junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
01.12.2023 19:30 Uhr

Paranoide Weltsichten

Wer steckt dahinter? Verschwörungserzählungen, die sozialen Medien und der Krieg
Von Ignacio Ramonet
Irgendeiner ist immer schuld. Eine Zeitlang war es Mode, die Unbilden dieser Welt den Freimaurern in die Schuhe zu schieben (Werbeplakat von 1896)

Auf der kommenden XXIX. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der Tageszeitung junge Welt am 13. Januar im Berliner Tempodrom wird der spanische Journalist und Medienwissenschaftler Ignacio Ramonet zum Thema »Niedergang der Vernunft, Irrationalismus und Faschisierung: Rechte Machtergreifungsstrategien« sprechen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle in deutscher Übersetzung ein Kapitel aus seinem aktuellen Buch »La era des conspiracionismo«. (jW)

In einer Welt voller Ungewissheit, wie sie heute die weiße amerikanische Mittelschicht umgibt, ist es nicht ungewöhnlich, dass »Verschwörungstheorien« ins Kraut schießen. Man könnte ein Komplott oder eine Verschwörung als ein geheimes Projekt definieren, das von mehreren Personen ausgearbeitet wird, die sich heimlich treffen und organisieren, um gemeinsam gegen eine Persönlichkeit oder eine Institution vorzugehen. Man bedenke etwa, dass »konspirieren« etymologisch gesehen »gemeinsam atmen« bedeutet.

Die Geschichte und die Historiker bezeugen die reale Existenz von Hunderten echter Komplotte. Es hat sie immer gegeben. Von der berühmten Catilinarischen Verschwörung, die Cicero 63 v. u. Z. anprangerte, über die Ermordung von Julius Cäsar 44 v. u. Z. bis hin zum Watergate-Skandal 1972, der Iran-Contra-Affäre 1986 oder dem medienpolitischen Komplott in Venezuela zum Sturz des Präsidenten Hugo Chávez am 11. April 2002.

Ein weiteres Beispiel für eine echte Verschwörung ist der finstere »Plan Condor« in Lateinamerika, der 1976 von der CIA und den Geheimdiensten der Militärdiktaturen Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Perus, Paraguays und Uruguays koordiniert wurde. Oder, in jüngerer Zeit, die von dem Whistleblower Edward Snowden aufgedeckte riesige Spionageverschwörung der US-Regierung durch ihr geheimes PRISM-Programm, das von der NSA zur Überwachung aller Bürger entwickelt wurde.

Verborgene Mächte

Es besteht kein Zweifel, dass es Verschwörungen gibt. Aber »Verschwörungstheorien« sind etwas anderes. Deren Anhänger vertreten eine paranoide Weltsicht, die in den Mittelpunkt der geschichtlichen Entwicklung Erzählungen stellt, die einer mehr oder weniger wahnhaften Vorstellung entspringen und deren Realität in keiner Weise bewiesen ist. Sie versuchen, jedes historische Phänomen mit großen sozialen Auswirkungen (Krise, Attentat, Staatsstreich, Krieg, Armut, Seuche, Pandemie, Arbeitslosigkeit, Katastrophe usw.) mit Hilfe eines intellektuellen Konstrukts zu erklären, das alle möglichen Verdachtsfragen beantwortet. Sie sind der Ansicht, dass jede Katastrophe oder jedes traumatische soziale Ereignis die Folge einer »Verschwörung« höherer und geheimer Mächte sei. Das ist eine sehr alte Sichtweise; schon das Wort »Desaster«, das böser Stern bedeutet, entstammt dem tiefen Glauben, dass unser Schicksal von den Sternen bestimmt wird …

Eines der bekanntesten hysterischen Beispiele für eine Verschwörung ist die »Hexenjagd« und der Vorwurf des »Hexereiverbrechens«. Der Historiker Pau Castell von der Universität Barcelona hat dazu erklärt: »Das Verbrechen der Hexerei taucht am Ende des Mittelalters, um 1424 auf und es beruht von Anfang an allein auf der Vorstellung, dass es Männer und Frauen gibt, die einer ketzerischen und dämonischen Sekte angehören, die sich nachts verwandeln, ihrem Glauben abschwören und mit bösen Mitteln Krankheit und Tod verursachen. Diese Vorstellung wird zuerst von Vertretern der intellektuellen Elite, der Theologen und Juristen geäußert, aber es ist ein Glaube, der sich schließlich in der Bevölkerung ausbreitet, die sich von den Folgen böser Zaubersprüche betroffen sieht. Sie fürchten, dass es Menschen gibt, die unter ihnen leben und die sich an diesem Kult beteiligen und den Tod ihrer Kinder und ihres Viehs verursachen.«¹

