Im Anschluß an die Rosa-Luxemburg-Konferenz zu entdecken: Politisch wie poetisch bringt die bengalische Dichterin Mandakranta Sen zerzauste Worte zum Funkeln
Michael Mäde
Der Draupadi-Verlag aus Heidelberg hat sich der Aufgabe verschrieben, indische Literatur im deutschen Sprachraum bekannter zu machen. Unter den Büchern des Verlages findet sich auch ein schmales Bändchen der bengalischen Poetin Mandakranta Sen. Sie ist in Deutschland bislang nicht so bekannt, was sich aber ändern dürfte. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung am 12. Januar hatte sie einen fulminanten Auftritt.
Die Sprache der 1972 geborenen Dichterin ist frei von intellektueller Attitüde, Sen will verstanden werden und hat Spaß daran. Sie ist mutwillig, charmant und philosophisch: »Was du vergessen, was überstanden, ist lange nicht vergangen,/ Vergangenes nennt man, was nicht aufhört.« (»Hetze«) Gesellschaftskritik geht in die Texte der Dichterin ein, nicht plakativ, nicht ideologisch gedeutet, sondern im Gestus des unmittelbaren Sprechens: »Das Leben – ein fließendes buntes Fest/Nachrichten kommen hier verspätet an/diejenigen, die täglich zu Hunderten sterben,/sind niemand von uns – Gott sei Dank.../An jeder Straßenecke Kadaver und Tote/kurble die Scheiben hoch, drück aufs Gas/wollen sehen, wer uns zu halten vermag...« (»Nach uns«). Sens poetische Sprache korrespondiert mit ihrer politischen Haltung, erschöpft sich aber nicht in ihr und kann so emanzipatorisch wirken.
Ganz selbstverständlich rüttelt sie an den Verhältnissen, weil sie ihrem Glück und dem der anderen entgegenstehen. Diese Haltung ist für sie so normal, daß sie es für den Leser auch wird. So bleibt Raum für einen verschmitzten Humor: »Liebster, warum ist die Tante nicht gekommen?/Sag ihr bitte nicht,/ daß ich so gut küssen kann./..Morgen geh ich in dein Büro,/...dann fängt das Abenteuer an.../Wir steigen auf das Shahid Minar./Dort werde ich hinausposaunen:/Onkel Indra ist mein Lover!«( »Ein seltsames Verhältnis«)
Mandakranta Sens Lyrik ist nicht ohne Widerhaken, die Schönheit – die große Bildhaftigkeit ihrer Sprache muß sich der Leser erarbeiten. Worte, die wichtig sind für das lyrische Ich, gilt es zu entschlüsseln. Mond, Sonne, Finsternis. Im Deutschen zerzauste Worte funkeln plötzlich wieder. »Du kennst die Sonnensprache«, heißt es in einem ihrer Texte. Bei Mandakranta Sen läuft der Mond vor ihr her und ruft laut: Faß mich an! Da schleichen »jugendlich starke Minibusse todmüde in Garagen«, und auch Garagen fallen in den Schlaf, und der Sonne wird aufs Haupt geschlagen. Politische und poetische Nachricht – wir bedürfen beider. Auch wenn uns das oft nicht klar ist.
Mandakranta Sen: Alles im Zeichen der Nacht. Aus dem Bengalischen von Shyamal Dasgupta und Christian Weiß, Draupadi-Verlag, Heidelberg 2006, 32S., 7,50 Euro. Signierte Exemplare auch im jW-Shop
13.10.2021 14:37 Uhr
Eine Partei für alle?
Brauchen wir neben der Partei Die Linke eine marxistische Organisation? Auszüge aus der Podiumsdiskussion
Die Diskutanten:
Sahra Wagenknecht ist Mitglied des Europaparlaments für Die Linke.
Hans Heinz Holz ist Philosoph und war Mitglied der Programmkommission der DKP.
Helmut Laakmann, Mitglied der Linkspartei, war 1987 Sprecher beim Arbeitskampf im Krupp-Stahlwerk Rheinhausen.
Markus Mohr, Erwerbsloser, ist Aktivist der autonomen Bewegung.
Dietmar Koschmieder ist Geschäftsführer des Verlags 8. Mai GmbH und im Vorstand der LPG junge Welt e. G.
Wir dokumentieren im folgenden Auszüge aus der insgesamt eineinhalbstündigen Podiumsdiskussion.
Dietmar Koschmieder: Als wir die Podiumsdiskussion vorbereitet haben, gab es viel Skepsis: Interessiert das irgend jemand? Ist das nicht ein Angriff auf die Partei Die Linke? Führt die Fragestellung nicht zu einer Aufwertung der DKP? Jedenfalls ist das Interesse an der Frage groß, wie der volle Saal belegt: Brauchen wir neben der Partei Die Linke eine marxistische Organisation?
Markus Mohr: Ich war selber nie Mitglied einer Partei, aber einfaches Mitglied in der IG Metall. Warum soll ich etwas dagegen haben, wenn es eine marxistische Organisation neben der Linkspartei, oder meinetwegen in der Linkspartei gibt? Aus meiner Sicht gibt es doch bereits eine marxistische Organisation, ihr Name ist Kommunistische Plattform. Und das Gute an der Kommunistischen Plattform ist, sie hat mich bisher nicht gestört und auch an absolut nichts gehindert. Insofern wäre das meine erste Antwort auf diese Frage.
Dietmar Koschmieder: Die Frage ist, brauchen wir außerhalb dieser Linken eine marxistische Organisation, oder ist die Linke eine Art Sammlungsbewegung, in der auch alle marxistische Gruppierungen ihren Platz finden sollten?
Sahra Wagenknecht: Es wäre endlos arrogant zu sagen, wir haben Die Linke, und bitte löst euch alle auf und kommt rein. Es gibt historische Gründe, warum es auch Organisationen wie die DKP gibt. Wir müssen gemeinsam mit allen Kräften, die sich als links verstehen – ob sie sich in der Linken oder separat organisieren –, dafür sorgen, daß wir sowohl bei Wahlkämpfen gemeinsam antreten als auch in diesem Lande außerhalb der Parlamente endlich für mehr Bewegung sorgen. Es reicht nicht aus, unzufrieden zu sein. Wir müssen auch daran arbeiten, daß die Menschen spüren, sie können was verändern.
Dietmar Koschmieder: Wir sind uns auf dem Podium und im Saal wohl einig, daß wir eine starke sozialistische Linke im Bundestag, eine starke Gewerkschaft und eine starke außerparlamentarische Bewegung brauchen, beispielsweise im Kampf um demokratische und soziale Grundrechte. Die Frage ist, ob das reicht.
