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Aus: Ausgabe vom 22.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Nehmen und stehlen

EU-Finanzierung des Ukraine-Kriegs
Von Jörg Kronauer
RUSSIA-CENBANK.JPG
Sitz der russischen Zentralbank in Moskau

Woher nehmen und nicht stehlen? Das war mit Blick auf die immensen Kosten des Ukraine-Kriegs eine der zentralen Fragen, mit denen sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem aktuellen Gipfeltreffen bereits am Donnerstag befassten. Schon die viele Munition und die Waffen sind extrem teuer, doch sie sind ja bekanntlich bei weitem nicht alles; Millionen ukrainische Flüchtlinge müssen versorgt, der Kiewer Staatsetat muss mit gewaltigen Summen notdürftig gestützt werden. Kurz vor dem Gipfel, am Mittwoch, zahlte Brüssel die ersten 4,5 von den insgesamt 50 Milliarden aus, die es Kiew bis inklusive 2027 zur Verfügung stellen will – ein Tropfen auf den heißen Stein, und schon der Beschluss darüber war am 1. Februar nur mit Hängen und Würgen nach aufreibenden Auseinandersetzungen zustande gekommen. Klar ist dabei: All das reicht, zumal die USA als Finanzier wohl ausfallen, noch längst nicht aus.

Und nun? Was bleibt, sind vor allem Appelle und das Schleifen von Tabus. Was die Appelle anbelangt, spielen Berlin und Paris wieder einmal Pingpong. Kanzler Olaf Scholz forderte in Brüssel im Ton des heldenhaften Mahners die anderen Staats- und Regierungschefs auf, doch gefälligst ein wenig mehr für die Ukraine zu zahlen. Nun sind allerdings gerade die nach Deutschland wirtschaftsstärksten EU-Staaten, Frankreich und Italien, stark verschuldet und müssen ohnehin knapsen. Präsident Emmanuel Macron plädierte denn auch dafür, für die Ukraine ein neues EU-Schuldenprogramm aufzulegen; damit jedoch stieß er beim gefühlten Austeritätsweltmeister Berlin auf harten Widerspruch. Konsensfähig schien es zu sein, die Europäische Investitionsbank (EIB) aufzufordern, künftig auch für Rüstungsprojekte Geld zur Verfügung zu stellen. Bislang tut sie das nicht – aus ökonomisch gutem Grund: Rüstung gilt als, nun ja, nicht nachhaltig; manche fürchten jetzt um die Bonität der EIB.

Weil das aber alles hinten und vorne nicht reicht, wird bereits seit längerem ein weiterer Schritt diskutiert – der Zugriff auf die in der EU eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank, immerhin etwa 210 Milliarden Euro. Fremde Staaten eigenmächtig zu enteignen, das ist in dieser Form neu. In einem ersten Schritt sollen die Zinsen aus den Guthaben beschlagnahmt werden – »Erträge, die niemandem zustehen«, behauptete Scholz in einer überraschenden Interpretation des bürgerlichen Eigentumsrechts. Manche EU-Staaten widersetzten sich der neuartigen Scholz-Doktrin am Donnerstag noch. Sollte sie sich durchsetzen, dann darf man gespannt sein, wie Moskau mit – dann vermutlich ebenso herrenlosen – Erträgen von EU-Firmen in Russland umgehen wird. Nehmen und stehlen – wer das zum Prinzip erhebt, reißt einen weiteren Teil der bürgerlichen Ordnung ein, und das nach Lage der Dinge nicht zugunsten des Fortschritts, sondern der Barbarei.

