaft des demokratischen Sozialismus gelangen kann. Im Programm selbst ist von einem »Transformationsprozeß« die Rede. So heißt es: »Die Linke kämpft in einem großen transformatorischen Prozeß gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozeß wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.«6 Derartige Reformprojekte beziehen sich auf die Arbeits- und Lebensbedingungen mit Schwerpunkten in der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit und einer aktiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, auf die Demokratisierung der Gesellschaft, auf den sozial-ökologischen Umbau, die soziale Umgestaltung Europas sowie auf Frieden und Abrüstung.
Dabei sind diese Reformschritte von der sozialistischen Zielsetzung nicht abzukoppeln. Es handelt sich mithin um Reformpolitik in antikapitalistischer Perspektive. Dennoch stellt sich die Frage nach der Verbindung von eben diesen Reformschritten und der Zielsetzung des Aufbaus der Gesellschaft des demokratischen Sozialismus als der Alternative zur herrschenden kapitalistischen Gesellschaft. Diese Frage kann durch das Programm selbst nicht ausreichend beantwortet werden. Sie muß vielmehr im Rahmen der strategischen Festlegung linker Politik konkretisiert werden. Programmatik und Strategie sind allerdings nicht voneinander zu trennen, werden doch die strategischen Zielsetzungen durch das Programm vorgegeben. Die Kritik, wie sie beispielsweise von Andreas Wehr geäußert wird, wonach die strategische Orientierung fehle und damit sozialistische Zielsetzungen und Reformschritte unverbunden nebeneinander stünden, trifft in dieser Schärfe nicht zu. Auch kann man nicht sagen, daß das Programm »in der Analyse (…) antikapitalistisch, in der Strategie sozialreformerisch« sei.7 Denn damit wird ignoriert, daß das entscheidende Bindeglied zwischen der unbestreitbaren antikapitalistischen Stoßrichtung und der Zielsetzung des demokratischen Sozialismus auf der einen Seite und konkreter Reformpolitik auf der anderen Seite im Programm durchaus angegeben ist. Es ist die Eigentumsfrage. Die Veränderung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse ist entscheidend für die Veränderung der Gesellschaft. Dabei ist die Eigentumsfrage durchaus komplex. Im Programm selbst ist von einer Pluralität der Eigentumsformen die Rede, die auch dem Privateigentum einen Stellenwert zuweist, ihm aber seine strukturbestimmende Bedeutung nimmt. Völlig zu Recht wird die Eigentumsfrage mit der Demokratiefrage verbunden, also die Frage nach der demokratischen Beteiligung aufgeworfen – eine bislang allerdings weder gelöste noch zureichend diskutierte und entwickelte Frage.
Kein Zweifel, das Verhältnis von Reformpolitik und sozialistischer Zielsetzung ist für die Bestimmung sozialistischer Politik von wesentlicher Bedeutung. Damit wird im Grunde die alte Frage der Arbeiterbewegung nach dem Verhältnis von Reform und Revolution aufgeworfen. Dabei wird man heute jedoch kaum auf den »Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat«8 verweisen können, wie dies Rosa Luxemburg in ihrer vernichtenden Kritik an Bernstein formulierte. Allerdings war für Rosa Luxemburg klar, daß »die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat (…) einen bestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen Verhältnisse voraus (setzt)«.9 Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Reformpolitik und sozialistischem Ziel kann nicht mehr die gleiche wie zu Beginn und im Verlauf des 20. Jahrhunderts sein, sondern muß unter den heutigen Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus und ausdifferenzierter Klassenstrukturen gegeben werden. Richtig bleibt allerdings, daß das Ziel des demokratischen Sozialismus sich nicht einfach als Ergebnis von kleineren oder größeren Reformschritten ergibt. Daraus kann freilich auch nicht der Schluß gezogen werden, auf Reformschritte zu verzichten. Diese sind notwendig. So sehr Die Linke auch konkrete Reformpolitik betreiben muß, so darf sie das Ziel des Sozialismus weder aus den Augen verlieren noch es an das ferne Ende eines Transformationsprozesses stellen. Es muß vielmehr dessen integraler Bestandteil sein. