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Aus: Ausgabe vom 26.10.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Das ganz große Ding

Wie der kommunistische Ringer Werner Seelenbinder bei Olympia 1936 die Nazis bloßstellen wollte – und für seine Überzeugung in den Tod ging
Von Ingar Solty
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Der Mann mit dem ­Hüftschwung: Werner Seelenbinder in Aktion

Kein Friedrichshainer Kieztourist verläuft sich in die Glatzer Straße in Berlin. Hier findet sich ein Denkmal, dass daran erinnert, dass in dem Haus mit der Nummer sechs Werner Seelenbinder wohnte. Den Namen kannte in der DDR jedes Kind. Nach ihm war alles Mögliche benannt – auch eine der größten Veranstaltungshallen. Dass man eine Sporthalle nach ihm benannte, war kein Zufall. Denn Seelenbinder war Widerstandskämpfer und Spitzensportler zugleich. Tatsächlich verbinden sich in seinem Fall Leistungssport und politisches Handeln zu einer einheitlichen heroischen Lebensleistung. Wie kam es dazu?

Werner wird am 2. August 1904 in Stettin (heute Szczecin) geboren, als zweites Kind des Maurers August Seelenbinder und seiner Frau. 1905 zieht der Vater auf Arbeitssuche ins bauboomende Berlin. Die Mutter bleibt mit Werner und der älteren Schwester Irmgard zurück. 1906 kommt noch Bruder Erich, 1908 Schwester Käthe hinzu. Dann reicht das Geld, die Familie nachzuholen. Zusammen zieht sie in die erst 1907 angelegte Glatzer Straße. Die Wohnblöcke rund um den Boxhagener Platz sind um die Jahrhundertwende hochgezogen worden. Zu Seelenbinders Kinderzeit wohnte hier das Proletariat. Heute wird das Viertel mit seiner hohen Restaurantdichte in ehemals besetzten Häusern als »Szenekiez« vermarktet. Wer heute in der Glatzer Straße eine vollmöblierte Zweiraumwohnung mit 63 Quadratmetern mieten möchte, zahlt dafür 2.564 Euro im Monat, unmöbliert gibt es drei Räume für 3.310 Euro.

Bis zur Eingemeindung 1920 noch zum eigenständigen Lichtenberg gehörend, ist Boxhagen im »Roten Berlin« Teil des noch röteren Friedrichshains. Die Arbeiter arbeiten bei der Knorr-Bremse AG, dem Reichsbahnausbesserungswerk, dem ­Auer-Glühlampenwerk oder den vielen Möbelfabriken in den Hinterhöfen. Der Vater träumt von einer unabhängigen Existenz. Er erwirbt in der Weserstraße einen Gemüse- und Kolonialwarenladen, den seine Frau betreibt, während er selbst weiter als Maurer schuftet. Die Pläne zerschlagen sich, als August in den Krieg muss und die Mutter noch im ersten Kriegsjahr unerwartet stirbt. Für die vier unmündigen Sprösslinge beginnt nun eine harte Zeit. Während die 14jährige Irmgard den Laden zusammen mit der steinalten Großmutter führt, muss der 12jährige Werner, so sein Biograph Werner Radetz, nach der Schule »alle Kraftarbeit bewältigen: auf dem Wriezener Bahnhof Gemüse, Kartoffeln und Kohlrüben von Eisenbahnwaggons und Laderampen auf den Handwagen laden« und das alles in den Laden schaffen.

Werner entwickelt so früh die gedrungene, kräftige Figur. Seine Leidenschaft gilt dem Arbeitersport. Schon mit 13 nimmt ihn sein Busenkumpel Erwin Droas aus der nahegelegenen Gabriel-Max-Straße zur »Kinderübungsstunde« bei einem »Arbeiter­athletenverein« mit. So kommt Werner zum Ringkampf. Nach dem Krieg wird er zwei- bis dreimal die Woche nach der Arbeit die gut sechs Kilometer zu Fuß in die Kaiser-Friedrich-Straße, die heutige Sonnenallee, nach Neukölln laufen, um an den Übungsabenden des Sportklubs Berolina teilzunehmen. Der existiert zwar unter der Schirmherrschaft eines bürgerlichen Vereins, wird jedoch von Sozialdemokraten geleitet.