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  • Leserbrief von Paul Vesper aus 52062 Aachen (23. März 2024 um 13:06 Uhr)
    Der Akt des Stehlens von ausländischem Eigentum, seien es Finanzmittel oder Realwerte, gilt im internationalen Recht als implizierte Kriegserklärung gegenüber dem Eigentümerstaat, ebenso wie ein Einmarsch in sein Staatsgebiet. Hier braucht es keine formale Kriegserklärung. Das ist im internationalen Recht nicht bestritten. Dies ist auch der Grund, weswegen die NATO-Staaten sich schwer damit tun, diesen Diebstahl umzusetzen. Sie befänden sich dann automatisch im Krieg mit der Russischen Föderation, mit allen Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung auf dem eigenen Territorium mit dem russischen Raketenarsenal. Noch hat man Bedenken in Brüssel. Der Faschisten-Club in Kiew hat diese Bedenken nicht. Er steht mit dem Rücken zu Wand. »Vae victis« (Wehe den Besiegten), sagten die Römer.
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. März 2024 um 09:57 Uhr)
    Gegenüber einem kommunistischen oder einem Land, das sein Recht an der Scharia ausgerichtet hat, in dem Zinsen nicht existieren dürfen, könnte es noch akzeptabel sein, Zinsen zu beschlagnahmen. Doch Russland, als kapitalistischer Staat, betrachtet die Zinseszinsen seines Guthabens als sein eigenes Kapital, sowohl rechtlich als auch wirtschaftlich, ganz zu schweigen hier von seiner Machtposition.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. März 2024 um 13:24 Uhr)
      Ihr Gedanke ist interessant: Es könnte schon rechtens sein, Leute zu beklauen, deren Weltanschauung einem nicht in den Kram passt. Könnten Sie bitte die Gedankenkette, die Sie zu dieser revolutionären Idee geführt hat, etwas ausführlicher darstellen? Sie würden damit gewiss zu einem aussichtsreichen Kandidaten für den nächsten Wirtschaftsnobelpreis.
      • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. März 2024 um 14:24 Uhr)
        Natürlich habe ich es satirisch gemeint, obwohl ich es weiß, wenn einer in Deutschland eine gute satirische Pointe macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel. Es macht nichts!
        • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (22. März 2024 um 14:59 Uhr)
          Da werden Sie lange suchen müssen, jemanden zu finden, der Ihnen das als Satire durchgehen lässt. Joachim S. hat diesen Antikommunismus und den kolonialistischen Gestus noch höflich kommentiert.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (22. März 2024 um 03:04 Uhr)
    Dann »darf man gespannt sein, wie Moskau mit – dann vermutlich ebenso herrenlosen – Erträgen von EU-Firmen in Russland umgehen wird«. Es sind nicht nur Erträge, sondern auch Teile von Firmen selbst, Immobilienbesitz usw. Russland wird sicher zunächst den offiziellen Rechtsweg beschreiten. Angesichts der Höhe der Summe fallen dann enorme Anwalts- und Gerichtskosten an. Da dieser Raub eindeutig rechtswidrig wäre, ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland trotz aller Voreingenommenheit auch bei Gerichten in dem Fall dennoch Recht bekommt. Der rechtlichen Manipulation sind dann doch gewisse Grenzen gesetzt. Sonst macht sich die Justiz einfach nur noch lächerlich. Wenn Russland Recht bekäme, könnte dies zum Zusammenbruch der belgischen Clearinggesellschaft Euroclear führen, die die russischen Gelder verwahrt, und deren Rettung sehr kostspielig sein könnte. Es könnte im Westen durch Dominoeffekte eine schwere Finanzkrise auslösen wie beim Zusammenbruch von Lehman brothers. Das wäre aus russischer Sicht nicht gerade ungünstig. Die westlichen Länder müssen diese Bank retten, zahlen die Gerichtskosten und schrecken andere Länder ab, ihr Geld künftig bei Ihnen anzulegen und erpressbar zu werden. Dies wird den Euro unter Druck setzen und die Abkehr vom Dollar fördern, das letzte Vertrauen in die Vertragstreue des Westens dann wirklich ruinieren. Baerbock hatte schon recht. Es fragt sich nur, wer ruiniert wird. Ohne die Dollarabhängigkeit beim internationalen Handel bricht das nur aus Schulden bestehende Kartenhaus USA zusammen. Sie sägen also kräftig an dem Ast, auf dem sie sitzen. Erhält Russland kein Recht, dann wäre dies rechtswidrig. Erst dann wird Russland im Gegenzug die besagten westlichen Aktiva beschlagnahmen. Ihre Besitzer werden im Westen Schadenersatz fordern. Der Westen wird so oder so bezahlen und verliert Vertrauen. Russland verliert so oder so nichts, denn in Russland werden auf absehbare Zeit ohnehin keine westlichen Investitionen vorgenommen.
