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Aus: Ausgabe vom 21.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theorie

Denkfabrik aller Lukreze

Günter Pohls zweiter Band zu Philosophie und Politik ist ein Buch der Änderungen
Von Arnold Schölzel
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Das Grab von Abaelard und Heloise auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris

Bertolt Brechts »Flüchtlingsgespräche« gehören zu den wenigen literarisch-philosophischen Dialogen, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden. Die beiden Akteure Kalle und Ziffel erörtern darin u. a. den Humor zusammen mit der Dialektik Hegels, der »das Zeug zu einem der größten Humoristen unter den Philosophen gehabt« habe, »wie sonst nur noch der Sokrates«. Hegel habe sich Ordnung nicht ohne Unordnung denken können, sogar an ein und demselben Platz, etwa im Staat, dessen Harmonie von der Disharmonie der Klassen lebe. Er habe bestritten, dass eins gleich eins sei, »nicht nur, indem alles, was existiert, unaufhaltsam und unermüdlich in was anderes übergeht, und zwar in sein Gegenteil, sondern weil überhaupt nichts mit sich selber identisch ist«.

Übergängen von allem und jedem in andere (Aggregat-)Zustände, also mit Komik und Tragik vollgesogenen Vorgängen, widmen sich die beiden rheinischen Dialogpartner Myop und Noem in Günter Pohls Buch »Das Mädchen auf dem Ei«. Erklärtes Vorbild für ihr Gespräch ist aber nicht der von ihnen geschätzte Brecht, sondern der auch von jenem hoch angesehene Enzyklopädist Denis Diderot (1713–1784), genauer: dessen Roman »Jacques der Fatalist und sein Herr«. Myop und Noem arbeiteten sich schon in Pohls »Der Mann mit den Müll­säcken« (2022) nach dessen Maßgaben durchs Dickicht von Philosophie, Geschichte und Zuständen. Beide Bände eint der Ober- oder Untertitel »Von der Ordnung der Welt«. »Das Mädchen auf dem Ei« bezieht sich auf ein Porträt der Heloise, deren Briefwechsel mit ihrem Geliebten und Ehemann, dem Theologen Abaelard, über Jahrhunderte hinweg beide zum Inbegriff eines Liebespaars machte – vergleichbar mit Shakespeares Romeo und Julia. Eine angedeutete vertrackte Liebesaffäre gehört in diesem Band auch dazu, wenn auch nicht wie vor 900 Jahren kastriert wird.

Materialistisch-praktisch aber soll es dem Autor in seiner »Denkfabrik aller Lukrez’ und Konsorten« zufolge schon zugehen: gegen Mythen und die »Flucht ins Außermaterielle«, den Irrationalismus des Kapitalismus und der FDP, den der Rechten, der AfD, gegen Kolonialismus und Patriarchat. »Subjektiv« seien wir, meint Noem, »in der Epoche des Widerstreits von Rationalismus und Irrationalismus«. Letzterer müsse »so weit wie möglich zurückgedrängt werden, bevor es wieder um den sozialen Fortschritt gehen kann«. Pohls Debattierer befinden sich, wie alle Vernünftigen, im eigenen Land im Exil. Dazu noch einmal die »Flüchtlingsgespräche«: »Die beste Schule für Dialektik ist die Emigration. Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge. Sie sind Flüchtlinge infolge von Veränderungen und sie studieren nichts als Veränderungen. Aus den kleinsten Anzeichen schließen sie auf die größten Vorkommnisse.« Passend dazu drohte der deutsche Verfassungsschutzchef am 13. ­Februar – angeblich gegen Rechtsextremisten gewandt –, »verbale und mentale Grenzverschiebungen«, also nicht Straftatbestände, gesinnungspolizeilicher Bearbeitung zu unterziehen, also alle Grenzen liberaler Rechtsordnung hinter sich zu lassen.

Pohl ist in diesem Sinn ein Grenzverschieber, wenn er einleitend ein Wort von Karl Marx über Revolutionen aufgreift und Übergänge »Lokomotiven der Geschichte«, aber auch deren »Mahlsteine« nennt – »die der Stofflichkeit einerseits wie auch jene der sozialen Haltungen und damit der gesellschaftlichen Formierungen andererseits«. Das klingt mehr nach vordialektischem Materialismus, als es hier vonstatten geht, hat aber zur Folge, dass es innerhalb weniger Zeilen um das mittelalterliche Schriftstellerpaar Heloise und Abaelard, um die KP Chinas und ihren 100-Jahr-Plan, die merkwürdigen Verhaltensweisen von Glas (der vom Niederrhein stammende Pohl arbeitet seit mehr als 30 Jahren Glashandwerker – als Gestalter und Restaurator – und zugleich als politischer Fachmann für Lateinamerika), das Zeitkontinuum, den Urknall und den heiligen Augustinus gehen kann – ergänzt um wichtiges zur »Unsterblichkeit des Rheinländers«, die abhängig ist von der Vollendung des Kölner Doms. Den einen, Noem, interessieren an all dem »Erlangung der Hegemonie / Übernahme der Macht / gefestigte sozialistische Gesellschaft«, den anderen, Myop, »in Sachen revolutionärer Geduld« der Kathedralenbau, »was meint, etwas im Vertrauen darauf zu beginnen, dass andere Generationen es beenden werden«. Die falsche Annahme, »dass gesellschaftliche Prozesse – sofern sie fortschrittlich sind – unumkehrbar, irreversibel sind« sei umgekehrt, meint Noem, auf »das zuweilen unzureichende Verständnis der Revolutionäre für die Bedeutung der Übergänge« zurückzuführen.

So geht Denken, das ändern will: gedanklich streng, aber mit leichter Hand.

Günter Pohl: Das Mädchen auf dem Ei. Von der Ordnung der Welt (VdOdW), Sprockhövel 2023, 254 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-00-074931-5, vdodw.de

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