Das Leben der Arbeiterkinder wird von den extremen Widersprüchen der Zeit geprägt. Droas’ Vater ist bildungsbeflissener Sozialdemokrat. Durch ihn kommt Werner erstmals mit marxistischen Ideen in Kontakt. Die Weltgeschichte, die sich im Wohnviertel abspielt, ist der beste Lehrer. Werner wird Zeuge des Kriegselends. 1915 finden hier die »Butterkrawalle« statt. Arbeiterfrauen reagieren auf die Teuerung mit Demonstrationen und Plünderungen. 1917 kommt es in den Berliner Rüstungsfabriken zum »Aprilstreik« gegen die Inflation. In der Knorr-Bremse AG wird der erste Arbeiterrat Deutschlands gegründet. Schon im Januar 1918 kommt es erneut zum Massenstreik der Berliner Rüstungsarbeiter. 400.000 beteiligen sich. Staat und Kapital setzten das Militär ein. Auch die »Knochenbremse« wird unter Militärverwaltung gezwungen. Vorboten der Novemberrevolution.

Werner ist 14 Jahre alt und beendet die Schule, muss selbst arbeiten. Ein Freund hat ihm gerade in der Friedrichstraße eine Stelle als Page in einem Luxusrestaurant verschafft, da spielt sich in Lichtenberg das Drama der Niederschlagung der »zweiten Revolution« ab. Während Werner sich tagsüber verdingt, wird rund um sein Elternhaus das Militär gegen die lokale Bevölkerung eingesetzt. Artillerie reißt Löcher in Fassaden. Kriegsflugzeuge werfen Bomben. Es kommt zu Massenexekutionen. Insgesamt gibt es in Berlin 1.200 Todesopfer, die meisten aufständische Arbeiter. Alfred Döblin, der die »grausigen erschütternden Dinge der Eroberung Lichtenbergs« von seinem Fenster aus miterlebt, notiert: »Man muss die Leichen da vor der Schule liegen gesehen haben, um zu wissen, was Klassenhass und Rachegeist ist.«

Seelenbinder wird »Hausdiener in einer kleinen Bilderrahmenfabrik« und danach »Hilfstischler in (der) Nähmaschinenfabrik Frista & Roßmann in Neukölln«. Er ist durch den Vater und vor allem Vater Droas gegen die »Bolschewisten« eingestellt. Doch durch das blutige Vorgehen des sozialdemokratisch geführten Staates bekommt seine antikommunistische Haltung Risse. Und ab 1921 ist Erich Rochler sein Übungsleiter und alsbald enger Freund, ein Kommunist.

Die Hyperinflation von 1923 macht Getreide und Lebensmittel zu Luxusgütern. Eine Straßenbahnfahrkarte kostet 50.000 Mark. Arbeitslose wühlen im Müll nach Essbarem. Werner kann sich monatelang weder Fleisch noch Butter leisten. Die Ringer versagen sich das Training, weil sie hungern. Aus Gewohnheit kommen sie »zwei- oder dreimal in der Woche in die Trainingshalle« und berichten einander »schaurige Vorfälle«, wie den Selbstmord der Familie, die sich in der Glatzer Straße mit Leuchtgas vergiftet hat. Es kommt wieder zu »Teuerungs­unruhen«. Die KPD ruft für den 11. August zum Generalstreik auf. Neben einem Mindestlohn von 60 Goldpfennigen wird auch der Rücktritt der Regierung gefordert. Der sozialdemokratische Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) mahnt zur »Disziplin«. Aber die Konfliktbereitschaft ist immens, der Streik gut vorbereitet. »Passive Resistenz« legt ganze Industriegebiete lahm, S- und Straßenbahnen stehen still. Weder Strom noch Gas fließen. Der Reichsdruckerei geht binnen Stunden das Papier für Geldscheine mit Milliardenwerten aus. Am Folgetag tritt die Regierung Cuno zurück. Reichspräsident Friedrich Ebert erklärt den Ausnahmezustand. Die Rote Fahne der KPD wird verboten und beschlagnahmt, die Polizei geht brutal gegen Arbeiterdemonstrationen vor. Die Neuköllner Ringer schützen den Generalstreik am Hermannplatz.