Verschwörungstheorien befriedigen die Bedürfnisse eines breiten Spektrums politischer und sozialer Akteure. Der »Verschwörungstheoretiker« identifiziert bestimmte Gruppen (Eliten, Reiche, Kapitalisten, Geschäftsleute, Ausländer, ethnische Minderheiten, Kommunisten, Anarchisten, Juden, Dschihadisten, Roma, Hexen, Albinos, Opus Dei, die CIA, den Imperialismus, die Freimaurer, die Jesuiten, die multinationalen Konzerne usw.) und macht sie für alle politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder gesundheitlichen Katastrophen verantwortlich, die eine Gesellschaft heimsuchen. Verschwörungstheoretiker weigern sich, die Rolle des Zufalls oder der individuellen Initiative bei wichtigen Ereignissen zu akzeptieren. Sie glauben nicht, dass Dinge geschehen können, ohne dass jemand sie ausdrücklich beabsichtigt. Der Verschwörungstheoretiker geht davon aus, dass alles besser wird, sobald das Volk die verborgenen Kräfte aus ihren Machtpositionen entfernen kann.

Manchmal kann die Aufdeckung eines (nicht vorhandenen) Komplotts durch Panik oder einen Präventivschlag ein echtes Massaker auslösen. In Ruanda prangerte im April 1994 nach einem Anschlag, bei dem das Präsidentenflugzeug zerstört und der Hutu-Führer Juvénal Habyarimana getötet wurde, der Radiosender Libre des Mille Collines in Kigali unermüdlich die Existenz eines angeblichen Komplotts an, das von der Tutsi-Minderheit zur Vernichtung der Hutus vorbereitet worden sei. Das war falsch. Aber es war der Auslöser dafür, dass Zehntausende von Hutus mit Macheten bewaffnet auf die Straße gingen und Tutsi massakrierten. Ein wahrer Völkermord, der zur Ausrottung von etwa 800.000 Menschen führte.

»Alles Lüge«

Die US-amerikanische Seismologin Lucy Jones erklärt: »Bei Verschwörungstheorien geht es nicht nur darum, an etwas zu glauben, das nicht wahr ist, sondern auch darum, dass eine Gruppe von bösen Menschen für eine Katastrophe verantwortlich ist. Diese Theorien sind nach einer Tragödie viel häufiger anzutreffen. Auf eine seltsame Art und Weise fühlt man sich durch diese Theorien sicherer, weil man glaubt, besondere Informationen zu haben, über die andere Menschen nicht verfügen. Es ist wie bei Horrorfilmen: Wir denken gerne über gefährliche Dinge nach, wenn wir in Sicherheit sind.«² In schweren Krisensituationen, wie sie die weiße amerikanische Mittelschicht heute erlebt, wo eine klare, rationale Erklärung für das, was den Menschen widerfährt, nicht offensichtlich ist, bieten Verschwörungstheorien Antworten. Sie geben ein Gefühl der Kontrolle. Sie erzeugen eine Art psychologisches Gegengewicht zum Schwindel des Unverständnisses, indem sie eine kongruente Erzählung vorschlagen, um einer Welt, die plötzlich ohne Logik zu sein scheint, einen Sinn zu geben.

Mark Lorch, Professor für Public Engagement and Sc ience Communication an der Universität Hull (UK), schreibt: »Einer der Gründe, warum Verschwörungstheorien regelmäßig auftauchen, ist unser Wunsch, der Welt eine Struktur zu geben, und unsere unglaubliche Bereitschaft, Muster, Normen und Modelle zu erkennen.«³ Der Glaube, dass wir privilegierten Zugang zu »verbotenen Informationen« haben, gibt uns das Gefühl, dass wir inmitten eines Universums, das um uns herum zusammenbricht, die Oberhand haben, dass wir die Nase vorn behalten können.

Andererseits ist es in Zeiten wie diesen, in denen offizielle Informationsquellen an Glaubwürdigkeit verloren haben und einem »Meme« das gleiche Vertrauen entgegengebracht wird wie einer Nachrichtensendung im Fernsehen oder einer Nachrichtenagentur, nicht abwegig, dass Verschwörungstheorien ein größeres Publikum finden. Die Technologie hilft dabei. Denn viele Menschen nutzen die Anonymität, die das Internet bietet, um – geschützt durch die Sicherheit eines Pseudonyms – alternative, aggressive, respektlose oder extremistische Positionen zu vertreten. Der Verschwörungstheoretiker in seiner stets paranoiden Mentalität neigt dazu, die Geschichte durch das Prisma des Misstrauens und der Denunziation zu sehen.