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auch auf die Debatte um den Sozialismus im 21. Jahrhundert verwiesen, die insbesondere durch die jüngeren Entwicklungen und Erfahrungen in Lateinamerika befördert wurde.10 Hegemonie erringen Ein guter Anknüpfungspunkt für eine Strategie der Linken unter heutigen Bedingungen ist das Konzept der Hegemonie und des historischen Blocks, wie dies von Antonio Gramsci entwickelt wurde. Danach ist für eine Veränderung der Gesellschaft wesentlich, die intellektuell-kulturelle Hegemonie zu erlangen, also damit das gesellschaftliche Denken und Klima orientierend zu beeinflussen, und einen breiten Block sozialer Kräfte für diese Veränderung zu schaffen.11
So ist für die Strategie der Linken entscheidend, inwieweit der neoliberalen Hegemonie eine Alternative entgegengesetzt werden kann, die ihrerseits in der Lage ist, hegemoniale Kraft zu entfalten. In der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 ebenso wie in der gegenwärtigen »Euro-Krise« zeigt sich nicht nur die Brüchigkeit des neoliberalen Modells, sondern es werden auch grundsätzliche Defizite kapitalistischer Entwicklung deutlich. Bislang konnten die linken Kräfte in Europa davon nur wenig profitieren, wobei allerdings der jüngste Wahlerfolg der Izquierda Unida in Spanien oder aber auch die Umfragen in Griechenland für die Linkskräfte Anlaß zur Hoffnung geben. In Deutschland dagegen hat Die Linke an Zustimmung verloren. Dies hängt zum einen mit der schwachen Verfassung der Partei zusammen, zum anderen aber auch mit dem spezifischen Krisenverlauf in Deutschland. So hofft man aufgrund ökonomischer Stärke, wie sie sich insbesondere in den Exporterfolgen – ihrerseits erkauft durch Sozialabbau und eine miserable Lohnentwicklung – manifestiert, und durch einen auch von den Gewerkschaften mehrheitlich getragenen Anpassungskurs relativ unbeschadet durch die Krise zu kommen. Diese Hoffnung ist jedoch höchst trügerisch, wenn man die Risiken einer exportlastigen Wirtschaft und einen möglichen erneuten tiefen Einbruch der Weltwirtschaft berücksichtigt. Denn schließlich sind die Ursachen, die zur Krise geführt haben – die Umverteilung von unten nach oben, die deregulierten Finanzmärkte und die Handelsungleichgewichte in Europa – keineswegs beseitigt. Im Gegenteil. Durch die ökonomisch kontraproduktive und sozial verheerende Sparpolitik werden die Probleme verschärft. Bei aller Verunsicherung, die breite Bevölkerungsschichten erfaßt hat, klammert sich doch eine Mehrheit an diese Hoffnung, oder befürwortet einen nationalistisch geprägten Kurs – mit der Gefahr, daß die politische Entwicklung stark nach rechts kippt. »Profiteure zur Kasse!« In dieser Situation ist Die Linke gefordert, eine politische Alternative der Solidarität aufzuzeigen. Deshalb hat der Parteivorstand beschlossen, die Euro-Krise zu einem Aktionsschwerpunkt zu machen, um die inhaltlich bereits seit geraumer Zeit entwickelte Alternativposition der Linken politisch wirksam zu machen. Im Zentrum stehen dabei die Eindämmung der Finanzspekulation, die Entkoppelung der Staatsfinanzen durch die Errichtung einer öffentlichen europäischen Bank und eine öffentlich-rechtliche Reorganisation des Bankwesens mit demokratischer Kontrolle ebenso wie sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Sicherung der Masseneinkommen und einer gesellschaftlich sinnvollen ökonomischen Entwicklung. Um das Thema politikfähig zu machen, gilt es, an die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen anzuknüpfen. Dabei ist der Bezug zur Verteilungsfrage und zur sozialen Gerechtigkeit entscheidend, womit diese Kampagne zugleich mit den Kernforderungen der Linken verbunden werden kann. Das Motto der Kampagne »Profiteure zur Kasse!« zielt auf diesen Zusammenhang. In diesem Prozeß geht es vor allem auch darum, eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas zu bewirken. Wenn die Kritik an der gegenwärtigen Finanzmarkt- und Bankenpolitik die Financial Times Deutschland und das Feuilleton der FAZ erreicht hat, dann zeigt dies die Brüchigkeit der neoliberalen Hegemonie und bietet Chancen für eine Veränderung des intellektuell-kulturellen Umfeldes.