Prägende Erfahrungen. Doch noch ist Werner Seelenbinder kein Kommunist. Ohnehin sind die Kämpfe von 1923 das letzte Revolutionsglühen. In Deutschland stabilisiert sich einstweilen der Kapitalismus. Erwin Droas zuliebe verbleibt Werner bei »Berolina« und schließt sich nicht Rochlers kommunistischem »Sportklub Lurich« an. Für »Berolina« wird Werner 1926, damals noch in der Mittelgewichtsklasse, in die »Ländermannschaft des deutschen Arbeitersports« berufen. Zum ersten Mal überhaupt im Ausland, gewinnt Werner in Wien beim »Arbeiter-Turn- und Sportfest« gleich den Titel. Seitdem ist er durchgängig Teil der Länderauswahl und sorgt für Furore.

1927 trifft Seelenbinder eine Entscheidung, die sein Leben stark beeinflussen wird. Sozialdemokratische Sportfunktionäre unterbanden lange jeden Kontakt zur Sowjetunion. Das »Deutsch-Russische Sportabkommen« vom August 1926 lockert den Bann. Noch im selben Jahr macht Seelenbinder in Berlin erste positive Erfahrungen mit sowjetischen Ringern. Kurz darauf wird er, mittlerweile Halbschwergewichtler, eingeladen, mit dem deutschen »Arbeiter-Athletenbund« an den Allunionswettkämpfen in Moskau teilzunehmen. Droas will ihn davon abhalten, versorgt ihn mit antisowjetischen Schriften der SPD-Parteiführung. Seelenbinder schwankt. Aber Rochler überzeugt ihn: »Wenn die Sowjetunion wirklich so schlecht, so arbeiterfeindlich, so menschenfeindlich ist, warum will dann Erwin verhindern, dass du dich von diesen Tatsachen überzeugst?« Seelenbinder fährt.

Die vier Wochen »Spartakiade« werden zur Zerreißprobe. Denn bei ihrem IV. Kongress in Helsinki verbietet die Sozialistische Arbeitersportinternationale ihren Mitgliedern, zu denen auch der Arbeiter-Athletenbund Deutschland gehört, die Spartakiadeteilnahme im Folgejahr. Wer sich widersetzt, dem droht der Ausschluss. Noch in Moskau verspricht Seelenbinder, im nächsten Jahr wieder anzureisen – und zwar in Teamstärke. Nach Deutschland zurückgekehrt, tingelt er durch die Vereine, um von der Sowjetunion zu berichten. Als 1928 das sowjetische Motorschiff »Rykow« in Stettin anlegt, um die deutsche Delegation an Bord zu nehmen, warten am Kai rund 200 Mann.

Bei der »Weltmeisterschaft der roten Arbeitersportler« siegt Seelenbinder in seiner Gewichtsklasse. Er zeigt sich stark beeindruckt, so Paul Behring, der langjährige »Leiter der Kommission für Forschungsfragen zur Geschichte des antifaschistischen Widerstands in Berlin«, »dass hier die Löhne gestiegen und die Preise gesunken« sind. So etwas gebe es im Kapitalismus nicht. Wieder zurück in Berlin begibt er sich zu einer KPD-Versammlung im damaligen Parteilokal der Zelle in der Elisabethstraße nahe dem Alexanderplatz, um über seine Erlebnisse zu sprechen. Anschließend als Nichtmitglied aufgefordert, für den internen Teil des Treffens das Lokal zu verlassen, bittet Seelenbinder spontan um Aufnahme. Die gesamte Versammlung bürgt für ihn.