Der österreichische Philosoph Karl Popper, der wahrscheinlich als erster den Begriff »Verschwörungstheorie« verwendet hat, vertritt die Auffassung, dass diese Ansicht, wonach alles, was in der Gesellschaft geschieht, das Ergebnis direkter Pläne bestimmter Individuen oder Gruppen ist, ein Ausdruck des zeitgenössischen Obskurantismus sei, der aus der Säkularisierung des alten religiösen Aberglaubens hervorgegangen ist: »Die Verschwörungstheorie in unseren Gesellschaften«, schreibt Popper, »ist älter als die meisten Formen des Theismus und ähnelt Homers Theorie der Gesellschaft. Für Homer war die Macht der Götter so groß, dass alles, was in der Ebene vor Troja geschah, nur ein Spiegelbild der verschiedenen Verschwörungen im Olymp war. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist einfach eine Variante dieses Theismus: ein Glaube an Götter, deren Launen und Wünsche alles beherrschen. Die Verschwörungstheorie beruht auf der Tatsache, dass man sich von Gott lossagt und sofort fragt: ›Wer ist an seiner Stelle?‹ An seine Stelle sind verschiedene Männer, Machtgruppen und ›finstere‹ Lobbys getreten, die für die Weltwirtschaftskrise und alle Übel, unter denen wir leiden, verantwortlich gemacht werden.«⁴

Solche »Verschwörungen« lassen sich mehr oder weniger immer in folgender Struktur zusammenfassen: Eine kleine Gruppe sehr einflussreicher Personen kontrolliert – im geheimen – die Fäden der politischen Macht, der Wirtschaft, des Bankwesens, der Medien, der Massenkultur und der akademischen Einrichtungen gegen die Interessen der einfachen Menschen. Jede Verschwörungstheorie basiert auf der Überzeugung, dass »mächtige und bösartige Kräfte« im geheimen die Fäden ziehen, um bestimmte Ereignisse, Menschen oder Situationen zu manipulieren.

Der von Geheimgesellschaften faszinierte französische Schriftsteller Honoré de Balzac stellte bereits 1837 fest: »Es gibt zwei Geschichten: die offizielle, gelogene Geschichte, die in den Schulen gelehrt wird. Und die geheime Geschichte, die die wahren Ursachen der Ereignisse enthüllt, die eine verborgene, zum Schweigen gebrachte Geschichte ist«.⁵ Seit fast zwei Jahrhunderten stützen sich die Verschwörungstheoretiker genau auf diese Überzeugung, dass die »vorherrschende Geschichte«, die »offizielle Geschichte«, in Wirklichkeit eine große Lüge sei, die die Massenmedien nur deshalb verbreiten, um die wahre »geheime Geschichte« zu verbergen und die Privilegien einer mächtigen Elite zu bewahren.

Verschwörungstheorien hat es schon immer gegeben. Einige Experten weisen zum Beispiel darauf hin, dass 1963 80 Prozent der US-Amerikaner an eine Verschwörung im Zusammenhang mit der Ermordung von Präsident John F. Kennedy glaubten.⁶ Neu ist, dass sich die Verschwörungserzählungen heute in einer Zeit verbreiten, in der die Bürger ständig mit sozialen Netzwerken verbunden sind und ständigen digitalen Zugang zu Informationen haben. Eine Ära, in der die Massenmedien (Fernsehen, Printmedien, Nachrichtenagenturen und ­Radio) nicht mehr das Monopol auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung haben.

Das Internet und die sozialen Netzwerke bieten heute Millionen von alternativen Erzählungen, die mit denen der traditionellen Medien konkurrieren. Menschen, die sich nicht getraut haben, etwas zu äußern, weil es illegal, unmoralisch, verpönt oder politisch unkorrekt war, stellen nun fest, dass »viele Menschen so denken wie ich«. Und sie werden immer ungehemmter. Auf diese Weise begünstigt Social Media die Bildung von Gemeinschaften mit hasserfülltem, rassistischem, sexistischem, chauvinistischem, rassistischem und antisemitischem Gedankengut, auch weil es immer weniger feste Bezugspunkte für Informationen gibt. Denn der Journalismus ist in den vergangenen dreißig Jahren durch den Missbrauch von Informationen, durch Manipulation, Verschweigen und Lügen entscheidend in seiner Glaubwürdigkeit geschwächt worden und weitgehend zusammengebrochen.

