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Aus: Ausgabe vom 27.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Verschaukelei des Tages: Einheitswippe

Von Arnold Schölzel
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Der schlechte Witz begann beim Namen: »Freiheits- und Einheitsdenkmal« sollte heißen, was 1998 als »Denkmal des historischen Glücks und der Freudentränen« aufs Tapet und 2000 in den Bundestag kam, wo 2007 der Bau beschlossen wurde. Da ballerte die Bundeswehr schon sechs Jahre für Landesverteidigung am Hindukusch – Deutschland wieder im Glück. 2009 brach die Jury den ersten Wettbewerb wegen zu vielen Schrottentwürfen ab, dann holte eine begehbare Schale von 50 Meter Länge, 150 Tonnen Gewicht und 700 Quadratmetern begehbarer Fläche mit Platz für 1.400 Menschen den Sieg. Zum Krieg war inzwischen die Weltwirtschaftskrise getreten – Freudentränen überall. Nach allerhand Baustopps und Lustlosigkeit sollte die »Metapher aus Edelstahl« (RBB 24 Inforadio) 2019, 2020, 2022 usw. fertig werden. Am Dienstag meldeten Berliner Lokalmedien: Der Direktor der »Stiftung Berliner Mauer«, Axel Klausmeier, habe am Montag am Rande einer Pressekonferenz zu »35 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall« gemeint, die Wippe müsse neu ausgeschrieben werden. Im Februar ist nämlich die ostwestfälische Stahlbaufirma in Insolvenz gegangen, die schon 120 Tonnen gewuppt hat, aber die nicht rausrücken will.

Das ist ein Zeichen, endlich der »Zeitenwende« künstlerisch Genüge zu tun. Aus der Wippe lässt sich mit Leichtigkeit zum Beispiel unser »Super-Tool«, ein oben offener TAURUS-Marschflugkörper schmieden. Beim Runterschaukeln (wahlweise Sturzflug) könnten Doppelwummse die Glücks- und Freudentränen begleiten, etwa bei »­TAURUS im Kreml« oder »­TAURUS in Kaliningrad«. Statt Blücher, Scharnhorst und Gneisenau gehören Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Boris Pistorius auf Podeste Unter den Linden, wo endlich Panzerparaden stattfinden müssen. Heißt das Ganze schließlich »Kriegstüchtigkeitsdenkmal«, ist der Witz hinreichend blutig.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (28. März 2024 um 15:54 Uhr)
    Es ist zutreffend, was Arnold Schölzel schreibt. Generationen, die bewusst die Freiheits- und Einheitseuphorie hautnah verfolgen durften, wissen um die Steigerungsstufen vermeintlichen Freiheitsglücks, wissen um wirrste Freiheitsvorstellungen. Mit Abstand von über drei Jahrzehnten dürften unvoreingenommene Zeitzeugen und Beobachter wahrgenommen haben, was von dem bejubelten konkreten Freiheits-, Menschenrechts-, Demokratie- oder Einheitsglück geblieben ist, wem alle Erwartungen wahr geworden sind und wer sich unter den Enttäuschten sah. Die im Dunklen sieht man nicht. Sie kommen nicht vor, bei »Freiheits- und Einheitsdenkmalen«, der Wippe der Verschaukelten. »Glücks- und Freudentränen« sind nicht zu leugnen, zumal sie alljährlich reichlich in Endlosschleife gezeigt werden. Den zahlreichen »Verschaukelten«, die nicht wegzureden sind, bekommen übliche zynismusgetränkte Marktwirtschaftssprüche. In Erinnerung darf heute nicht gerufen werden, dass es keinen Machtanspruch mehr gebe, keine Krisen, keine Feindbilder mehr sein könnten, nur Demokratie und Recht bestehen werde, von der gepriesenen Meinung der Andersdenkenden ganz zu schweigen oder gar den Schmieden der Schwerter zu Pflugscharen.