Helmut Laakmann: Wäre ich Herr Beck, würde ich sagen, wir brauchen noch nicht mal die Linkspartei. Deren Position finden wir in der SPD genügend vertreten. Die größten Probleme, die wir haben, sind all die Verordnungen, die Sklavenarbeit, bei der Leute für einen Euro arbeiten, Kinderarmut, Rentner, die nach ihren Mietzahlungen kaum noch was übrig haben für ihren Lebensabend. Was einhergeht mit all diesen Verordnungen, ist die Entsolidarisierung der Bevölkerung. Die Menschen sagen, ich mach’ das hier allein, ich versuche meinen eigenen Weg zu gehen. Aber sie vergessen oft, daß Solidarität eigentlich die stärkste Macht ist, die wir haben. Deswegen ist es wichtig, daß alle Linken innerhalb unserer Bewegung mitmachen. Die Linke ist viel größer als die Linkspartei. Alle sind aufgerufen, sich zu beteiligen und solidarisch mitzumachen, damit es eine andere Republik gibt. Welches gesellschaftliche Modell sich durchsetzen wird, wage ich überhaupt nicht zu sehen. Ich bin kein lupenreiner Marxist, aber ich lerne jeden Tag dazu, und ich möchte, daß es ein Land gibt, in dem Menschen solidarisch miteinander umgehen.
Dietmar Koschmieder: Dann frage ich den lupenreinen Marxisten: Wozu brauchen wir eine marxistische Organisation neben der Linken?
Hans Heinz Holz: Im Parlament gibt es seit Jahren keine Opposition, denn die SPD vertritt im Grunde genommen die gleichen Interessen wie CDU und FDP, mit Varianten. Infolgedessen hat sich Opposition zum bestehenden System mehr und mehr in Bewegungen ausgedrückt. Bewegungen, die sich spontan herausbildeten und nicht politisch organisiert waren, etwa die Volksbewegung gegen die Wiederbewaffnung in den frühen 50er Jahren bis zu den Sozialforen heute. Alle Bewegungen sind aber, nachdem sie an einen Höhepunkt gekommen sind, zunächst einmal wieder versandet, gerade weil sie keine politischen Organisationen waren. Politische Ziele setzt man aber nur mit Organisationen durch. Insofern finde ich es begrüßenswert, daß nun dieses linke Spektrum, das aus Nichtmarxisten und Marxisten besteht, im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft eine politische Vertretung in einer Partei findet, die sich die Linkspartei/PDS nennt. Das ist ein Fortschritt in der deutschen politischen Landschaft. Daß diese Partei für sich und mit ihrem Titel in Anspruch nimmt, die Linke zu sein, das halte ich allerdings für eine Anmaßung. Denn es gibt außerhalb dieser Partei ein ganzes Spektrum von Linken, damit meine ich nicht nur die DKP, der ich persönlich angehöre.
Was ist das Gemeinsame, das uns alle letzten Endes vereint, die wir hier versammelt sind? Es ist die Suche nach einer Strategie, die es möglich macht, politische Gegenmacht gegen die herrschende Klasse aufzubauen. Aber wenn ich »herrschende Klasse« sage, dann sage ich bereits etwas über mein theoretisches Verständnis. Nun gibt die marxistische Linke auf die Frage nach dieser Strategie eine klare Antwort. Sie sagt, die einzigen, die dieses Ausbeutungsverhältnis aufheben können, sind die Ausgebeuteten selbst, also die Arbeiterklasse. Wie immer sich diese im Laufe der Zeit zwischen 1860, als Marx das »Kapital« schrieb, und heute in ihrer Erscheinung verändert hat: Sie bleibt doch die Klasse der Ausgebeuteten, die Klasse derjenigen, die keinen Besitz an Produktionsmitteln haben. Das ist die Definition der Arbeiterklasse. Der marxistische Gedanke von der Mission der Arbeiterklasse leitet sich ab von der Erkenntnis, daß entscheidender Widerstand gegen das System von Ausbeutung und Unterdrückung und Herrschaftsverhältnissen immer von denen kommt, die Opfer von Ausbeutung und Herrschaftsverhältnissen waren und sind. Und das ist das, was uns als Linke vereint, daß wir als Linke diese historische Mission der Arbeiterklasse (mit welchen unterschiedlichen Zielperspektiven einer sozialistischen Gesellschaft sich das auch verbinden mag) erfüllen müssen. Ich kann allerdings in der Programmatik der Partei, die sich heute Die Linke nennt, jene Orientierung auf ein klares Ziel einer sozialistischen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft, einer Durchsetzung der historischen Mission der Arbeiterklasse, nicht entdecken. Das heißt nicht, daß diese Partei überflüssig wäre. Sie hat ihren Stellenwert. Aber neben ihr muß es doch noch in der Arbeiterbewegung Organisationsformen geben, in denen das Klassenbewußtsein wachgehalten wird. Nicht nur für Verbesserungen innerhalb dieses Systems, sondern für eine Änderung dieses Systems. Das macht diese kleine DKP unentbehrlich.
Markus Mohr: Genosse Hans Heinz Holz, es fällt schwer, in deinem auch akademisch inspirierten Beitrag Elemente einer Zukunft zu sehen, wenn man sich wie du daran gewöhnt hat, intellektuell in der Vergangenheit zu leben. Ich will mich auf einen Punkt deiner Kritik konzentrieren: Du sagst, Bewegungen sind nur Bewegungen und keine politische Organisierung. Damit hast du sozusagen mein individuelles 30jähriges politisches Engagement entwertet, als Privatheit abqualifiziert. Damit machst du dich auch blind für das, was in der Bundesrepublik oder auch in der DDR in den letzten 30 Jahren passiert ist. Ich halte es für eine gesellschaftstheoretische Bankrotterklärung, wenn du sagst, Bewegungen sind nur Bewegungen und keine politische Organisierung. (Proteste im Saal)
Dietmar Koschmieder: Niemand bestreitet hier, daß Bewegungen auch außerhalb der Parteien dringend notwendig sind. Es ist allerdings auch kein Zufall, daß solche Menschen, wenn sie konsequent kämpfen, sich früher oder später die Frage nach einer Organisation stellen, sich politisch organisieren wollen, gerade weil ihnen die Bewegung alleine nicht mehr genügt. Sie müssen aber da abgeholt werden, wo sie aufgrund ihrer bisherigen Arbeit inhaltlich stehen.