Kognitive Kriegführung

Das Verhalten der Mainstreammedien in bezug auf den jüngsten Krieg in der Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, hat bestätigt, dass man ihnen nicht trauen kann. Wenn ein bewaffneter Konflikt beginnt, setzt bekanntlich eine Medienerzählung voller Fehlinformationen ein, deren Hauptziel es ist, Seelen zu verführen und Gefühle einzufangen, um Herzen zu gewinnen und Köpfe zu fesseln.

Es geht nicht darum, zu informieren. Es geht nicht darum, objektiv zu sein. Es geht nicht einmal darum, neutral zu sein. Jede Seite versucht, mit Propaganda und allen möglichen erzählerischen Tricks ihre eigene Darstellung der Ereignisse durchzusetzen, während sie gleichzeitig bemüht ist, die Version des Gegners zu diskreditieren. Die Lügen, die beide Seiten über den Ukraine-Konflikt verbreiteten, unterschieden sich im Grunde nicht von denen, die wir aus anderen Kriegen kennen.

Die Umwandlung von Informationen in Propaganda ist ein bekanntes Phänomen, das für die Konflikte und Kriege der vergangenen fünfzig Jahre vielfach untersucht worden ist. Vielleicht war bereits in den 1960er und 1970er Jahren mit dem Vietnamkrieg der Höhepunkt der Raffinesse bei audiovisuellen Lügen und Medienmanipulationen erreicht. Mit dem Krieg in der Ukraine wurden die Massenmedien, insbesondere die großen Fernsehsender erneut als Kombattanten eingesetzt – oder sie setzten sich selbst ein. Hinzuzufügen ist, dass die strategischen Labors der Großmächte im Rahmen der Überlegungen zu den neuen »hybriden Kriegen« auch versuchen, unsere Köpfe militärisch zu erobern. In einer von der NATO finanzierten Studie des französischen Konteradmirals François du Cluzel aus dem Jahr 2020 über eine neue Form der »wissensbasierten Kriegführung« mit dem Titel »Cognitive Warfare« heißt es: »Während Aktionen in den fünf militärischen Bereichen (Land, See, Luft, Weltraum und Cyber) durchgeführt werden, um auf den Menschen einzuwirken, zielt die ›kognitive Kriegführung‹ darauf ab, jeden Menschen als Waffe einzusetzen.«⁷ Der Mensch ist nun der umkämpfte Bereich. Ziel ist es, das Individuum zu hacken, indem die Schwachstellen des menschlichen Gehirns ausgenutzt werden, wobei die ausgefeiltesten Mittel des Social Engineering in einer Mischung aus psychologischer Kriegführung und Informationskrieg zum Einsatz kommen.

»Kognitive Kriegführung ist nicht nur ein Angriff auf das, was wir denken«, sagt François du Cluzel, »sondern auch ein Angriff auf die Art und Weise, wie wir denken, wie wir Informationen verarbeiten und wie wir sie in Wissen umsetzen.« Mit anderen Worten: Kognitive Kriegführung bedeutet die Militarisierung der Gehirnwissenschaften. Denn es ist ein Angriff auf unseren individuellen Prozessor, unsere Intelligenz, mit dem Ziel, in den Verstand des Gegners einzudringen und ihn uns gefügig zu machen. »Das Gehirn«, so betont der Bericht, »wird das Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts.«

Während des Konflikts in der Ukraine kämpfen die Mainstreammedien in den Vereinigten Staaten und in der EU im wesentlichen für das, was man als die westliche Position bezeichnen könnte. Innerhalb dieser propagandistischen Normalität konnten wir jedoch ein neues Phänomen beobachten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kriegsberichterstattung traten an der vordersten Front, der Medienfront, die sozialen Netzwerke auf den Plan. Bis dahin hatten sie in Kriegszeiten nicht diese Bedeutung gehabt.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, oder sagen wir: seit dem Koreakrieg in den frühen 1950er Jahren, hat die Welt keinen militärischen Konflikt dieses Ausmaßes mehr erlebt wie den in der ­Ukraine. Dabei wurden die Bürger nicht nur mit der üblichen kollektiven und permanenten Kriegshysterie der traditionellen Mainstreammedien konfrontiert, mit ihrem einheitlichen Diskurs, sondern zum ersten Mal kam all diese Propaganda auch direkt auf ihre Handys und ihre Tablets. Es waren nicht mehr nur Journalisten, sondern auch Freunde und Verwandte, die durch ihre Nachrichten in den Netzwerken dazu beitrugen, die unaufhörliche Erzählung eines einzigen Diskurses zu verstärken. Mit dem Krieg in der Ukraine entstand eine neue emotionale Dimension, eine neue Front des kommunikativen und symbolischen Kampfes, die es bei den Kriegen davor nicht gegeben hatte.