    Wie beträchtliche Teile des Volkes nach 1989 bis heute zum Ausdruck bringen, dazu muss nur den Menschen aufs Maul geschaut werden. Daran ist nichts zu erfinden, schönzureden, es kann wohl nicht gern gehört werden. Gemessen an den großen Voraussagen ist bis heute nicht nur nicht viel Demokratie und Freiheit geblieben. Menschenrechte sind einem unvorstellbaren Menschenhass gewichen. Unzufriedenheit ist heute nicht an Banane oder anderen DDR-typischer Unzufriedenheit zu messen. Sind es keine beträchtlichen Unzufriedenen, die seit Jahren zunehmend Protest auf die Straßen tragen und das trotz der angeblich demokratischen und freiesten Wahlen? Hatte die DDR nur Millionen existentiell Unzufriedene? Wie 1989 die wenigsten Kapitalismus wollten, wollen Mehrheiten keinen DDR-Sozialismus zurück. Nicht zu leugnen aber, das Wir (!) in einer DDR haben viele in bester Erinnerung gegenüber dem gnadenlosen Ich-Ego dieser Gesellschaft. Wenn viele Helden und Revolutionäre heute mit der Entwicklung hadern, ist es zu verstehen, wie zu verstehen ist, auch hier und heute gibt es zufriedene Menschen wie in einer DDR. Friedliche Revolution hier und heute spielen zu wollen, das dürfte ungleich schwieriger werden. Noch ist Gleichgültigkeit übermächtig, das individualistische Denken und Handeln, was Mehrheiten schnell wieder ergriffen hat. Was interessiert das Unglück, Sorge, Not, Armut, Schicksal der anderen, was interessieren die Schlachtfelder der Welt, solange es ich sie nur im Wohnzimmer sehe. Was interessieren Lebensumstände in fernen und fremden Ländern, an denen wir unseren Anteil haben.
    Mensch, Menschsein, menschlich denken und Handeln ist etwas, was in dieser Gesellschaft nicht vorgesehen ist und so begegnen uns auch heute mehr Leute als Menschen, Leute, die weit entfernt davon sind, das Wort »Mensch« zu erfassen, womit sich große Denker schon Jahrtausende beschäftigt haben. Es hat Generationen in Deutschland gegeben, die zumindest einen Blick in eine andere Zukunft gewagt haben, das Gespür empfunden, erahnt haben, was Menschwerdung heißt, eine Zufriedenheit, die viele bleibend in sich tragen.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (28. März 2024 um 03:28 Uhr)
    Schwerer als die Pannen wiegt, dass dieses Denkmal inhaltlich eine Fassade im orwellschen Sinn darstellt. Wir kennen ja die im Bundestag verabschiedeten Gesetze und gehaltenen Reden, deren Überschriften frei nach Orwell das Gegenteil dessen aussagen, was dann folgt, z. B. »Sondervermögen«, statt »Sonderschulden«,»Zeitenwende«, obwohl der Ukraine-Krieg genau das nicht ist,da der Jugoslawienkrieg der erste Krieg nach 1945 in Europa war, der mit deutscher Beteiligung stattfand. Die Wippe erzeugt die Illusion, eine Einzelperson könne mit ihrem Wissen, ihrer Lebenserfahrung, vor allem ihrer Wählerstimme etwas bewirken und das Gewicht der Wippe in eine andere Richtung verlagern, und zwar eine Person – egal ob sie aus dem Westen oder dem Osten Deutschlands stammt. Sie steht vor einer Schlossattrappe, die kein Schloss ist, und symbolisiert als Attrappe eine deutsche Einheit, die es seit 1990 nie gab. Architektonisch könnte es keine bessere Zusammenstellung geben. Hut ab! 1990 standen auf dieser Wippe allerdings 80 Prozent der Bevölkerung westdeutsche Wähler mit ihren Anschauungen, Lebenserfahrungen insbesondere im sozialen und Arbeitsbereich, ihrem Geschichtsbild, ihren mehrheitlich US-freundlichen und antirussischen Prägungen 20 Prozent ostdeutscher Bevölkerung