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Rosa Luxemburg Konferenz 2019

Rosa Luxemburg Konferenz 2019


Unser Blog und der Livestream zur XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 12. Januar 2019 im Mercure-Hotel MOA in Berlin-Moabit.

Interviews

  • · Interviews

    »Für mich ist Noske eine präfaschistische Figur«

    Gespräch mit Klaus Gietinger. Über die von der SPD geführte Konterrevolution 1918/19, warum Friedrich Ebert damals von »Volksgemeinschaft« sprach und über den Umgang bundesdeutscher Historiker mit der Novemberrevolution
    Nico Popp
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    Käthe Kollwitz: Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 1920

    In einer Extraausgabe der sozialdemokratischen Parteizeitung Vorwärts, die im Herbst 2018 herauskam und sich nur mit der Novemberrevolution befasst, wird ein einleitender Grundsatzartikel mit diesen beiden Sätzen angeteasert: »Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann sind die führenden Köpfe der Revolution. Sie setzen die Demokratie durch.« Was ist davon zu halten?

    Sie waren nicht die führenden Köpfe. Die haben sich auf die Revolution draufgesetzt, um sie so stark wie möglich zu bremsen. »Demokratie« – das ist auch ganz lustig. Ebert hat zu Max von Baden, dem letzten Reichskanzler des Kaiserreiches, gesagt, er befürchte, dass die USPD die Umsetzung des SPD-Programms fordere. Er hat sich offensichtlich vor seinem eigenen Parteiprogramm gefürchtet: Denn »das Volk« – er redet ja immer vom Volk und nicht von den Arbeitern – sei noch nicht für die Republik bereit oder reif, man müsse also einen Nachfolger für den Kaiser finden, so dass es am Ende auf eine starke konstitutionelle Monarchie hinausgelaufen wäre.

    Was ich an solchen Wertungen wie der eben zitierten immer wieder ziemlich dreist finde, ist diese totale Verzerrung des Verhältnisses von Revolution und Gegenrevolution. Die politischen Anführer der Gegenrevolution – oder diejenigen, die sie gedeckt haben an der Spitze des politischen Apparates – werden einfach zu führenden Köpfen der Revolution erklärt, die etwas durchgesetzt haben, das den Namen Demokratie bekommt. Und das ist dann wie selbstverständlich die Weimarer Reichsverfassung. Dieser Dreh funktioniert offenbar auch jetzt noch, ohne damit bei jedermann Kopfschütteln auszulösen. Wie schätzen Sie das ein? Ist diese Perspektive exklusives Eigentum von SPD-Parteijournalisten, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen überhaupt nicht mehr anzutreffen ist? Historiker wie Eberhard Kolb oder Reinhard Rürup haben ja durchaus mal eine Kritik an der Linie der sozialdemokratischen Parteiführung formuliert. Schaut man sich neuere Arbeiten wie die von Wolfgang Niess an, dann ist da sehr viel von dieser Kritik rausgenommen. Und die Revolution wird in einer ziemlich grotesken Verdrehung nicht mehr als gescheitert, sondern als erfolgreich bewertet.

    Wir sind mitten in einem Rollback. Es gibt ein paar jüngere Leute, die anders forschen, aber der Mainstream geht wieder in die andere Richtung. Leute wie Joachim Käppner und auch Niess sind zwar in bestimmten Passagen durchaus kritisch, beide trauen sich dann aber doch nicht, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, die eigentlich die Köpfe der Konterrevolution sind, direkt anzuklagen. Joachim Käppner ist noch so ein Zwischending, aber einer wie Robert Gerwarth, der hoch gelobt wird, und andere auch, die versuchen ein richtiges Rollback. Dann gibt es Journalisten wie den Taz-Mitgründer Arno Widmann, der jetzt für die Berliner Zeitung schreibt und dort in einem Artikel zum 9. November wirklich den Terror gerechtfertigt hat, mit ungefähr so einem Satz: Alles, was links von Ebert und Scheidemann war, musste bekämpft werden, und zwar mit den schärfsten Mitteln. Das finde ich schon sehr interessant.

    Woher kommt das denn? Es ist ein Rollback im Gange. Es ist eine neue Verbissenheit etwa bei der Rechtfertigung von Ebert zu beobachten. Wenn man mal unterstellt, dass das nicht einfach Launen sind oder historische Denkmalpflege betrieben wird – hat das einen politischen Kern?