Aber in einer militärischen Konfrontation von der Dimension des Krieges in der Ukraine haben die sozialen Medien bisher keine führende Rolle gespielt. Das geschah nunmehr zum ersten Mal in der Geschichte der Information. Ebenfalls neu war, dass sich Google entschloss, »russische gegnerische« Medien wie RT (Russia Today) und Sputnik von der Plattform zu entfernen, während Facebook und Instagram erklärten, sie würden »Hassbotschaften« gegen Russen tolerieren,⁸ und Twitter beschloss, vor mit russischen Medien verbundenen Nachrichten zu »warnen« und deren Verbreitung einzuschränken. Das hat es noch nie gegeben, und es verdeutlicht die Scheinheiligkeit der sogenannten Meinungsfreiheit oder Netzneutralität.

All dies bestätigte, dass der Konflikt in der ­Ukraine zwar ein lokaler Krieg in dem Sinne ist, dass der Kriegsschauplatz tatsächlich in einem bestimmten geographischen Gebiet liegt, dass er aber auch ein globaler Krieg, ja ein Weltkrieg ist, insbesondere im Hinblick auf seine digitalen, kommunikativen und medialen Folgen. An diesen Fronten hat Washington, wie in der Ära des McCarthyismus und der »Hexenjagd«, die neuen Akteure der internationalen Geopolitik, d. h. die Megakonzerne des digitalen Universums, die Big Five (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft), ins Spiel gebracht. Diese Hyperkonzerne, deren Börsenwerte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) vieler Staaten der Welt übersteigen, zogen sich aus Russland zurück und traten freiwillig in den Krieg gegen Moskau ein.

Bis zum Beginn des Ukraine-Krieges waren wir mit der parteiischen und kämpferischen Haltung der Mainstreammedien vertraut, die sich im Kriegsfall auf die Seite einer der kriegführenden Parteien schlugen und jegliches kritische Denken aufgaben, um einseitig die Argumente nur einer der gegnerischen Mächte zu verteidigen. Oder sie ignorierten einen Konflikt und brachten ihn völlig zum Schweigen (Palästina, Jemen, Donbass, Tigray). Neu ist, dass die sozialen Netzwerke nun zum ersten Mal das Gleiche getan haben, was bestätigt, dass die wirklich dominierenden Medien heute die sozialen Netzwerke sind. Sie sind es, die das herrschende Narrativ effektiv durchsetzen.

Digitale Aktivisten

Die Ursache für all das ist zweifellos die unglaubliche Fähigkeit des Menschen, sich unglaubwürdige Geschichten auszudenken, selbst wenn wir im Grunde wissen, dass sie falsch sind. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT), die in der renommierten Fachzeitschrift Science veröffentlicht wurde, bestätigt, dass Fake News in den sozialen Medien mit einer um mehr als 70 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit geteilt werden als echte Nachrichten: »Unwahrheiten verbreiten sich in allen Informationskategorien deutlich schneller, tiefer und weiter als die Wahrheit. Und die Auswirkungen sind bei gefälschten politischen Nachrichten ausgeprägter als bei gefälschten Nachrichten über Terrorismus, Naturkatastrophen, Wissenschaft, Urban Legends oder Finanzinformationen«, stellen die Autoren der Studie fest.⁹

Per definitionem sind soziale Netzwerke nicht dazu da, um zu informieren, sondern um zu erregen. Um Meinungen zu verbreiten, nicht um zu nuancieren. In den sozialen Medien kursieren viele qualitativ hochwertige Texte und Dokumente, Zeugenaussagen, Analysen, Berichte, und sie nehmen viele hervorragende Dokumentarfilme, Videos und Artikel aus der Presse und anderen Medien auf. Aber die Art und Weise, wie man Inhalte in den Netzen konsumiert (obwohl jedes Netz seine eigene Besonderheit hat), besteht nicht darin, Zeit damit zu verbringen, die Dokumente, die man erhält, in ihrer Gesamtheit zu lesen oder anzusehen. Die Nutzer suchen nicht nach Antworten, sondern nach Fragen. Sie wollen nicht lesen. Sie sind keine passiven Rezipienten wie beim Radio oder Fernsehen. Die Netze sind vor allem zum Handeln da. Der Bürger, der die sozialen Medien nutzt, will »sharen« oder sich durch »liken« anschließen. Das Netz funktioniert in Wirklichkeit wie eine digitale Kette. Jeder Nutzer ist ein Link, mit der Verpflichtung, sich zu äußern, seine Meinung zu sagen, sich zu verbinden, zu kommentieren, weiterzuleiten, zu senden, weiterzugeben.