gegenüber, deren Lebensweg teils ganz andere Ansichten prägten. Wer sich da als Ostdeutscher auf eine solche sogenannte Einheitswippe stellte, im Verhältnis von 1:4 (zufällig der frühere Schwindelkurs zur DM), den ließ man oben zappeln, wie einst auf dem Kinderspielplatz. Nur war (und ist) es in diesem Fall kein Spiel, sondern Lebensernst. Kader aus dem Westen bestimmen mit erdrückendem Übergewicht. Selbst im Vergleich zu 20 Prozent Bevölkerungsanteil ist bis zum heutigen Tag der Anteil der Ostdeutschen in allen Positionen, wo die Entscheidungen getroffen werden, beschämend gering (Herkunft der Ministerpräsidenten, Minister, Staatssekretäre, Führung in Justiz, Bundeswehr, Universitäten, Besetzung von Professuren, Spitzenverteilung der Leitung der Dax-Konzerne, Geheimdienst, Leitung der Fernseh- und Rundfunkstationen sowie der übrigen Hauptmedien usw.). Diese Wippe ist ein orwellscher Betrug. Ein Beispiel: Ich studierte an der Hochschule für Musik »Hanns Eisler Berlin«. Nach der Wende mussten sich zwei meiner Instrumentallehrer neu um ihre Professur bewerben, die sie bereits 20 Jahre zuvor inne hatten. Einer davon stammte aus einem kirchlichen Umfeld (Vater Pastor oder Kantor), sicher kein besonderer Freund der DDR. Eine mehrheitlich mit Wessis besetzte Kommission entschied dann, dass auf diesen Positionen künftig Wessis sitzen werden. Ja, wo gibt es denn so etwas? In Deutschland, wo man zwecks Vernebelung der Tatsachen Wippen als Denkmäler aufstellt. Die gesamte Finanzkraft lag im westlichen Teil Deutschlands, der alles, was von der DDR übrig blieb, über die Treuhand für ein Butterbrot erwerben konnte. Das Ungleichgewicht zwischen Ossis und Wessis äußert sich vor allem beim erdrückenden Übergewicht der in Westdeutschland geborenen obersten Entscheidungsträger. Gauck oder Merkel als besonders vasallenhafte Transatlantiker an der Spitze der Fassade änderten daran nichts. Ein anderes orwellsches Beispiel: Der Flughafen »Willy Brandt« wurde genau zu dem Zeitpunkt, als man die letzten Reste seiner Ostpolitik ad acta legte, fertig gestellt und so benannt. Man gab ihm als Feigenblatt diesen Namen und tut das genaue Gegenteil. Auf mich wirkt dieser Name so verfälschend, als hätte Goebbels den Flughafen Berlin-Tempelhof zu den Olympischen Spielen 1936 in »Flughafen Albert Einstein« umbenannt. Na ja. Man sollte künftig vor der Namensgebung bei Großprojekten in Deutschland bei dieser Länge der Bauzeit erst einmal die nächsten drei Zeitenwenden abwarten.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (27. März 2024 um 08:00 Uhr)
    Bei all den »Glücks- und Freudentränen«, die der Autor ironisch dem Volk unterstellt, bleibt doch die ernstgemeinte Frage: Ist das Volk dermaßen unzufrieden mit den herrschenden Zuständen, dass es den bestehenden Kapitalismus nicht länger ertragen will? Gewiss, es gibt Streiks, z. B. bei den Lokführern. Aber wenn sich die Tarifparteien geeinigt haben, herrscht wieder Ruhe bis zum Ende des Tarifvertrages. Keine machtvollen Demonstrationen weit und breit für den Übergang zum Sozialismus (in Westdeutschland), bzw. die Rückkehr zum Sozialismus (in Ostdeutschland). Man lebt sein Leben und hat genug damit zu tun. Auch die Politiker in der Linkspartei und dem BSW sind weit davon entfernt, eine revolutionäre Stimmung im Volk festzustellen oder gar zu erzeugen. Und die DKP, die es könnte, hat, gemessen an ihren Wahlerfolgen, nicht den nötigen Rückhalt im Volk. – Auch der Autor wird es mit diesem Artikel nicht schaffen.