    Es hat ganz bestimmt einen politischen Kern. Damals hatten wir eine Revolution und dann eine Konterrevolution. Heute haben wir eine Konterrevolution ohne Revolution. In ganz Europa. Es gibt rechte Massenbewegungen und eine rechte Stimmung in den Köpfen vieler Intellektueller. Nehmen Sie Deutschland mit der AfD, Polen, Frankreich, Italien sowieso. Das ist eine europaweite Konterrevolution. Und da spielen auch Intellektuelle als Vordenker rein, und dazu gehört auch die Revision von Geschichte.

    Sie haben die Revolution von 1918/19 in Ihrer Anfang 2018 erschienenen Monographie schon im Titel als »verpassten Frühling des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Was wäre denn anders gekommen, wenn dieser Frühling nicht ausgefallen wäre?

    Nehmen wir den Rätekongress im Dezember 1918. Da wird immer hervorgehoben: Die haben sich mit großer Mehrheit für die Nationalversammlung entschieden. Man könnte über die Delegierten reden. Das waren überwiegend sozialdemokratische Parteisoldaten, nur wenige Arbeiter darunter. Aber dieser Kongress hat eine basisdemokratische Volkswehr beschlossen, die zu einem weiteren imperialistischen Krieg nicht fähig gewesen wäre. Und sie haben die sofortige Sozialisierung der dafür geeigneten Industriezweige gefordert. Beides Punkte aus dem Erfurter Programm der SPD, vor dem Ebert sich gefürchtet hat. Diese Forderungen wurden niedergeschlagen. Das führte dann zu diesen Massenbewegungen und Aufständen. Wenn diese und andere Forderungen durchgesetzt worden wären, wären Armee, Wirtschaft und Verwaltung demokratisiert worden, und den Junkern wäre es an den Kragen gegangen. Und dann hätte die Konterrevolution, hätte vermutlich auch der Faschismus keine Chance gehabt.

    Das Votum des Reichsrätekongresses wird gerne dahingehend missverstanden, als sei es eins für die Weimarer Republik gewesen, wie sie sich dann ein paar Monate später konkretisiert hat. Was man hier indes sehr schön studieren kann, ist ja, dass die sozialdemokratische Parteiführung auch gegenüber den Leuten falsch gespielt hat, die auf diesem Kongress als ihre Anhängerschaft aufgetreten sind. Denn das waren in der Mehrzahl Menschen, die angenommen haben, dass der Weg über die Nationalversammlung der Weg zum Sozialismus ist. Das war zu diesem Zeitpunkt auch die Linie der sozialdemokratischen Parteipresse. Aber das war zu keinem Zeitpunkt die Linie der SPD-Führung.

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    Januar 1919 in Berlin: SPD-Kampagne für die Wahlen zur Nationalversammlung während des sogenannten Spartakusaufstandes. Der war in Wirklichkeit die SPD-geführte bewaffnete Niederschlagung eines Generalstreiks

    Das haben die den Leuten immer nur erzählt, bis ins Frühjahr 1919: Ja, das wird alles verankert in der Verfassung, und dann machen wir den Sozialismus.

    Das bekannteste Beispiel für den bereits angesprochenen Terror gegen die sozialistische Linke ist die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919. Können Sie den aktuellen Forschungsstand, den Sie ja sicher am besten übersehen, kurz zusammenfassen?