Was in bestimmten Netzwerken (Facebook, Twitter, Instagram, Tik Tok) am meisten zirkuliert und den größten Einfluss hat, sind Memes, d. h. eine Art Tröpfchen, Haikus, sehr reduzierte, sehr synthetische, sehr karikaturhafte Zusammenfassungen eines Themas. Das ist es, was am meisten geteilt wird. Memes funktionieren so, als ob in einer Zeitung die Informationen auf die Überschriften der Artikel reduziert würden und man sie nicht mehr lesen müsste. Jeder von uns kann das gleiche tun: Stellen Sie den besten Text, das vollständigste, intelligenteste und ehrlichste Video, z. B. über den Krieg in der Ukraine, in Ihr Lieblingsnetzwerk, und Sie werden sehen, dass Sie höchstens ein paar Dutzend »Likes« bekommen. Wenn Sie aber ein gutes, effektives und innovatives Meme posten, das aufgrund seiner Kreativität und Originalität Eindruck macht und gleichzeitig Lachen und Erstaunen hervorruft, wird seine Übertragungsgeschwindigkeit beeindruckend sein. Wenn wir von viraler Verbreitung sprechen, dann ist das kein Zufall.

Als beispielsweise am Sonntag, dem 27. März 2022, während der Oscar-Verleihung in Hollywood der Schauspieler Will Smith vor Millionen von Fernsehzuschauern dem Komiker Chris Rock live eine Ohrfeige verpasste, verbreitete sich das Bild dieser Szene, die sofort zu einem Meme wurde, in Windeseile um die ganze Welt, sättigte alle Netze und überdeckte für mehrere Tage praktisch alle anderen Nachrichten, darunter auch die über den Krieg in der Ukraine.

Der zwanghafte Wunsch, etwas zu teilen und zu verbreiten, sorgt dafür, dass die Netze es schaffen, ein allgemeines Gefühl, eine vorherrschende Interpretation, eine Meinung zu einem beliebigen Thema erheblich zu verbreiten. Es ist dieses Gefühl, das sich nach und nach in einem ganzen Bereich der Gesellschaft durchsetzen kann. Dies ist einer der großen Unterschiede zwischen den Netzen und den traditionellen Medien.

Die Nutzer der Netze verhalten sich wie digitale Aktivisten mit einer Mission, einer Aufgabe: Nachrichten zu veröffentlichen und zu verbreiten, die ihre Meinung und die ihrer Freunde bestätigen oder zu bestätigen scheinen. Es geht nicht darum, die Wahrheit zu verbreiten, sondern das weiterzugeben, was befreundete Menschen angeblich lesen wollen. In diesem Sinne sind Unwahrheiten neuer als die Wahrheit.

Anmerkungen

1 www.eldiario.es/catalunya/pau-castell-historiador-caza-brujas-catalunya-epicentro_1_8694574.html

2 Lucy Jones: Desastres. Cómo las grandes catastrofes moldean nuestra historia, Madrid 2021

3 saludconlupa.com/noticias/como-funciona-la-mente-de-un-negacionista-de-la-ciencia/

4 Karl Popper: En busca de una teoria racional de la tradición. In: Conjeturas y refutaciones, trad. Néstor Miguez, Barcelona 1983

5 Honoré de Balzac: Las ilusiones perdidas, trad. José Ramón Monreal, Barcelona 2006

6 Julia Carrie Wong: Claves de QAnon, El Diario, 20.8.2020

7 www.nato.int/docu/review/articles/2021/05/20/countering-cognitive-warfare-awareness-and-resilience/index.html

8 La Vanguardia, 11.3.2022

9 www.science.org/doi/10.1126/science.aap9559

Ignacio Ramonet: La era des ­conspiracionismo. Trump, el culto a la mentira y el asalto al Capitolio, Madrid 2022

Abonnieren Sie den Konferenz-Newsletter