Helmut Laakmann: Es ist vielleicht nicht so schwierig, lieber Genosse Holz, theoretisch über das zu sprechen, was du gerade gemacht hast, es kommt sicherlich bei vielen hier gut an. Sie sollten aber wissen, daß es nicht üblich ist, daß so viele engagierte Menschen zusammensitzen – gehen Sie mal nach draußen, da werden sie kaum einen finden. Und wir müssen es schaffen, die Menschen anzusprechen, die draußen sind. Wir hatten zum Beispiel in Rheinhausen einen Bürgerentscheid, weil der schwarze Bürgermeister das Freibad schließen wollte. Da sind die Menschen auf die Straße gegangen und haben 27000 Unterschriften dagegen gesammelt. Dann kam der Tag der Wahl, da ist kaum einer wählen gegangen. Jetzt wird das Freibad im Namen der Bürger geschlossen. Das ist das, was ich mit Entsolidarisierung meine, und das ist das, was wir ändern müssen. Wir dürfen nicht mehr in Kasten denken, wir dürfen nicht mehr in Gruppen denken, und es ist richtig, die Politik fängt auf der Straße an, da gehört sie auch in Anfängen immer hin, bis sie dann im Parlament ist.
Dietmar Koschmieder: Zur Beantwortung unserer Frage, ob wir marxistische Organisationen brauchen, kann die Frage beitragen, ob es Sinn macht, in Klassenkategorien zu denken und Politik zu entwickeln.
Sahra Wagenknecht: Die Frage ist nicht, ob wir in Klassenkategorien denken, sondern ob es Klassen gibt. Und das ist schlichte Realität. Wenn wir uns die Realität in diesem Lande ansehen, dann ist das, was wir seit 15 Jahren erleben, massivster Klassenkampf von oben. Und der ist gerade deshalb so erfolgreich, weil die meisten von denen, die man traditionell als Arbeiterklasse bezeichnet, sich selber so gar nicht sehen. Wenn ich z. B. vor Gewerkschaftern rede, dann kann ich sie natürlich ansprechen und sagen: Ihr als Vertreter der Arbeiterklasse solltet doch jetzt das und das denken oder machen. Dann werden sie sich nicht angesprochen fühlen. Ich würde tatsächlich in so einer Veranstaltung zunächst mal den Klassenbegriff nicht vordergründig benutzen, sondern auf die Kontraste der Interessen hinweisen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die sie erleben.
Wer sich die neue Linke ohne Vorbehalt anguckt, wird feststellen, daß sie nicht die Partei des sogenannten Vordenkers André Brie ist. Sondern daß sie eine sehr vielfältige Partei ist, auch so, wie sie sich gerade mit Oskar Lafontaine in den letzten Monaten profiliert hat. Es wurde gesagt, wir müssen die Systemfrage stellen. Wir haben jetzt die Programmdebatte eröffnet, wir haben in der Programmkommission die ersten Sitzungen gehabt. Und da hat keiner gewagt zu widersprechen, daß das Spezifikum der neuen Linken darin bestehen muß, daß sie gegenüber den bürgerlichen Parteien, auch gegenüber der SPD, die Partei ist, die die Systemfrage stellt.
Das Entscheidende muß jetzt sein, daß wir gemeinsam darum ringen, daß diese Linke wirklich eine Linke wird. Damit hätte sie eine unglaubliche Chance, in diesem Lande was zu bewegen. In Sachen Mindestlohn oder Privatisierung hat sie schon Wirkung. Aber was fast noch wichtiger ist: Wieder in die Köpfe reinzubringen, daß es eine Alternative zu diesem Kapitalismus gibt. Und ich glaube, daß es möglich ist, daß die Linke sich in diese Richtung entwickelt. Ich sage nicht, daß das vorherbestimmt ist, da sind sehr harte Auseinandersetzungen nötig. Es kann sich die Berliner Senatspolitik durchsetzen, das wäre fatal, es können sich aber auch Positionen durchsetzen, die tatsächlich für eine ernsthafte Linke stehen.
Dietmar Koschmieder: Die Idee zum heutigen Diskussionsthema stammt von Oskar Lafontaine. Auf dem ND-Pressefest hat Lothar Bisky sehr ausführlich erklärt, was Linke, was Kommunisten mit den Sozialdemokraten alles falsch gemacht haben. Danach hat Oskar Lafontaine das Wort ergriffen und gesagt: »Genosse Lothar, wir sind uns doch hoffentlich trotzdem einig, daß wir nicht die Partei von Ebert und Noske, sondern die Partei von Liebknecht und Luxemburg sind.« Ist Die Linke tatsächlich die Partei Liebknechts und Luxemburgs?
Sahra Wagenknecht: Ich hoffe, daß sie es wird. Sie ist derzeit das eine und das andere. Die Berliner Senatspolitik ist ganz sicher nicht die Politik Liebknechts und Luxemburgs. Aber vieles, was in der Bundestagsfraktion gemacht wird, die konsequente Ablehnung von Kriegseinsätzen und Privatisierung, vieles, was auch in der programmatischen Arbeit jetzt beginnt, steht in dieser Tradition. Ich glaube bei den Mitgliedern der Linken, in Ost wie West, lebt die Tradition von Luxemburg und Liebknecht, sie ist dort viel lebendiger als die Tradition von Ebert und Noske. Es ist eine offene Auseinandersetzung, wohin sich Die Linke entwickelt. Eine Linke, die einen anderen Weg geht, wird irgendwann scheitern. Wenn wir eine Linke wollen, die sich nicht überflüssig macht, dann kann sie eigentlich nur in der Tradition von Liebknecht und Luxemburg stehen.
Dietmar Koschmieder: Als ich Oskar Lafontaine später gefragt habe, wie er das gemeint habe, da ergänzte er, daß Die Linke natürlich auch die Partei von Willy Brandt sei. Hans Heinz, geht das so ohne weiteres zusammen?
Hans Heinz Holz: Zunächst einmal muß ich sagen, ich schätze das leidenschaftliche Engagement von Sahra in der Hoffnung, aus der Partei, der sie angehört, eine wirkliche linke kämpferische Partei gegen dieses System machen zu können. Ich bewundere den Optimismus, mit dem sie nach fast 18 Jahren Erfahrung in der Kommunistischen Plattform noch so ungebrochene Hoffnung haben kann, aus der Linken so eine Partei zu machen, wie sie ihr und mir vorschwebt. All die Jahre haben doch gezeigt, daß sich die Kommunistische Plattform in den entscheidenden politischen Fragen gegenüber der Parteiführung fast nie durchgesetzt hat. Insofern ist mein Optimismus in eine Partei Die Linke nicht so groß. Deshalb muß es eben eine Kommunistische Partei geben, die diese Prinzipien organisiert wachhält.