    Es gab einen zivilen Oberbefehlshaber. Das war Gustav Noske, und der hat schon kurz nach Weihnachten 1918 gesagt: Man muss jetzt auf jeden schießen, der der Truppe vor die Flinte kommt. Und der hatte die Verantwortung für die Freikorps. Das waren zum Teil vom Krieg zerstörte Menschen, zum Teil Arbeitslose, viele Studenten, ganz viele Offiziere, die es jetzt mal denen zeigen wollten, die die Revolution gemacht hatten. Und die hat Noske losgelassen. Dann gab es noch Bürgerwehren, die auch unter dem Kommando von Noske standen. Und so eine Bürgerwehr hat Liebknecht und Luxemburg am Abend des 15. Januar in der Mannheimer Straße in Wilmersdorf gefangengenommen und ins Eden-Hotel verschleppt. Dort saß Hauptmann Waldemar Pabst, der faktisch die Garde-Kavallerie-Schützen-Division, das größte und radikalste Freikorps, kommandierte. Der hatte für sich beschlossen: Die zwei, die legen wir jetzt um. Weil sie, nach Pabsts eigenen Worten, viel gefährlicher sind als die mit einer Waffe. Die verfügen über die Sprache, über eine Kritik, die haben Einfluss auf die Massen. Aber Pabst wollte das nicht allein entscheiden. Er hat sich mit Noske verständigt. Pabst gab später an, er habe ihn angerufen, und Noske habe ihm gesagt, er solle den kommandierenden General Walther von Lüttwitz fragen. Und da habe Pabst gesagt: Der gibt so einen Befehl nie. Und Noske hätte ihm gesagt, dann müsse er selbst verantworten, was zu tun sei. Jetzt gibt es dazu ein neues Detail. Ein renommierter Militärhistoriker, ein Oberstleutnant a. D., der am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr gearbeitet hat, hat mir gesagt, dass er als junger Offizier einen Vortrag von Pabst gehört hat. Und dort habe Pabst ausgeführt, dass er vorher persönlich bei Noske war und der die Sache abgenickt hat. Ich habe diesen Oberstleutnant gefragt: Wie schätzen Sie Pabst ein? Die Antwort: Der war arrogant und egomanisch, aber in dieser Sache glaubwürdig. Also: Die Ausflucht SPD-naher Historiker, Pabst würde lügen, funktioniert nicht. Pabst hat Noske immer gelobt, wollte ihn sogar als Diktator haben. Und er hat immer nur intern unter Offizieren Klartext gesprochen und diese Sachen nie an die große Glocke gehängt.

    Das war vermutlich in den 1960er Jahren?

    Ja, genau.

    Da ist Pabst offiziell vor Offiziersnachwuchs der Bundeswehr aufgetreten? Oder war das eine eher informelle Runde?

    Das war ein informeller Kreis ehemaliger Kadetten. Pabst war Kadett in der Kadettenanstalt in Lichterfelde, wo heute das Bundesarchiv ist. Einer der alten Kameraden war der ehemalige Reichskanzler Franz von Papen.

    Ein interessantes Detail ist der von Ihnen erwähnte Hinweis von Noske an Pabst: Wenden Sie sich doch an Lüttwitz, um sich von dem einen Befehl geben, also decken zu lassen. Pabst erwidert, dass er den nicht bekommen werde. Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler hat dieses Dilemma des Haupttäters offenbar nie begriffen und noch 2009 in einem merkwürdigen Deutschlandfunk-Interview behauptet, dass, wären Luxemburg und Liebknecht »korrekt« in ein Gefängnis überstellt worden, sie am Abend vor ein Standgericht gestellt und erschossen worden wären. Die hätten halt Aufstand und Bürgerkrieg angezettelt. Wehler wusste demnach nicht, dass im Januar 1919 in Berlin kein Standrecht galt – der Belagerungszustand der Kriegszeit war ja aufgehoben worden –, und Noskes Schießerlass vom März 1919 lag noch nicht vor. Es war also von vornherein klar: Wenn »wir die zwei umlegen«, dann ist das ist eine extralegale Tötung, also Mord. Es gibt zudem eine Passage in dem Interview, deren Heuchelei schwer zu ertragen ist: Wehler sagt, er könne gar nicht verstehen, wieso Pabst nie angeklagt worden ist. Dass sei »rätselhaft« und »schlechterdings unverständlich«. Sie hatten zu dem Zeitpunkt schon das Dokument aus dem Pabst-Nachlass veröffentlicht, in dem der höchstpersönlich das »Rätsel« auflöst: Er ist einfach gedeckt worden von den sozialdemokratischen Mitwissern.