    • Leserbrief von Paul Vesper aus 52062 Aachen (28. März 2024 um 14:51 Uhr)
      Richtig, Herr Pfannschmidt! Keine der genannten Parteien haben etwas mit Sozialismus im Sinn. Sie erwähnen meine Partei, die DKP, als Ausnahme. Noch einmal richtig von Ihnen, wie die DKP, sind zu schwach. Woher kommen Ihre Geistesblitze? Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Seien Sie aber beruhigt. Wir arbeiten daran, dass wir stärker werden. Frei nach Erich Weinert: »Wir gehen von Haus zu Haus und jagen die Lügen zum Fenster hinaus.« Kennen Sie doch noch, oder? Herzliche Grüße zum Ostermarsch! Paul Vesper, DKP
    • Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (27. März 2024 um 14:31 Uhr)
      »Bei all den ›Glücks- und Freudentränen‹, die der Autor ironisch dem Volk unterstellt, bleibt doch die ernstgemeinte Frage: Ist das Volk dermaßen unzufrieden mit den herrschenden Zuständen, dass es den bestehenden Kapitalismus nicht länger ertragen will?« Antwort: Ich hoffe mal, dass das für die Mehrheit der traditionellen jW-Leser immer noch zutrifft. Und auch gesamtgesellschaftlich steigt die Unzufriedenheit mit der herrschenden Gesellschaftsordnung und der Richtung, in die die Regierenden sie entwickeln. Als Gradmesser sehe ich dafür auch das wachsende Wählerpotential der AfD. Sie ist zwar nicht eigentlich antikapitalistisch, ihr wachsender Einfluss repräsentiert aber wachsende Unzufriedenheit in den Volksmassen sowohl mit der Gesellschaftsordnung als auch mit jenen dutzendliberalen »Linken«, die sie nicht nur stützen, sondern auch noch intensiv an ihrer Verschlimmbesserung arbeiten (siehe die aktuelle Kanonen-statt-Butter-Politik!).
      • Leserbrief von Franz Döring (28. März 2024 um 10:09 Uhr)
        Die AFD ist strikt antikommunistisch und total ausländerfeindlich! Sie ist ganz und gar nicht antikapitalistisch, sondern unterstützt im Gegenteil das kapitalistische Wirtschaftssystem voll und ganz. Sie ist für eine Verstärkung der Bundeswehr und für eine noch stärkere Polizei.
        • Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (28. März 2024 um 16:48 Uhr)
          Antikapitalistisch ist die AfD nun wirklich nicht, Herr Döring, denn sie ist eine eher bourgeoise Partei, die politisch eine Minderheit der Kapitalistenklasse repräsentiert. Aber sie mobilisiert große Teile der Wählerschaft für sich, die eben keine Bourgeois sind, sondern vielfach Opfer des kapitalistischen Systems und seiner politischen Geschäftsführer von CDU/CSU bis PDL (hoffentlich nicht auch BSW). Dass nicht nur die AfD, sondern auch ihr Gefolge viele antikommunistische Bretter vor dem Kopf haben, ist kaum zu übersehen. Wirkliche Kommunisten sollten sich aber vor allem fragen, woran das wohl liegt. Was die »Ausländerfeindlichkeit« angeht, so ist das ein Thema, das man wohl kaum en passant erschöpfend behandeln kann. Ich möchte nur bemerken, dass es doch eher für proletarischen Klasseninstinkt der autochthonen Arbeiterklasse spricht, wenn sie die verantwortungslose und verlogene (»Asyl«) Masseneinwanderungspolitik der Herrschenden hinterfragt und ablehnt!

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