Das zweite ist, daß ich nicht ganz damit einverstanden bin, daß Sahra so nonchalant über Begrifflichkeiten hinweggegangen ist. Natürlich müssen unsere Begriffe verständlich sein, aber sie dürfen auch nicht verschwommen, unexakt werden. Wenn man die Kritik von Marx am Gothaer Programm liest oder den Briefwechsel von Engels mit Kautsky, da geht es immer auch um begriffliche Genauigkeit. Marx und Engels haben, neben dem politischen und ökonomischen, immer auch vom ideologischen Klassenkampf als der dritten Säule gesprochen. Lenin hat sich darauf berufen. Wenn wir uns der Zerstörung unserer Begrifflichkeit durch die von großen Konzernen gesteuerte Medienwelt einfach hingeben, wenn wir bereit sind, politische Fragen dann letzten Endes nur noch auf dem sprachlichen Niveau der Bild-Zeitung zu verhandeln, dann haben wir bereits verloren.
Ein Wort noch zu Markus: Es gab mal eine Zeit, wo es eine große Volksbewegung gegen die deutsche Wiederbewaffnung und die entstehende Bundeswehr gab. Seit dieser Zeit habe ich an fast allen Bewegungen aktiv teilgenommen. Ich bin nicht gegen Bewegungen, ich sage nur, die Erfahrung mit Bewegungen ist, daß sie neben der Mobilisierungsfähigkeit zu Zeiten ihres Höhepunkts auch immer in der Gefahr stehen, wieder zu versanden. Die Bewegungen können profitieren, wenn es organisierte Formen des politischen Kampfes gibt. Das heißt nicht, daß jeder Mensch sich organisieren muß, aber die Organisationsform des politischen Kampfes ist ein unerläßliches Moment des politischen Kampfes.
Dietmar Koschmieder: Wenn wir Gesellschaft verändern wollen, brauchen wir eine revolutionäre Praxis. Ohne revolutionäre Theorie aber keine revolutionäre Praxis, zumindest keine erfolgreiche revolutionäre Praxis. Stimmt dieser Satz noch?
Sahra Wagenknecht: Ja, natürlich. Das Problem ist: Eine revolutionäre Theorie muß selber immer weiter entwickelt werden, das heißt, wir haben derzeit kein festes Gerüst revolutionärer Theorie. Das ist auch etwas, was sich aus der Rückkoppelung mit Praxis entwickelt. Wir brauchen derzeit beides, wir brauchen mehr Bewegung, und wir brauchen mehr marxistische theoretische Arbeit, auch wenn die Voraussetzungen dafür extrem schlecht sind.
Helmut Laakmann: Das ist sehr schwierig. Wir sprechen von der Arbeiterklasse, aber ich glaube, viele wissen gar nicht, wie sie zu erreichen ist. Ich habe das in Rheinhausen erlebt, da waren zum Teil bis zu 80000 Menschen auf den Straßen. Farthmann (Friedhelm Farthmann, von 1975 bis 1985 SPD-Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW, d. Red.) sprach sogar von einer vorrevolutionären Situation in Nordrhein-Westfalen. Da habe ich alle die gescheiten Leute, die Thesen haben oder parteipolitisch Aktive, auch die DKP, nie an der Spitze dieser Bewegung gesehen. Die Arbeiterklasse hat sich damals selbst helfen müssen. Sie hat damals um den Erhalt dieses Werkes gekämpft. Es ist vielleicht ein bißchen spät, jetzt die sogenannte Arbeiterklasse noch mal zur Volkshochschule zu schicken, damit sie lupenreine Marxisten werden. Wir wollen diese Republik verändern. Wir wollen die Situation für die Menschen in diesem Land verändern und verbessern. Wir wollen, daß Kinder eine bessere Ausbildung haben. Wir wollen, daß Leute nicht ausgenutzt werden, weil man sie gerade brauchen oder nicht brauchen kann. Das alles hat die DKP in der Vergangenheit nicht so auf die Kette gekriegt. Noch nicht mal in diesem Arbeitskampf in Rheinhausen hat sie damals eine Rolle gespielt. Und bitte, hängt die Fahne nicht so hoch. Ich finde es wichtig, daß man seine Kräfte bündelt, sich zusammentut. Und daß man gemeinsame Wege sucht und nicht so sehr darauf beharrt, was man in jahrelangem Bücherlesen sich vielleicht angelernt hat.
Markus Mohr: Die Frage nach der Theorie ist eine sehr große und allgemeine Frage. Ich würde es da mit dem Genossen Brecht halten: Die Theorie folgt aus den Problemen der Praxis. Und leitet sie an, und das kann dann revolutionär sein, weil es anders nicht zu haben ist. Dazu wurde hier auf dem Podium zu viel Konsens organisiert, wie ohnehin in dieser Gesellschaft zu viel Konsens repressiv hergestellt wird. Wir brauchen mehr Konflikte. Konflikte sozusagen mit der Perspektive auf ein glückliches Leben. Und wenn das revolutionär ist, umso besser. Natürlich haben wir nicht das Recht, blöd zu werden. Und natürlich ist mir jede Organisierung, nicht Organisation, Organisierung willkommen, die Aufklärung stiftet. Und, Genosse Holz, du hast gesagt, Bewegungen versanden. Ich stimme dir zu, aber sind Parteien nicht auch versandet? Die Parteien, Gedächtnis der Klasse, hier also Honecker, Gedächtnis der Klasse, hier Müntefering, Gedächtnis der Klasse. Auch Parteien versanden. Wir sind auf mehr Konflikte und Handgemenge angewiesen, auch im theoretischen Bereich.
Dietmar Koschmieder: Ich würde dir in vielem zustimmen. Aber wie kommst du bloß auf die Idee, daß wir hier zuviel Konsens auf dem Podium hätten?
Hans Heinz Holz: Ich würde gern ein kleines Zitat vorlesen aus dem ursprünglichen Entwurf des Grundsatzpapiers der Gewerkschaft ver.di. »Die auf dem Privateigentum beruhende kapitalistische Marktwirtschaft, die unsere Wirtschaftsordnung bestimmt, hat sich in vielerlei Hinsicht als leistungsfähig erwiesen.« Es komme darauf an, den Kapitalismus – und das lasse man sich auf der Zunge zergehen – »weiterhin zu zivilisieren«. So einen Unsinn kann man doch in einem Entwurf für ein Grundsatzprogramm einer Gewerkschaft nur schreiben, wenn man nicht die mindeste Ahnung von theoretischen Zusammenhängen hat. Daß Theorie den Kampf nicht ersetzt, versteht sich von selbst. Euer Kampf an der Front kann aber durch Theorie eine Linienführung bekommen und damit mehr Aussicht auf Erfolg haben.