    • Leserbrief von Franz Döring (22. März 2024 um 11:03 Uhr)
      Ich bin anderer Meinung! Sie behaupten, dass Russland nichts verlieren würde! Sind die aber und aber Milliarden in Dollar und Euro angelegten Gelder kein Verlust für Russland? Darum geht es doch letztendlich bei dieser Angelegenheit!
      • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (22. März 2024 um 11:30 Uhr)
        Die westlichen Aktiva in Russland belaufen sich, jedenfalls nach russischen Angaben, in einer Höhe, welche die vom Westen einbehaltenen 300 Milliarden übersteigt. Und falls doch nicht ist der Reputationsverlust des Westens für Russland eine schier unbezahlbare Hilfe. Außerdem haben die durch Sanktionen erhöhten Energiepreise bereits jetzt die 300 Milliarden für Russland wieder wett gemacht. Für den Westen passt das Sprichwort: »Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein«.
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (21. März 2024 um 22:06 Uhr)
    Die vorgesehenen Raubrittermethoden werden langfristig Folgen haben, auch wenn sie kurzfristig so Geld in die leeren Kassen füllen werden. Viele Staaten werden sich nun gründlich überlegen, ob sie noch fernerhin Staatsgelder auf ausländischen Banken deponieren werden. Groß ist nämlich die Gefahr, dass ihnen Ähnliches blüht wie nun dem russischen Staat, der wohl ein wenig blauäugig derlei kriminelles Handeln den Wertewesten einfach nicht zutraute. Einer kommunistisch ausgerichteten Staatsführung wäre wohl diese Gutgläubigkeit nicht unterlaufen. Nun wird es anderen Staaten indes eine Lehre sein, äußerst wachsam gegenüber der imperialistischen Räuberbande zu sein, die da was von Menschenrechten, Humanität und Rechtsstaatlichkeit usw. theatralisch daher säuselt.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude, Russland (22. März 2024 um 11:59 Uhr)
      »Groß ist nämlich die Gefahr, dass anderen Staaten Ähnliches blüht wie nun dem russischen Staat, der wohl ein wenig blauäugig derlei kriminelles Handeln den Wertewesten einfach nicht zutraute.« Rationalität kommt eben mit irrationalen Entscheidungen schwer zu recht. Der Diebstahl der 300 Milliarden kommt ja einem Selbstmord des Dollar-geführten Finanzsystems gleich. Die USA und auch die EU sind doch davon abhängig, dass andere Länder von ihnen bedrucktes Papier kaufen (Staatsanleihen), dessen Papierwert nur unwesentlich über dem von Toilettenpapier liegt, weil sie Vertrauen in dieses System haben. Ohne dieses Vertrauen bricht alles zusammen. Außerdem sind 300 Milliarden nicht mal eben schnell per Klick nach Russland zu überweisen. Das Geld ist teilweise langfristig angelegt. Da gibt es Fristen, wann es wieder verfügbar ist. Allein die Tatsache, dass dieses Geld noch da lag, beweist, dass Russland keinen Krieg mit der Ukraine plante, sondern durch die vom Westen bewusst herbeigeführte Verschärfung im Donbass kurzfristig dazu gezwungen wurde. Das lief dann zunächst auch in Teilen ungeplant ab, wie spätere Rückzüge bewiesen. Ich erinnere mich an die Aussage eines hiesigen Militärs: »Wir sind erst einmal so weit vorgerückt, wie wir irgend konnten, ohne groß daran zu denken, wie dieser Geländegewinn zu halten ist.« Hätte Russland – wie behauptet – die »Ukraine vernichten« wollen, dann hätte dieses Geld auch nicht mehr zum Zeitpunkt dieser Vernichtung im Westen gelegen. Es gab einen solchen Plan nicht.

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