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08.01.2024 19:30 Uhr

»Geschichte des Kapitalismus ist eine der ewigen Krisen«

Über das Dasein als Musiker in düsteren Zeiten und kleine Hoffnungsschimmer. Ein Gespräch mit Calum Baird
Interview: Norman Philippen
Calum Baird singt beim Solidaritätskonzert für den Erhalt der Zeitschrift Melodie & Rhythmus (Berlin, 22.6.2018)

Ein verspätetes Happy New Year Ihnen. Wie lief 2023 für Sie als Künstler?

Happy New Year! Als Musiker war 2023 ein ziemlicher Erfolg. Ich habe in Tobias Thieles großartigem Blue Lizard Studio in Funkenhagen vier neue Singles aufgenommen, die mir viel Lob und Anerkennung einbrachten. Erstmals wurde meine Musik bei BBC gespielt, was für einen unabhängigen Musiker eine große Sache ist. Besonders schön war, dass mein Song »Beauty in the Worst of Times« im Oktober in Tom Robinsons BBC-Sendung »Introducing Mixtape« lief. In Toms Sendung »New Year’s Day Mixtape« wurde ich von ihm als einer von nur zwei schottischen Künstlern gewählt, nach denen man 2024 Ausschau halten sollte. Vielleicht erinnern sich manche Leser übrigens daran, dass Tom Robinson und seine Band in den 1970ern auch in der DDR tourten. Außerdem spielte ich auf dem Edinburgh International Fringe Festival mit Ken Loach und Jeremy Corbyn sowie beim junge Welt-Konzert für Víctor Jara im Berliner Kino Babylon.

Wir freuen uns, dass Sie das Kulturprogramm der diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 13. Januar bereichern werden, deren Motto »Wem gehört die Welt?« lautet. Was denken Sie, wem die Welt tatsächlich gehört?

Ich freue mich, an dieser großen und wachsenden internationalen Konferenz für Politik und sozialistische Kultur beteiligt zu sein. Die Frage »Wem gehört die Welt?« ist in Zeiten des Klimawandels und des Zusammenbruchs, des erneuten Kalten Krieges und der immensen globalen Ungleichheiten sehr relevant. Es ist enorm wichtig, dass junge Welt diese Frage aufgreift und international präsentiert. Heute muss sich die westliche Gesellschaft der Tatsache stellen, dass die Geschichte des Kapitalismus eine der ewigen Krisen ist, die weit ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Und jede Krise ist destabilisierender als die vorherige.

Was diese Krisen stets kennzeichnet, sind obszöne Ausgaben für Krieg und Luxus. Wenn wir die Welt heute betrachten, kann das geleugnet werden? Wenn wir den Klimakollaps, die globalen Ungleichheiten und den neuen Kalten Krieg betrachten – dessen Fronten in Gaza und der Ukraine verlaufen und wo Milliarden von Euro, Pfund und US-Dollar fließen, um diese Konflikte anzuheizen? Während die deutsche und französische Börse Allzeithochs erreicht.

Der Kapitalismus ist allmächtig, und wir verbeugen uns vor ihm – um Marx zu paraphrasieren. Doch obwohl es ein allumfassendes System ist, ist es ein menschliches System, das wir demontieren und durch ein besseres ersetzen können. Wir als Menschen haben das schon einmal getan.

Sie erwähnten Ihren Song »Beauty in the Worst of Times«. Die Zeiten sind mies und hässlich, Schönheit wird dringend gebraucht. Wirkt sich der globale Niedergang negativ auf Ihre Kreativität als Songwriter aus, oder fühlen Sie sich eher herausgefordert?

Auch ich empfinde diese Zeiten als hässlich. Ich denke, alles fühlt sich jetzt so an, weil die materielle Basis des westlichen Imperialismus in Frage steht wie nie zuvor seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Immenses Leiden herrscht überall auf der Welt. Zu Hause beeinflussen mich der Druck steigender Lebenskosten, die von der extremen Rechten ausgehenden Gefahren und die konstante Existenzangst, so wie uns alle. Diese sozialen Konditionen beeinflussen meine Musik positiv wie negativ.

»Beauty in the Worst of Times« handelt genau davon, beim Fokussieren des Negativen, Positives zu finden. Eine Antwort auf Brecht, der fragte, ob in dunklen Zeiten gesungen werden wird. Ja, es wird Songs über die dunkle Zeit geben. Meiner thematisiert den Druck und die Traurigkeit dieser dunklen Zeiten.

Haben »ein Mann und seine Gitarre« noch eine Chance, die globalen Besitzverhältnisse herauszufordern? War das jemals so?

Das ist eine tiefgründige Frage! Kann ein Musiker Menschen durch Lieder und Ideen organisieren, die Einsichten schaffen und Veränderungen anregen – Revolutionen inspirieren? Kurz gesagt: ja!

Wenn es um Revolution, Wandel und Herausforderungen geht, dann kann Musik die Besitzverhältnisse angreifen, wenn sie Teil einer Bewegung ist – so argumentierten Lenin, Gramsci, Mao und andere. Jede Bewegung, jede Klasse benötigt kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten, ihr Narrativ, ihre Weltsicht, die die Leute mit an Bord nimmt. Gramsci zeigt uns, dass die herrschende Klasse nicht allein durch Zwang regiert, sondern durch Konsens, und Kultur ist ein wichtiger Teil dieser Herrschaft. Gleiches gilt für die Darstellung der Kultur einer Klasse als etwas, das für alle Völker und Klassen der Gesellschaft universell wahr ist.

Unsere gegenseitigen Widersprüche zu überwinden wird wichtig sein in den kommenden Jahren, wenn wir eine echte antiimperialistische Bewegung aufbauen wollen, die sich den Problemen des Krieges, des Klimakollapses und der Ungleichheit stellen kann.

Calum Baird ist ein schottischer Singer-Songwriter und wird bei der XXIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz auftreten

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