Frage aus dem Publikum: Stichwort begriffliche Genauigkeit. Hans Heinz Holz hat den Begriff der Arbeiterklasse, vor 150 Jahren so etwa entstanden, referiert. Würdest du sagen, Marxisten sollten immer wieder die Verhältnisse, wie sie aktuell sind, genau betrachten, analysieren und daraus Schlüsse ziehen? Oder sollten sie immer weiter Marx nur interpretieren? Statt ihn zu verändern, also anzuwenden?
Weitere Frage aus dem Publikum: Zunächst wurde hier gesagt, daß dieses System nicht reformierbar sei. Und im zweiten Satz wurde dann gesagt, daß man so was wie Gewerkschaften braucht. Deren einzige Logik darin besteht, die Situation des Arbeiters im kapitalistischen System erträglich zu machen. Das ist ein Widerspruch in sich, darauf würde ich gerne aufmerksam machen. Zweitens ist es doch so: Wenn man sagt, dieses System ist nicht reformierbar, dann braucht man eine revolutionäre Partei. Allein auf dieser Grundlage sollte klar sein, daß es nicht ausreicht, einfach zu sagen, wir sind ja alle links, und deswegen machen wir es zusammen. Wenn man Marx nicht anwendet, dann kommt irgendein Murks raus.
Helmut Laakmann: Also bei aller Kritik, die man gegenüber Gewerkschaften haben kann in der Bundesrepublik, vergessen Sie bitte nicht, daß sie einer der Grundpfeiler unserer Demokratie sind und wir sie brauchen. Das heißt aber nicht, daß die Arbeit in den Gewerkschaften nicht dramatisch verbessert werden könnte. Ich würde mir manchmal wünschen, daß wir ein bißchen mehr frische Luft reinlassen und daß dort darüber nachgedacht wird, woher man sein Gehalt bezieht. Schließlich sind es ja Mitgliedsbeiträge. Funktionär ist eigentlich kein Beruf, sondern eine Berufung. Deswegen sollte man auch entsprechend für seine Mitglieder agieren. Aber noch mal: Wir brauchen unsere Gewerkschaften, obwohl ich sie mir auch radikaler vorstellen könnte und viel mutiger, als sie im Augenblick sind.
Hans Heinz Holz: Selbstverständlich hat der Fragesteller recht, wenn er summiert, daß Theorie oft nur das Nachbeten oder Reinterpretieren von Klassikern wie Marx oder Engels sei. Aber Theorie hat immer mit dem Unterschied von Wesen und Erscheinung zu tun. Marx hat einmal gesagt, wenn die Erscheinungsform immer dem Wesen entsprechen würde, bräuchten wir keine Theorie. Dann würden wir ja unmittelbar sehen, was los ist. Die Grundlage des Marxismus ist die Erklärung unserer politischen, ökonomischen, anthropologischen Situation aus dem Produktionsverhältnis heraus, in dem der Mensch als gesellschaftliches Wesen seine Existenz reproduziert. Der Typus Produktionsverhältnis, der sich als Kapitalverhältnis in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat, ist noch immer derselbe. Das Wesen dieser Gesellschaftsformation ist gleichgeblieben. Trotz aller Veränderungen in den Erscheinungsformen. Insofern bleiben Erkenntnisse von Marx und Engels auch dann aktuell, wenn wir ihre veränderten Erscheinungsformen in neuen Analysen berücksichtigen müssen. Es bleiben die Grunderkenntnisse als Eckpfeiler einer Theorie. Alle bedeutenden marxistischen Gelehrten haben neue Erkenntnisse zu dem beigetragen, was sich bei Marx, Engels und Lenin findet. Aber sie haben zugleich erkannt, daß das Grundmodell der kapitalistischen Gesellschaftsordnung von den Klassikern richtig beschrieben worden ist. Insofern gebe ich dem Fragesteller recht, wenn er sagt, wir müssen ständig wissenschaftlich weiterarbeiten und Neues erarbeiten. Aber wir müssen das im Verhältnis zu dem, was die Konstanten dieser Gesellschaftsordnung sind, tun.
Die andere Frage war, ob man das kapitalistische System erträglich machen kann. Nein. Ein System, das auf Ausbeutung und Herrschaftsverhältnissen beruht, kann man nicht erträglich machen. Man kann es nur ändern. Veränderung kann man nur in Auseinandersetzung mit der herrschenden Klasse erkämpfen. Denn keine herrschende Klasse gibt ihre Herrschaft freiwillig ab. Das ist seit dem dritten vorchristlichen Jahrtausend so. Und es läuft so, solange es Klassengesellschaften gibt. All dies aber auszuarbeiten als Konzept, als strategische Linie, als Erkenntnis der Notwendigkeit, daß irgendwann die Entwicklungen in der kapitalistischen Gesellschaft zu einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft führen werden, dazu braucht es mehr als diesen oder jenen Wissenschaftler oder Politiker. Dazu braucht es erstens die Organisation des Kampfes, zweitens aber auch die Organisation selbst. Es braucht die Organisation als die Form, in der die wechselseitigen Erfahrungen, im gegenseitigen Austausch und gegenseitiger Kritik und einem Reflexionsverhältnis, überhaupt erst zu einer angemessenen Abbildung der Wirklichkeit führen. Und das leistet eben nur eine Organisation, die sich die Theorie zum Zweck eines Teils ihrer Tätigkeit gemacht hat. Und das ist das, was ich an der DKP schätze, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Ich gebe dir völlig recht, die Partei versagt an vielen Stellen. Aber auch mit dem Ergebnis, daß in der Partei eine Rebellion gegen dieses Versagen vorhanden ist. Wir streiten uns doch, daß die Fetzen fliegen, und Gott sei Dank tun wir das innerhalb der Partei. Das sieht der Außenstehende natürlich meistens nicht, weil sich das innerhalb der Organisation abspielt. Dank der jungen Welt, die das gelegentlich auch in ganzen Thema-Seiten zum Gegenstand macht, dringt das auch ein bißchen in die Öffentlichkeit. Dafür danke ich der Zeitung. Wir sind doch kein monolithischer, homogener Haufen. Wir streiten uns wirklich untereinander. Und das würde ich genauso als ein optimistisches Element nehmen, wie ich Sahra zugestehe, daß sie die optimistische Hoffnung hat, die Partei Die Linke zu einer wirklichen Linken machen zu können.