Indem Die Linke die in der Krise zutage tretenden Widersprüche kapitalistischer Entwicklung aufgreift, kann sie sich als eine politische Kraft erweisen, die in der Lage ist, die verbreitete Unsicherheit ebenso wie die Kritik und die Proteste in eine politische Alternative zu transformieren.
Gerade was die notwendige Veränderung des Finanzmarkts und des Bankensektors angeht, gibt es einen inneren Zusammenhang von unmittelbarer Reformpolitik und systemüberwindender Perspektive. Denn es wäre eine Illusion zu glauben, man könne mit einzelnen kleinen Reformschritten den Finanzsektor wieder in Ordnung bringen oder gar die Dominanz des Finanzmarktes mit all seinen negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft brechen. Die ohne Zweifel notwendige Regulierung des Finanzmarktes – inzwischen ein breiter gesellschaftlicher Konsens, ohne daß dem aber die herrschende Politik bisher auch wirklich Rechnung getragen hätte – reicht nicht aus, sondern sie muß mit einer grundlegenden Reorganisation des Bankensektors verbunden werden, wie er auch im Programm der Linken vorgezeichnet ist, nämlich eine Bankenorganisation mit Sparkassen, Genossenschaftsbanken und verstaatlichten und demokratisch kontrollierten Großbanken. Hier zeigt sich, wie die Veränderung der Eigentumsverhältnisse nicht nur Postulat ist, sondern politische Wirkung entfalten kann. Es geht um die Demokratie Die Art und Weise, wie die herrschende Politik mit der Euro-Krise umgeht, ist aber nicht nur sozial und ökonomisch katastrophal, sondern stellt auch eine erhebliche Gefahr für die demokratische Entwicklung dar. Es ist daher Aufgabe der Linken, die Demokratiefrage in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen, und dafür einzutreten, daß die Grundlagen für eine wirkliche Sicherung und Entwicklung der Demokratie gelegt werden. Dies wird nur dann der Fall sein, wenn die Demokratie nicht auf den politischen Raum beschränkt bleibt, sondern auch die Wirtschaft umfaßt. Von daher ist das Konzept der Wirtschaftsdemokratie hochaktuell.12 Es ist zudem geeignet, konkrete Forderungen mit weitergehender Perspektive zu verbinden. Wirtschaftsdemokratie mußte zwar oft als ein Konzept des dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus herhalten und wird als Reformprojekt auch von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften beansprucht, ohne daß es aber zumindest von der Sozialdemokratie wirklich ernst genommen würde. Auch in den Gewerkschaften ist die Haltung widersprüchlich. Für Die Linke dagegen ist Wirtschaftsdemokratie ein wesentliches Element im Zusammenhang mit dem Aufbau der Gesellschaft des demokratischen Sozialismus. Schon in den Ursprüngen, nämlich in der Konzeption von Fritz Naphtali u.a. Ende der 1920er Jahre war Wirtschaftsdemokratie auf eine politische Steuerung der Wirtschaft und damit auf eine Ausrichtung der ökonomischen Entwicklung an gesellschaftlichen Zielsetzungen orientiert. Gleichzeitig setzt es sehr konkret auf der betrieblichen Ebene an. Damit kann auch ein dialektischer Prozeß von konkreter Reformpolitik und systemüberwindender Perspektive entstehen. Zwar ist die Mitbestimmung ein Anknüpfungspunkt, doch geht Wirtschaftsdemokratie deutlich darüber hinaus, indem die Belegschaften am Kapital beteiligt werden und damit direkt auf die Unternehmenspolitik Einfluß erhalten sollen. Belegschaftseigentum im Rahmen der Wirtschaftsdemokratie bedeutet die Wiederaneignung der Resultate der Arbeit durch diejenigen, die arbeiten. Zugleich weist das Konzept der Wirtschaftsdemokratie über die betriebliche Perspektive hinaus. Zu ihr gehören volkswirtschaftliche Rahmenplanung ebenso wie regionale und sektorale Strukturpolitik. Nur durch Einbettung in ein gesamtwirtschaftliches, gesellschaftlich ausgerichtetes Konzept kann der Druck der kapitalistischen Konkurrenz, der eben auch auf Belegschaftsbetrieben lastet, aufgehoben werden. Zentral ist die demokratische Mitwirkung – und zwar auf allen Ebenen. Es gilt daher die Diskussion um die Wirtschafts- und Sozialräte wiederzubeleben und sie weiterzuentwickeln.