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Werner Seelenbinder (2. August 1904 – 24. Oktober 1944)

Der Aufstieg der KPD und ihr wachsender Einfluss im sich offen zur SPD bekennenden Arbeiter-Turn- und -Sportbund (ATSB) führt zu Konflikten. Sie münden im Oktober 1928 im Ausschluss kommunistisch getragener Vereine, Sportler und Sportfunktionäre. Bis 1932 sind das etwa 32.000 Athleten. Seelenbinder ist dabei, als im Mai 1929 in Fürstenwalde die »Interessengemeinschaft zur Wiederherstellung der Einheit im Arbeitersport« beschlossen wird. Die Krise hat ihn arbeitslos gemacht. 1930 gründen die Kommunisten schließlich die »Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit«, kurz: »Rotsport«, der schon ein Jahr später mehr als 100.000 Aktive angehören. Seelenbinder wird Leiter des Landesverbands Berlin und Brandenburg. Einheit im Arbeitersport aber gibt es nicht mehr. 1931 nimmt Seelenbinder wieder an der Spartakiade teil. Sie findet diesmal vom 4. bis 12. Juli in Berlin statt. Sechs Tage später beginnt in Wien die sozialdemokratische Arbeiterolympiade.

Reichsinnenminister Severing verbietet die Berliner Spartakiade. Die Arbeitersportler kommen trotzdem. »In allen Stadtbezirken«, schreibt Radetz, findet Sport statt. »Die Polizei macht fieberhaft Jagd auf die Träger des Spartakiadenabzeichens. Wenn ein Schnellkommando bei einer Straßendemonstration oder auf einem kleinen Sportplatz erscheint, werden die Abzeichen verborgen, und die Demonstranten verwandeln sich in neugierige Passanten. Ist die Zuschauermenge auf einem Sportplatz größer, lassen sich die Sportler verhaften und auf Lastwagen verladen. Unter Aufsicht der Polizei singen sie Lieder auf den offenen Wagen und machen die Verhaftung (zur) Demonstration.« Seelenbinder ist mittendrin. Auch als die Rotsportler mit Gesängen im überfüllten Polizeigefängnis am Alexanderplatz weiterfeiern und die Behörden die Party nach drei Stunden per Entlassung aller Gefangenen auflösen.

Aber zuletzt lachen andere: Der Faschismus wird stärker. Bei der Novemberwahl 1932 klebt Seelenbinder Plakate, pinselt Parolen, schützt »Parteilokale, die Büros der Kampfgemeinschaft und die Übungshallen der Arbeitersportvereine«. Einen KPD-Landtagsabgeordneten geleitet Seelenbinder vier-, fünfmal die Woche sicher nach Hause, denn die Sportler haben nach SA-Überfällen »den Schutz der Abgeordneten übernommen«. Bei der Wahl bekommt die KPD fast sechs Millionen Stimmen, ihr bestes Ergebnis.

Am 30. Januar 1933 überträgt Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler die Macht. Seelenbinder will nach Vorbild des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch kämpfen. Dazu kommt es nicht. Die Arbeiterbewegung ist gespalten. Die KPD hat ihre Stärke bei Erwerbslosen und ist alleine nicht generalstreikfähig. Auf Drängen der Partei setzt Seelenbinder seine Sportlerkarriere in der bürgerlichen »Sportvereinigung Ost« fort, die an der Landsberger Allee trainiert. Das Ziel: in die Ländermannschaft des faschistischen Deutschlands zu kommen und die vielen Auslandsfahrten in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele, die 1936 in Berlin stattfinden werden, für Kurierfahrten zu nutzen.