Sahra Wagenknecht: Was das Zusammenspiel von theoretischem Fundament und dessen Weiterentwicklung angeht, stimme ich Hans Heinz Holz völlig zu. Natürlich geht es nicht darum, dieses essentielle theoretische Handwerkszeug, was wir durch Marx haben, über Bord zu werfen. Das wäre idiotisch. Das ist das Handwerkszeug, mit dem man ökonomische Prozesse in dieser heutigen Welt verstehen kann. Mein Plädoyer war nicht, daß wir unsere Begriffe aufgeben. Oder gar die Begrifflichkeit der Bild-Zeitung übernehmen. Ich denke nur, wir müssen mit unseren Begriffen verständlich bleiben. Es gibt Begriffe, die heute im Mainstream, im Zeitgeist, in den Medien sind, die man nicht übernehmen darf, weil sie falsches Bewußtsein beinhalten. Zum Beispiel wenn abstrakt von Globalisierung geredet wird, obwohl es eigentlich um einen globalen Kapitalismus geht. Aber wenn man vor einer Versammlung von Arbeitern, die gewerkschaftlich organisiert sind, diese nicht direkt als Arbeiterklasse anspricht, sondern gesellschaftliche Realität an Widersprüchen, an Klassengegensätzen inhaltlich erläutert, das ist nicht ein Abgehen von Begriffen. Es sollte verständlich sein, was die heutige Gesellschaft bedeutet, wo die Gegensätze sind, wer die Profiteure sind, und wie man es ändern kann. Bei jeder Privatisierung kann man letztlich die Debatte bis zur Eigentumsfrage treiben. Natürlich ist es keine Frage des Gesellschaftssystems, ob die Energieversorgung in öffentlicher oder in privater Hand ist. Aber man kann an einer solchen konkreten Frage die Folgen erläutern, wenn Eigentum in privater Hand ist. Daß private Investoren eben auf Profitmaximierung setzen, und daß das bestimmte Konsequenzen hat. An solchen Detailfragen kann man die Systemfrage aufmachen.
Markus Mohr: Nur kurz eine Lanze für das Zitat, das Hans Heinz Holz gebracht hat, dieses ver.di-Zitat, von Arbeiterreformisten der großen Organisation, die den Kapitalismus sozusagen zivilisieren wollen. Man kann das theoretisch abqualifizieren, das ist in Ordnung, das kann man auch beklatschen. Aber ver.di meint damit doch auch nichts anderes als der Genosse Agnoli, der sagt, daß er den Kapitalismus zivilisieren will, weil der Kapitalismus schon heute eine Barbarei ist. Und darüber lohnt es sich natürlich auch, mit ver.di-Kollegen sozusagen ins Handgemenge zu kommen. Von dem jungen Genossen kam, dieses System sei nicht reformierbar, es gab auch Beifall. Ich interpretiere das so, daß du es nicht reformieren willst. Ich möchte dir widersprechen. Ich glaube, dieser Kapitalismus ist permanent reformierbar, angesichts der Erfahrung des 20. Jahrhunderts von New Deal über Massenmord und Faschismus, Auschwitz, können wir nichts mehr ausschließen. Wir müssen mit allem rechnen. In diesem Sinne ist dieser Kapitalismus fortwährend reformierbar und wird fortwährend reformiert. Daraus erwachsen die Probleme, die wir in der politischen Praxis haben. In den Alltagskämpfen dagegen Position zu beziehen, das bleibt die Herausforderung.
Dietmar Koschmieder: Herzlichen Dank. An dieser Stelle müssen wir die Diskussion für heute abbrechen. Zunächst einmal danke ich allen, die sich hier oben diesen Fragen gestellt haben. Es ist kein Wunder, daß wir uns mit dieser Frage sehr schwer tun. Es ist in diesem Lande und in seinen Medien nicht üblich, solche Fragen zu diskutieren. Wir tun uns schwer damit, aber wir tun’s. Das ist ein Anfang, und kein schlechter. Wir werden weiter in der Diskussion bleiben.
13.10.2021 14:36 Uhr
Punkig, politisch, poetisch
»Klasse für sich. Partei für alle?« Die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin wird jünger und größer
Rüdiger Göbel
Gina Pietsch begeistert am Morgen mit Liedern von Brecht, Banda Bassotti punkt spät in der Nacht mit Songs der Resistenzia. Dazwischen Vorträge, Analysen, Diskussion und Kabarett. Linke Politik, linke Kultur, sie sind eins an diesem Tag. Man muß dagewesen sein, im Urania-Haus am Wittenbergplatz tief im Berliner Westen, um wirklich verstehen zu können, was da am vergangenen Samstag passiert ist. Die diesjährige Rosa-Luxemburg-Konferenz dieser Zeitung hat mit mehr als 2000 Teilnehmern nicht nur alle bisherigen Besucherrekorde gebrochen, es gab auch mehr Infotische und Stände, mehr Bands und mehr politische Beiträge als früher. Doch es sind nicht die Zahlen allein, die beeindrucken. Das Publikum ist im Vergleich zu früheren Tagungen deutlich jünger geworden. Noch nie waren so viele Lippen-gepiercte Aktivistinnen und Kapuzenpulliträger zugegen, neu Interessierte, Heiligendamm-geschult, politisch offen für Impulse aus Indien, Kuba oder Griechenland.
Parteikader und Punkgirls arbeiten sich Seit an Seit durch das Angebot auf den Büchertischen, drinnen bei den Vorträgen drängeln sich Autonome wie Abgeordnete auf den Fluren, der große Humboldt-Saal irgendwann nur noch überfüllt. Und alle hören zu, konzentriert und interessiert, Organisierte wie Unorganisierte. Begeisterten Applaus bekommen Reiner Kröhnert für seine Schröder-Struck-Honecker-Imitationen wie die Referenten nach teilweise nüchterner politischer Analyse. »Unsere Politik. Unsere Kultur. Unsere Medien.« – das Konferenzthema bindet alle ein beim Nachdenken über die Alternativen für morgen. Die Podiumsdiskussion über die Linkspartei und marxistische Organsierung ist kontrovers wie lange nicht mehr, doch nie unsolidarisch.
Die Rosa-Luxemburg-Konferenz ist mittlerweile mehr als nur das »Neujahrstreffen« der Linken in Deutschland. Sicher, es ist schön, viele bekannte Gesichter zu sehen. Schöner aber noch, es kommen immer neue hinzu. Die Linke hat Zukunft, und sie ist mehr als eine Partei. Sie ist vielfältig, aufgeweckt, ansteckend und hat unheimliches Potential. Auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz ist sie ein Erlebnis. Schade für den, der es verpaßt hat.