Entscheidend für die politische Umsetzung der politischen Vorstellungen der Linken ist allerdings auch, daß Die Linke wieder mehr Bewegung wird. Die Stärke der Linken ist von der Existenz und dem Ausmaß sozialer Bewegungen abhängig, zu deren Entwicklung sie aber auch selbst beitragen muß.
Anmerkungen
1 siehe Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre), in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin/DDR 1974, S. 62 f.
2 Programm der Partei Die Linke, S. 5 (die Seitenzahlen beziehen sich auf die PDF-Datei des Programms)
3 ebenda, S. 28
4 ebenda, S. 30
5 ebenda, S. 6
6 ebenda, S. 28
7 junge Welt vom 11. November 2011
8 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, Berlin/DDR 1974, S. 400
9 ebenda, S. 434
10 In diesem Zusammenhang sei auf die Beiträge im folgenden Band verwiesen: Internationale Forschungsgemeinschaft für Politische Ökonomie, EU am Ende? Unsere Zukunft jenseits von Kapitalismus und Kommandowirtschaft, Berlin 2011
11 Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Leo Mayer in der jungen Welt vom 14. November 2011
12 vgl. zur aktuellen Diskussion: H. Meine/M. Schumann/H.-J. Urban (Hrsg.), Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen, Hamburg 2011
Heinz Bierbaum ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke, Mitglied des saarländischen Landtags und Professor für Betriebswirtschaft. Auf der Konferenz nimmt er an der Podiumsdiskussion zum Thema »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« teil. -
· Vorberichte
Veränderung erzwingen
Es sei die »große Lüge« der Medien, schrieb der Dichter Peter Hacks einmal, die Welt als unveränderbar darzustellen. Resignation, Anpassung und Gleichgültigkeit gegen Krieg und Ausbeutung zu verbreiten, ist in imperialistischen Ländern oberste Pflicht für Politiker und Ideologen. Ihr Geschäft läuft aber gegenwärtig nicht besonders gut. Die Wirtschaftskrise hat Nordamerika und Westeuropa fest im Griff und selbst in EU- und NATO-Ländern rumort es angesichts der Diktate, mit denen Kürzungen und Umverteilung von unten nach oben verordnet werden. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy bemerkte vor kurzem: »Die westliche Welt wird sich doch erst verändern, wenn diejenigen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, diese Veränderung erzwingen.«
Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2012 wird nicht nur über unterschiedliche Erfahrungen zu sprechen sein, sondern auch über die Auseinandersetzung zwischen denen, die aus der Krise des Kapitalismus nur die Schlußfolgerung ziehen »Weiter so!«, weil sie vom Elend anderer profitieren, und jenen, die längst praktisch an der Veränderung der Welt arbeiten, weil sie es braucht. Der Jurastudent Sami Ben Ghazi, Mitglied der Direktion der Union der Kommunistischen Jugend Tunesiens, berichtet über den Aufbruch im »arabischen Frühling« und die Lage in seinem Land ein Jahr danach. »Die Jugendbewegungen wollen einen säkularen demokratischen Staat. Ihnen geht es um die Freiheit der Religion, der Meinung, der Presse; um eine mit freien Wahlen, ohne Betrügereien ins Amt gehobene soziale Regierung«, sagte er im junge Welt-Interview am 2. November. Sie würden genau beobachten, was die islamische Ennahda-Partei in die neue Verfassung schreibe. »Denn die Revolutionäre des 14. Januar, die den Diktator Ben Ali aus dem Land gejagt haben, haben weder ›Allahu Akbar – Gott ist groß‹ gerufen, noch die Scharia, das islamische Recht, gefordert.«
www.rosa-luxemburg-konferenz.de