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Aus: Ausgabe vom 02.07.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Landwirtschaft

Russland düngt die EU

Stetig wird mehr russischer Kunstdünger in die EU eingeführt. Heimische Hersteller fordern Staatshilfen, Thinktanks mehr Kriegswirtschaft
Von Reinhard Lauterbach
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»Kapazitäten der Kolchosen«: Abfüllung von Dünger für Sonnenblumen in Rostow am Don (3.5.2024)

Die EU-Kunstdüngerindustrie hat Staatshilfen zur Abwehr billiger Düngemittelimporte vor allem aus Russland gefordert. Ansonsten sei die Branche in der Union mittelfristig nicht mehr lebensfähig, zitieren Spiegel und Financial Times (FT) Stellungnahmen von Branchenvertretern. Jede Tonne russischer Dünger finanziere »Putins Kriegsmaschinerie«, setzten die Lobbyisten ein Argument obendrauf, das heute offenbar in jedem beliebigen Kontext verfängt. Und der EU drohe eine Abhängigkeit von russischem Kunstdünger mit fatalen Folgen für die Ernährungssicherheit. Wer könne denn ausschließen, dass »Putin« eines Tages »Europa« den Brotkorb höher hänge.

Der Haken an diesen Lamenti: Das Problem ist ein hausgemachtes. Als die EU 2022 den Import von russischem Erdgas innerhalb weniger Monate heruntersanktionierte, stiegen die Preise kurzfristig auf ein Rekordhoch. Da Erdgas der wichtigste Rohstoff für die Düngemittelproduktion ist, schlug sich das entsprechend auf die Herstellungskosten nieder; als Folge kauften die Bauern weniger Düngemittel. Sie mussten in jenen Tagen lernen, dass die alte Bauernregel »Viel hilft viel« nur unter der Bedingung halbwegs gleichbleibender Preise gilt. Angesichts einbrechender Absatzzahlen fuhren die heimischen Düngerproduzenten die Produktion herunter. Und jetzt fordern sie von der EU »abschreckende Zölle« gegen Importe aus Russland und »anderen autokratischen Ländern« wie z. B. Belarus, wo es die größten Kalivorkommen Europas gibt. Denn jetzt hat die Branche den Salat.

Russland ist in die 2022 entstandene Marktlücke hineingegangen und liefert inzwischen etwa ein Drittel der in der EU verbrauchten Düngemittel. 70 bis 80 Prozent der Herstellungskosten für Kunstdünger werden durch den Gaspreis bestimmt, und Russland hat den Düngemittelexport als einen Weg entdeckt, das Gas, das der Westen auf direktem Wege nicht mehr haben wollte, auf dem Umweg über die Düngemittel doch noch an ihn loszuwerden. Russland ist im übrigen seit langem einer der größten Produzenten von Kunstdünger weltweit – eine Spätfolge von Kapazitäten, die noch zu Sowjetzeiten für den unersättlichen Bedarf der Kolchosen und Sowchosen aufgebaut worden waren. Den Import von Düngemitteln zu sanktionieren hat sich die EU jedoch nicht getraut – es drohten erstens Preiserhöhungen bei Lebensmitteln auf dem Binnenmarkt, und zweitens hätte es gegenüber dem globalen Süden nicht gut ausgesehen, die Lieferung von Hilfsstoffen für die internationale Landwirtschaft zu blockieren.

Der Import von Kunstdünger aus Russland ist seit 2022 deutlich gestiegen: 2023 war es eine knappe Million Tonnen, im ersten Halbjahr 2024 verzeichnete Eurostat einen Import in Höhe von 600.000 Tonnen. In Polen ist der staatliche Düngemittelhersteller Azoty Puławy in enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, weil polnische Bauern zwar Russen nicht mögen, aber bei den Düngerkosten rechnen können: Der Import aus Russland und Belarus stieg 2023 um ein Drittel, Sanktionen hin oder her. Auch das SKW-Düngemittelwerk bei Wittenberg plant nach Aussage des Geschäftsführers inzwischen, die Produktion wegen der dort billigeren Energiepreise in die USA zu verlagern.

All dies lässt in den Thinktanks die Alarmglocken klingeln. Nicht einmal Planwirtschaft ist mehr tabu. Oder besser gesagt: Kriegswirtschaft. Tim Benton, Experte für Lebensmittelsicherheit bei der britischen Denkfabrik Chatham House, sagte der FT, der Schwerpunkt »Europas« müsse sich angesichts der zunehmenden Konflikte in der Welt von der Markteffizienz auf die Versorgungssicherheit verlagern. Zumal die USA ihre Düngemittelexporte zugunsten ihres internen Verbrauchs praktisch eingestellt haben. War halt doch keine so gute Idee mit der Globalisierung.

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  • Leserbrief von Emmo Frey aus Dachau (3. Juli 2024 um 11:53 Uhr)
    Wer hätte das gedacht, trotz der zigfachen »Sanktionspakete« seitens der EU und auch Deutschlands, mit denen man die russische Wirtschaft »ruinieren« will, ruiniert die olivgrüne Wirtschafts- und Außenpolitik auch die heimische Düngemittelindustrie. Ein großes Dankeschön für diesen Bericht des Herrn Lauterbach! Eine erste Frage drängt sich auf: Wer beliefert die ukrainische Landwirtschaft mit Düngemitteln? Oder reicht den ukrainischen Bauern die unerschöpflich erscheinende fruchtbare Schwarzerde?
    Zweite Frage: Sprengstoffe aller Art enthalten immer Stickstoff, beruhen also wie die Düngemittel auf der Ammoniaksynthese nach dem in Deutschland entwickelten Haber-Bosch-Verfahren. Kriegen wir also auch den Stickstoff-Grundstoff für die Millionen Granatfüllungen aus Russland? Wäre doch preisgünstig? Nur nebenbei zur Erinnerung, die schreckliche Explosion von ein paar tausend Tonnen Ammoniumnitrat-Dünger in Beirut oder auch vor gut hundert Jahren bei Ludwigshafen (600 Tote!) zeigt die tödliche Ambivalenz des Geschwisterpaares Stickstoffdünger-Sprengstoff. »Schwerter zu Pflugscharen« = Sprengstoff zu Dünger? (Na ja, der Vergleich hinkt, wird den Bio- und Demeter-Verfechtern nicht gefallen.)

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