»Die Entwicklung des Kapitalismus begünstigt die AfD«
Von Karim NatourZehn Jahre nach ihrer Gründung steht die AfD bundesweit stärker da als je zuvor. In Sachsen ist sie laut einer Umfrage von Anfang Januar mit 37 Prozent stärkste Kraft. Warum ist die Partei so erfolgreich?
Das hat mehrere Gründe. Erstens, weil wir es in den letzten Jahren mit einem gravierenden Politikversagen zu tun haben. Die aktuelle Bundesregierung macht eine Politik, die immer größere Teile der Bevölkerung verärgert. Die Sparpolitik trägt dazu bei, jene Narrative zu bedienen, die die AfD in den letzten Jahren groß gemacht haben: »Staatsversagen« und das »Versagen der politischen Eliten«, wie sie von der Partei genannt werden. Wir sind in einer Situation, in der mit den Themen Flucht und Migration das zentrale Gewinnerthema der AfD wieder ins Zentrum der politischen Debatte gerückt ist und von allen anderen Parteien bedient wird. Damit surft die AfD momentan auf einer Erfolgswelle. Hinzu kommt, dass die Partei mit der Entwicklung seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Thema besetzen konnte, das sie vor allen Dingen in Ostdeutschland noch stärker macht. Die Selbstinszenierung als angebliche Friedenskraft zeigt, dass diese Frage von den anderen Parteien, inklusive der Linken, nicht ausreichend bearbeitet worden ist.
Die Union hat im Hinblick auf die Migration nahezu alle Forderungen der AfD übernommen, die »Brandmauer« bröckelt auch bei anderen Themen. Haben wir nach der nächsten Bundestagswahl eine schwarz-blaue Koalition?
Nein, formal wird es zu einer solchen Koalition 2025 auf keinen Fall kommen, weil das die Union zu viele Stimmen in der Mitte kosten würde. CDU und CSU blinken zwar eindeutig nach rechts, haben aber ein großes Wählerreservoir, das eher der Mitte zuzuordnen ist. Dieser Teil der alten »Merkel-CDU« ist nicht verschwunden. Wenn die Rechtswende der Union durch eine schwarz-blaue Koalition formal dokumentiert würde, könnten diese Wähler an SPD, Grüne oder FDP verlorengehen. Das bedeutet aber nicht, dass die sogenannte Brandmauer nicht noch weiter bröckeln wird.
Ist die AfD eine bürgerliche Partei?
Sie kommt aus dem bürgerlich-konservativen Lager, wird aber im Moment von dem Teil dominiert, der eindeutig der völkischen, extremen Rechten zuzuordnen ist.
Auch die Ampelparteien sprechen inzwischen von »irregulärer Migration«. Wie kann die Übernahme der AfD-Agenda durch das regierende Establishment gestoppt werden?
Das Establishment selbst könnte es stoppen, indem es Themen links der Mitte setzt, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Und die liegen auf der Hand: die soziale Frage, die Frage, wie der Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland gesichert werden kann, wie gute Arbeit und ein auskömmlicher Lohn garantiert werden könnten. All das könnte auch von der aktuellen Regierung thematisiert werden. Ein Problem dabei ist, dass SPD, Grüne und FDP dabei Positionen haben, die quer zu solchen Themen stehen. Man nimmt sich also lieber die Migration vor, auf die viele Ängste projiziert werden, die mit den aktuellen Veränderungen des globalen Kapitalismus zusammenhängen, die wiederum Ursache für den Aufstieg von Parteien wie der AfD sind.
Verschiedene Kapitalverbände distanzierten sich zuletzt von der AfD. Wen vertritt die Partei?
Die AfD vertritt unterschiedliche Interessen, das macht einen Teil ihrer Stärke aus. Sie repräsentiert einerseits mittelständische Kapitalfraktionen, die weniger stark auf das Thema Globalisierung setzen als transnational ausgerichtete und glauben, dass sie sich durch eine Abschottung von der internationalisierten Entwicklung des Kapitalismus eher bereichern könnten. Daneben profitierte die AfD in den letzten Jahren verstärkt von den Ängsten vieler abhängig beschäftigter Menschen. Die angesprochenen Veränderungen im Kapitalismus, wie wir sie seit 25 Jahren erleben, wirken sich ganz konkret auf das Leben dieser Menschen aus. Die AfD greift das auf und verbindet es mit Migration und Zuwanderung. Damit erreicht sie einen Teil von Personen, die traditionell eher von links zu erreichen waren, die aber heute der Linken nicht zutrauen, dass sie eigene Konzepte entwickelt, mit denen ihnen diese Sorgen genommen werden können.
Am Montag hat Sahra Wagenknecht ihre neue Partei gegründet, mit der sie der sogenannten Repräsentationskrise der bürgerlichen Parteien, von der die AfD aktuell profitiert, von links begegnen will. Kann diese Strategie aufgehen?
Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Kurzfristig kann es zwar einen Effekt haben, der auch zu Stimmverlusten für rechte Parteien führen kann, langfristig aber nicht. In vielen Ländern gab es ähnliche Versuche, Parteien dieses Typs mit alternativen Angeboten von rechts oder auch angeblich von links zu begegnen, indem solche Themen bedient werden, die diese Parteien stark gemacht haben. Das sehe ich auch bei Wagenknecht, die zwar versucht, sich sozialpolitisch links aufzustellen, gesellschaftspolitisch allerdings eher ein konservatives Projekt im Auge hat. Von durchgreifenden Änderungen in der Wirtschaftspolitik oder gar der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse sehe ich dort nichts. Die Wurzeln der Probleme können solche Versuche nicht beheben.
Wie könnten dann diese grundlegenden Veränderungen durchgesetzt werden?
Das ist die Millionenfrage, die bisher noch nirgends wirklich beantwortet werden konnte. Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das kein spezifisch deutsches ist, sondern auch in europäischen Nachbarländern, den USA und auch sonst zu beobachten ist. Es bräuchte eine Politik, die, wenn schon nicht die Überwindung des Kapitalismus anstrebt, zumindest seine Einhegung forciert. Das wäre ein Modell, das den finanzialisierten Kapitalismus zurückdrängt, die realen Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt und wieder stärker auf eine staatliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge setzt.
Also eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der 1960er und -70er?
Eine einfache Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat ist wohl eine Illusion, dafür hat sich zu viel verändert. Der globalisierte Kapitalismus bietet viele Ausweichmöglichkeiten, den sozialstaatlichen Verpflichtungen zu entgehen. Insofern braucht es eher eine Weiterentwicklung. Allerdings stoßen die Ansätze, die innerhalb der gesellschaftlichen Linken aktuell diskutiert werden, bei den Leuten, die man erreichen will, nicht auf genügend Resonanz.
Ist auch die Linkspartei an der Repräsentationskrise der Parteien schuld?
Die Linkspartei hat definitiv ihren Anteil an dieser Krise. Sie war nicht imstande, die soziale Frage in einer Art und Weise zu thematisieren, die den »neuen Anforderungen« gerecht wird. Dazu kommt, dass sie auch sonst einige Lücken gelassen hat, die von rechts genutzt werden – zum Beispiel in der Friedensfrage. Wenn die Rechte stark ist, hat das immer auch etwas mit dem Versagen der Linken zu tun. Aber das ist eben nur ein Teil des Problems.
Wie kann der Vormarsch ultrarechter Kräfte gestoppt werden? Sollte man weiter AfD-Parteitage blockieren, oder die Partei verbieten?
Das Verbot ist in der Tat eine Möglichkeit aus dem Grundgesetz. Allerdings drückt diese Strategie eher die momentan herrschende Ratlosigkeit aus. Parteiverbote sind sicherlich eine Schlussfolgerung aus der historischen Erfahrung des Faschismus, bleiben aber die Ultima Ratio. Was die Möglichkeit betrifft, ein Verbot der AfD auch real umzusetzen, bin ich pessimistisch. Es brächte zudem kurzfristig keine Lösung, weil das betreffende Verfahren drei bis vier Jahre dauern würde. Außerdem wären damit die anderen politischen Parteien nicht der Aufgabe enthoben, die grundsätzlichen Probleme anzugehen, die den Aufstieg der AfD erst ermöglicht haben. Es würde höchstens den aktuellen Druck dieses Problems beseitigen.
In dieser Woche protestieren landesweit die Bauern gegen die geplante Abschaffung der Agrardieselsubventionen. Ist da aktuell ein rechter Mob auf den Straßen?
Nein, das lässt sich meines Erachtens nicht generell als rechter Mob bezeichnen. Natürlich gibt es immer wieder Versuche, Proteste von rechts zu besetzen, in Teilen gelingt das auch. Aktuell sind aber vor allem Leute für ihre eigenen Interessen auf der Straße – unabhängig davon, wie berechtigt deren Unbehagen sein mag.
Welche Bündnisse müssen Antifaschisten gegenwärtig eingehen, und mit welchen Herausforderungen sehen sie sich konfrontiert?
Wenn man die aktuelle Situation tatsächlich als bedrohlich für die Verfasstheit der liberal-bürgerlichen Demokratie begreift – und das kann man mit Blick auf Entwicklungen in den USA oder Brasilien durchaus so sehen – dann ist es wichtig, Bündnisse gegen die extreme Rechte auch mit Kräften einzugehen, mit denen man politisch sonst nicht so viel am Hut hat. Problematisch daran ist, dass man in diesem Fall Bündnisse mit Akteuren eingeht, die für die Situation, in der eine Partei wie die AfD gedeihen konnte, gerade verantwortlich sind. Diejenigen, die diese Entwicklung vorangetrieben haben, sind gleichzeitig diejenigen, mit denen man als Linke die Demokratie gegen die extreme Rechte verteidigen will …
Kann es funktionieren, sich mit diesen Kräften gemeinzumachen?
Für die konkrete Abwehr einer rechten Machtübernahme sicherlich. Das zugrundeliegende Problem kann man langfristig aber nicht auf diese Weise lösen.
Gerd Wiegel leitet das Referat »Demokratie, Migrations- und Antirassismuspolitik« beim DGB-Bundesvorstand und ist Redakteur bei der Zeitschrift Marxistische Erneuerung.
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