Noch im selben Jahr gelingt der Coup. Seelenbinder wird Brandenburgischer Meister und erhält so die Zulassung zur Deutschen Meisterschaft, die die »Sportvereinigung Ost« im Saalbau Friedrichshain ausrichtet. Seelenbinder ist in Bestform. Den ersten Kampf gewinnt er nach nur 59 Sekunden, den zweiten nach anderthalb Minuten. Hunderte Arbeitersportler haben sich unter die fast 3.000 Zuschauer gemischt. Werner verliert nur einen einzigen Kampf nach Punkten und wird, »mit drei Fehlpunkten belastet«, tatsächlich Deutscher Meister im Halbschwergewicht. Bei der Siegerehrung wird das »Deutschlandlied« abgespielt, der Saal erhebt sich und streckt den rechten Arm zum Hitlergruß aus. Auch die unterlegenen Kontrahenten. Aber Seelenbinder hält mit beiden Händen seinen Pokal vor die Brust und presst die Lippen zusammen. Mitten in der Hymne provoziert er damit Beifall von den Rängen.

Acht Tage später kommt die Quittung: Seelenbinder wird ins berüchtigte Konzentrationslager Columbiahaus am Tempelhofer Feld verschleppt und aus der Sportvereinigung ausgeschlossen. Zugleich aber bewahrheitet sich die Annahme der Partei, dass Seelenbinder »als Spitzensportler (…) für die Nazis ein Nationalheld werden« könne, weshalb sie ihn schützen würden, und »je mehr sie dich schützen, um so mehr kannst du uns helfen«. Die Gestapo foltert ihn nicht. Mehr noch: Der illegalen Partei gelingt tatsächlich eine Kampagne zu Seelenbinder Wiederaufnahme. 1935 wird er erneut Deutscher Meister. Er muss damit zu den Vergleichskämpfen in Schweden in Vorbereitung von Olympia mitgenommen werden. Auch bekommt er nach sechs Jahren Arbeitslosigkeit und entwürdigender Hilfsarbeitstätigkeit eine neue Anstellung im riesigen AEG-Werk in Treptow, wo er eine KPD-Zelle aufzubauen hilft.

Im Auftrag der Partei plant Seelenbinder das ganz große Ding – im Wissen um die Lebensgefahr, in die er sich begibt. Die Olympischen Spiele sollen das Prestige Nazideutschlands im westlichen Ausland mehren und mit schönem Schein die Diktatur überstrahlen. Seelenbinder soll zeigen, dass es »ein anderes, antifaschistisches Deutschland« gibt. Sein »Kampfauftrag« sieht vor, dass er »alle Kraft darauf konzentriert, bei den Olympischen Spielen Medaillengewinner zu werden«, wie es in der Biographie von Radetz heißt. Der Rundfunk plant, diese in Direktsendungen, an die fast alle europäischen Rundfunkstationen angeschlossen sein werden, zu interviewen. Werner soll die Chance nutzen, die Wahrheit über Nazideutschland zu verbreiten. »Eine Technikergruppe beim Rundfunk, die dem illegalen Widerstandskampf angehört«, will »garantieren, dass das Interview ungehindert in den Äther geschickt« wird. Seelenbinder ist begeistert. Zugleich weiß er um das Risiko. Auch wenn Vorkehrungen getroffen werden, ihn im Anschluss mit einer »Gruppe schwedischer Sportler« außer Landes zu bringen, stehen die »Chancen, nicht erneut in die Hände der Gestapo zu geraten«, äußerst schlecht.

Der Plan misslingt, allerdings schon vorher. Denn Seelenbinder wird aufgrund unglücklicher Umstände nur vierter. Anschließend lebt er sein Doppelleben weiter. Er ist ein beliebter Sportler, wird auch 1937 wieder Deutscher Meister, reist sogar nach Finnland und arbeitet zugleich für die illegale Partei. Ab 1938 wird er Teil der Widerstandsgruppe von Robert Uhrig. Diese hat bis 1940 in fast allen Berliner Großbetrieben Zellen gegründet. Die Genossen unternehmen, schreibt Radetz, »den Versuch, dem deutschen Volk den Weg zu weisen, aus eigener Kraft mit dem Krieg Schluss zu machen und den Hitlerfaschismus zu stürzen. Ihre Tage sind mit mühevoller, unablässiger Kleinarbeit ausgefüllt. Vor allem müssen die Menschen gewonnen werden.«