Auszüge der Vorträge erscheinen in einer Sonderbeilage der jW am 30. Januar. Im März erscheinen eine umfassende Broschüre und eine DVD
13.10.2021 14:38 Uhr
Gemeinsam für Venezuela
Aktivisten der Solidaritätsbewegung trafen sich am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz
Christian Kliver
Wie jedes Jahr wurde die Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt auch zur Koordination politischer Arbeit genutzt. So kamen am Samstag nachmittag in der Berliner Konferenzhalle »Urania« Vertreter von rund einem Dutzend Gruppierungen und Organisationen der Venezuela-Solidaritätsbewegung zusammen. Auf dem Treffen, zu dem die Betreiber des Internetportals amerika21.de eingeladen hatten, konnten auch diplomatische Vertreter aus Venezuela begrüßt werden.
Obwohl in Deutschland bereits zahlreiche Venezuela-Gruppen bestehen, existiert noch keine effektive Koordinierung der Arbeit, nachdem entsprechende Versuche in der Vergangenheit gescheitert sind. Das Portral amerika21.de soll dieses Defizit nun beheben helfen. Betrieben wird die Seite ehrenamtlich von einer kleinen Gruppe aus Journalisten und Medienfachleuten, die nach halbjähriger Arbeit an dem Portal engeren Kontakt zu den Soligruppen suchen.
Die Bedeutung einer gemeinsamen Plattform wurde von den Anwesenden hoch bewertet. Ein alternatives Nachrichtenportal sei ebenso wichtig wie Hintergrundinformationen und Pressekritik, hieß es von Teilnehmerseite. Um den Charakter der Seite als Medium der Solidaritätsbewegung zu stärken, sollen sich die Venezuela-Gruppen nun in das Projekt einbringen: Als eingetragene Mitglieder der Seite könnten Kommentare sowie eigene Beiträge verfaßt werden, erklärte Maxim Graubner als einer der Redakteure. Eine Mailingliste wird den direkten Austausch zwischen den interessierten Gruppen stärken.
Daß Venezuela dabei nur einer unter mehreren Schwerpunkten sein soll, war Konsens unter den Teilnehmern des Treffens. Auch andere progressive Entwicklungen wie in Bolivien und anderen lateinamerikanischen Ländern müßten Beachtung finden.
Finale Feier der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Danbert Nobacon, Xikinkei und Banda Bassotti
Robert Mießner
Keine fünf Fußminuten vom KadeWe sieht das Zentrum Westberlins so aus, wie sich der Westen immer den Osten vorgestellt hat. Zumal an Januarabenden. Das Grau in Grau wird trübe von einer Handvoll Reklamen beleuchtet. Da tut Farbe dringend not. Zu finden ist sie an diesem Samstag abend, wo man sie am wenigsten vermutet, hinter der Fassade des Urania-Gebäudes, das in Belgrad stehen könnte, Ort der Rosa-Luxemburg-Konferenz. Bekanntlich sind die Feiern dort am besten, wo den Leuten eigentlich nicht nach Feiern zumute ist.
Am Anfang freilich möchte man Danbert Nobacon, Mitbegründer von Chumbawamba und mittlerweile Solokünstler, recht geben. »Die Kommunisten werden immer älter« (Interview in jW vom 10.Januar). Zumindest die in seinem Publikum. Es scheinen auch immer weniger zu werden. Noch mal zur Erinnerung: 1998 ist ausgerechnet Chumbawamba der Geniestreich geglückt, mit »Tubthumping« einen Top-Ten-Hit zu landen. Nobacon spielt die ersten Minuten seines Sets vor zwei Dutzend Leuten. Ein Armutszeugnis für das Berliner Publikum, das ansonsten jeden Morgen in Hipness zu baden pflegt.
Dabei ist Nobacons Auftritt in Wohnzimmeratmosphäre der interessanteste, am wenigsten rockistische Teil dieses Konzertabends. Ein Mann, eine Gitarre, viel Mimik und Gestik. Er gibt den Kommentator und Komödianten, spielt »That's how grateful we are«, Chumbawambas Song über den Sturz der Budapester Stalinstatue 1956, zum Fall gebracht von längst nicht mehr dankbaren Arbeitern. Nobacons alte und neue Songs beweisen: Akustisch heißt nicht automatisch Leisetreterei, kann intensiv und überzeugend sein. Danach ist für die Raucher im Raum erstmal Sporttreiben angesagt. Die Konzerte finden im dritten Stock der Urania statt, zu erreichen über drei steile Treppen.
Der Soundtechniker hatte bei Nobacon einen Lenz, schob gemütlich die Regler hin und her und freute sich seines Jobs. Letzteres tut er immer noch, als Xikinkei aus dem Baskenland die Bühne betreten. Nur, jetzt wird er hektisch und verzieht immer wieder das Gesicht. Xikinkei spielen Hardcore. Den richtig lauten, wütenden, mit Akrobatikeinlage und Rage-Against-The-Machine-Cover. Diese Musik könnte auch auf MTV laufen – Betonung auf könnte. Der Konjunktiv vernachlässigt die Texte, die man gerne verstünde. Schlagartig werden die Kommunisten jünger und zahlreicher, verwandelt sich das Loft der Urania in ein Fitneßstudio. Gesetzt den Fall, man dürfte in diesen unerfreulichen Zurichtungsanstalten Pogo tanzen.
Noch ausgiebiger und wilder läßt sich das bei Banda Bassotti tun (Interview in jW vom 11.1.). Mittlerweile ist der Saal randvoll geworden, die Bar kriegt zu tun. Der Soundman lächelt wieder und fängt an, Erinnerungsfotos zu schießen. Die Panzerknacker aus Rom sind ein kleines Ska-Orchester mit Saxophon, Posaune, Trompete und frenetischem Gesang. Sie machen Party. Eine, bei der man den Kopf nicht am Eingang abgeben muß. Aber trotzdem feiert. Oder gerade deshalb. »Avanti popolo« vertreibt den Gram und den Grimm. Nach dem Konzert scheinen die Leuchtschriften draußen vor der Tür, über der Nacht am Wittenbergplatz, blasser geworden zu sein. Angenenehmer Effekt. Vielleicht kann man von innerer Erleuchtung sprechen.