Am 4. Februar 1942 wird die Gruppe Uhrig verraten, fast alle Mitglieder verhaftet. Seelenbinder wird in der Glatzer Straße festgenommen. In der Gestapo-Haft in der Burgstraße in Mitte wird er acht Tage lang gefoltert, weil er als einziger weiß, wo sich der untergetauchte Alfred Kowalke versteckt. Aber er bricht nicht zusammen. Nun beginnt eine Odyssee durch Haftanstalten: Alexanderplatz, Lehrter Straße und im Winter 1942/43 Arbeitserziehungslager Wuhlheide. Ein Mithäftling dort ist der kommunistische Mediziner Georg Benjamin, Walter Benjamins Bruder und Ehemann der »roten Hilde« Benjamin, der späteren DDR-Justizministerin. In Wuhlheide muss Seelenbinder »Kanalisationsleitungen verlegen und Brandschutzgräben an den Eisenbahndämmen ausheben«. Die Gefangenen bildeten hier ein illegales Lagerkomitee. Zum Lebensanker während seines 33monatigen Martyriums wird Friedel Schirm, die ihn, den Ledigen, unter dem Vorwand, seine Frau oder eine Verwandte zu sein, regelmäßig besucht und dabei auch Nahrungsmittel vom Schwarzmarkt mitbringt.

Das Lagerkomitee plant Fluchtvorbereitungen. Doch Häftlinge werden verlegt, die Gruppe wird getrennt. Nach mehreren weiteren Stationen kommt Seelenbinder im September 1944 ins Zuchthaus Brandenburg-Gören. Hier wird er, während die Rote Armee in Ostpreußen begonnen hat, auch Deutschland vom Faschismus zu befreien, am 24. Oktober enthauptet. Zuletzt wiegt der Halbschwergewichtler nur noch 132 Pfund. In seinem Abschiedsbrief schreibt er: »Lieber Vater, Geschwister, Schwägerin und Friedel! Die Stunde des Abschieds ist nun für mich gekommen. Ich habe in der Zeit meiner Haft wohl alles durchmachen müssen, was ein Mensch durchmachen kann. Krankheit, körperliche und seelische Qualen, nichts ist mir erspart geblieben. Ich hätte so gerne gemeinsam mit Euch, mit meinen Freunden und Sportkameraden die Köstlichkeiten und Annehmlichkeiten, die das Leben nach dem Kriege zu bieten hat und die ich jetzt doppelt zu schätzen weiß, erlebt (…). Das Schicksal hat es nun leider nach furchtbarer Leidenszeit anders über mich bestimmt. Ich weiß aber, dass ich in Eurem Herzen und dem vieler Sportkameraden einen Platz gefunden habe, den ich immer darin behaupten werde. Dieses Bewusstsein macht mich stolz und stark und wird mich in der letzten Stunde nicht schwächer finden.«

Aus seiner Todeszelle soll Seelenbinder den anderen Häftlingen kurz vor seiner Hinrichtung zugerufen haben: »Genossen! Hier spricht Seelenbinder! Heute Mittag werden wir hingerichtet. Wir sind stark geblieben. Bleibt auch ihr stark! Hitler geht unter. Grüßt die Genossen der Roten Armee!«

Ingar Solty, geboren 1979 in Meinerzhagen, ist Politikwissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Internationale Politische Ökonomie, Politische Soziologie, Politische Theorie und Politische Ästhetik. Er ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Zentrum für Gesellschaftsanalyse und politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Autor. In Kürze erscheint sein neues Buch »Der postliberale Kapitalismus: Renationalisierung – Krise – Krieg« im Papyrossa-Verlag

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  • Leserbrief von Andrea Scholz (29. Oktober 2024 um 16:41 Uhr)
    Guten Tag, auch die Mutter von Werner Seelenbinder hatte einen Namen!

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