13.10.2021 14:36 Uhr
Fort mit den Trümmern
Überwältigende Resonanz: Mehr als 2000 Teilnehmer bei Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin. Diskussion über Politik, Kultur und Medien
Rüdiger Göbel und Sebastian Wessels
Neuer Rekord bei der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin. Noch nie gab es so viele politische und kulturelle Beiträge, noch nie so viele Besucher wie in diesem Jahr. Mehr als 2000 Teilnehmer zog es am Samstag zu der von dieser Zeitung und unzähligen Unterstützern organisierten Veranstaltung. Fulminant wie unterhaltsam schon der Auftakt im großen Saal der Urania am Wittenbergplatz. Die Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch begeisterte das Publikum mit Texten von Bertolt Brecht, darunter, als Referenz an die junge Welt, das Aufbaulied der FDJ »Fort mit den Trümmern«. Es war quasi Handlungsanleitung, getreu dem Teilmotto der Konferenz »Klasse für sich«: Wenn die Linke etwas werden und erreichen will, braucht sie ihre eigene Politik, ihre eigene Kultur und ihre Medien – letzteres der rote Faden, der sich durch die Vorträge zog. Draußen vor der Tür, das KaDeWe, Einkaufstempel der Besserverdienenden, und die CDU-Zentrale am Landwehrkanal gut zu Fuß zu erreichen, wehten – dem unermüdlichen Aktionsbüro und seinen Helfern sei Dank – unzählige rote Fahnen.
Rasant die junge indische Schriftstellerin Mandakranta Sen. Ihr Überblick über die vielfältige Literaturszene des Subkontinents und die Probleme, die das Kastensystem für den Klassenkampf mit sich bringt, war eine echte Herausforderung für die Simultandolmetscher. Ausführlich schilderte sie die Probleme, die etwa Publizistinnen im patriarchalen Verlagswesen ihres Landes haben – und blieb doch zuversichtlich. Der Vorsitzende des kubanischen Journalistenverbandes, Tubal Paez, bekräftigte die Notwendigkeit »revolutionärer Medien«. In seinem Land seien dies die staatlichen Sender. Sie seien »klassenbewußt« und an den Interessen der Bevölkerung orientiert. Paez verwies insbesondere auf die Erfolge Kubas im Bildungsbereich. Sein Land sei das einzige in Lateinamerika, das die entsprechenden Millenniumsziele der UNO erreicht habe.
Der US-Publizist Mumia Abu-Jamal forderte die Linke in seinem per Tonband eingespielten Beitrag auf, »eine authentische Arbeiterpresse aufzubauen, die die Bedürfnisse und Sorgen der Klasse anspricht«. In den USA sei dies schwierig, da es diesbezüglich keinerlei Traditionen gebe. Sein Anwalt Robert Bryan wies auf die dramatische Situation seines Klienten hin. Mumia Abu-Jamal wurde 1982 wegen angeblichen Polizistenmordes zum Tode verurteilt und kämpft seitdem für die Wiederaufnahme des Verfahrens. In den kommenden Wochen entscheide das zuständige Bundesgericht, ob er einen neuen, dann hoffentlich fairen Prozeß erhalten wird.
Wer sich über die Möglichkeiten alternativer Medien Gedanken macht, dürfte vor allem aus dem Redebeitrag von William Grigsby wertvolle praktische Anregungen gewonnen haben. Grigsby ist Chef des »Radio La Primerisima«, eines revolutionären und dennoch führenden Radiosenders in Nicaragua, wo die sozialistischen Sandinisten 1979 die Somoza-Diktatur beendet hatten, jedoch 1990 von den US-gestützten Antisandinisten wieder entmachtet wurden. Aufgrund der Massenarmut und einer Analphabetenrate von 35 Prozent in Nicaragua sei das Radio als Massenmedium am besten geeignet, so Grigsby. Alternative Medien müßten »in Form und Technik der Kommunikation exzellent« sein, um ihre Chancen zu nutzen. An die politische Linke richtete er die Warnung, nicht den Versuchungen des »Sektierertums« zu erliegen. Dieses führe immer wieder zu Akten der Zensur innerhalb der Linken – also dazu, daß man gegeneinander dieselben Mittel der Herrschaft einsetze, die es zu bekämpfen gelte.
Im scharfen Kontrast zum oppositionellen Radio Nicaraguas stehen die Massenmedien in den reichen Industriestaaten, wie sie der Chefredakteur der französischen Monatszeitung Le Monde diplomatique, Ignacio Ramonet, charakterisierte. Diese würden oft als »vierte Gewalt« bezeichnet, die im Namen der Bevölkerung eine Gegenmacht gegen die Staatsgewalten in Stellung bringe. Heute jedoch befänden sich die Massenmedien mehrheitlich in Besitz internationaler Konzerne, welche zugleich die Nationalstaaten als tonangebende Akteure der Globalisierung abgelöst hätten. Somit seien die Medien ins Lager der Herrschaft »übergelaufen« und hätten »die Bürger verraten«. Es gelte, für eine »Ökologie der Informationen« einzutreten – wie heute zunehmend Lebensmittel ohne Schadstoffe verlangt würden, müßten auch von den Medien korrekte und unverfälschte Informationen eingefordert werden. Wie dies geschehen soll, dazu hätte man gerne mehr Konkretes gehört – etwa eine Einschätzung der heute zahlreichen privaten Initiativen im Internet, die genau diesen Anspruch erheben.
Aufgelockert und bereichert wurde das Programm durch Politsatiren von Rainer Kröhnert und Dietrich Kittner sowie eine musikalische Einlage von Danbert Nobacon, dem ehemaligen Sänger der Band Chumbawamba. Der Autor Martin Keßler zeigte mit einer Kostprobe aus seinem neuen Film »Das war der Gipfel«, einer Hommage an die Protestbewegung von Heiligendamm, daß jenseits aller Diskussionen der Aufbau »eigener Medien« machbar ist.
Aleka Papariga, Generalsekretärin der KP Griechenlands (KKE), schließlich sprach über die Erfahrungen ihrer Partei seit Ende des Realsozialismus. Die KKE nehme ihren diesjährigen 90. Geburtstag zum Anlaß zurückzublicken, begangene Fehler zu analysieren und die Diskussion über Taktik und Strategie für die Zukunft zu erneuern. Dabei wandte sie sich scharf gegen die Annahme, man könne »zum Zeitalter der französischen Aufklärung zurückkehren« und darauf hoffen, daß der Kapitalismus sich mit seinen Exzessen selbst untergrabe. Es gelte, den Kampf auf der Grundlage genauer politischer Analyse weiterzuführen. Mit ihrem Schlußwort setzte Papariga ein Ausrufezeichen unter den Vortragsblock der Konferenz: Sie sei »überzeugt«, sagte sie in Anspielung auf das russische Kriegsschiff, das als Symbol für die Oktoberrevolution steht, »daß die Kanonen der Aurora wieder feuern werden«.