    Ja. Dieses Interview ist in mehrfacher Hinsicht sehr interessant. Erstens, weil ein der Sozialdemokratie nahestehender Historiker zugibt, dass die beiden ermordet wurden und dass es diese Zusammenarbeit zwischen Noske und Pabst gegeben hat. Zweitens: Eigentlich hatte der Deutschlandfunk mich interviewt. Ich war damals in Bremen, habe da über Pabst geforscht und musste extra ins Studio von Radio Bremen, um mich über eine Standleitung interviewen zu lassen. Dann war der zuständige Redakteur mit dem Gespräch nicht zufrieden, hat es aus dem Programm geschmissen und dann Wehler interviewt. Also, Sie sagten es ja schon: Es war kein Bürgerkrieg, der da entfacht wurde von den beiden. Und es gab keinen Belagerungszustand. Und selbst wenn es den gegeben hätte, dann hätte das entsprechende preußische Gesetz von 1851 gegolten. Da braucht man einen Verteidiger und ein mit Offizieren besetztes offizielles Gericht. Und hätte das beschlossen, die beiden zu erschießen, dann hätte man 24 Stunden warten und die formelle Zustimmung des Oberkommandierenden – Lüttwitz oder Noske – einholen müssen. Ein ziemlich kompliziertes Verfahren. Die beiden zu erschießen war also doppelt widerrechtlich. Nehmen wir mal den Fall Georg Ledebour. Der war maßgeblich am Januaraufstand beteiligt, wurde auch verhaftet, ist ganz knapp davongekommen. Anton Fischer, Stadtkommandant und SPDler, wollte ihn eigentlich erschießen lassen. Es gab dann einen Prozess, und da hat ein Staatsanwalt, ein Rechter, der später am Kapp-Putsch beteiligt war …

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    Berlin, Frühjahr 1919: Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) schreitet die Front einer Brigade der vorläufigen Reichsmarine vor ihrer Versetzung nach Kiel ab

    der Staatsanwalt Karl Zum­broich …

    … genau, der hat festgestellt: Das war im Januar 1919 eine revolutionäre Situation und kein Hochverrat, kein Putsch. Und Ledebour ist freigesprochen worden. Eine eindeutige Sache, auch dann, wenn man sie nur rein rechtlich betrachtet.

    Und dass Wehler vorgibt, nicht zu verstehen, warum Pabst nie angeklagt worden ist: Das ist doch kein Missverständnis mehr, sondern ein bewusstes Augenverschließen, weil man hier mit einer Tatsache konfrontiert ist, die man aus dieser sozialdemokratischen Rechtfertigungsperspektive einfach nicht mehr rationalisieren kann.

    Pabst wird über 50 Jahre hinweg geschützt. Die SPD-Regierung lässt den Mord vom Kriegsgericht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division untersuchen, also von den Kameraden der Mörder. Dann laufen die ganzen Sachen über den Tisch des Adjutanten von Pabst. Der steuert den ermittelnden Kriegsgerichtsrat Paul Jorns, der dann später als Ankläger beim Volksgerichtshof gelandet ist. Alles wird vertuscht. Und die Regierung weiß das. Ebert und Noske waren doch nicht dumm. Die haben gewusst, was da gelaufen ist. Und dann wird Kurt Vogel, der die Leiche von Luxemburg in den Landwehrkanal werfen ließ, von Wilhelm Canaris aus dem Gefängnis geholt und nach Holland geschafft. Noske verhindert, dass er ausgeliefert wird und bestätigt die Freisprüche der anderen Täter.

    Vogel musste weg, weil er mit einer Aussage, mit der er ja offenbar gedroht hat, das ganze Lügengebäude zum Einsturz hätte bringen können.

    Genau. Und Pabst muss ihn dann in Holland ständig mit Geld versorgen. Pabst wird nach dem Zweiten Weltkrieg weiter geschützt. Ein Regierungssprecher, ein Freund von Pabst, Felix von Eckardt, der Drehbücher für Nazipropagandafilme geschrieben hatte, macht in Bonn 1962 eine offizielle Erklärung, dass das Ganze eine standrechtliche Erschießung war. Die ganze CDU-Kamarilla hat ihn in den 50er und 60er Jahren beschützt. Der spätere Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau besucht Pabst 1959, weil er Wilhelm Pieck etwas anhängen will. Pabst erzählt ihm, wie der ganze Mord abgelaufen ist. Nollau behält das für sich, geht nicht zur Polizei und hängt nur die Sache mit Pieck an die große Glocke. Nach dem Spiegel-Interview mit Pabst von 1962 stellt das Ministerium für Staatssicherheit fest, dass der noch lebt. Dann gab es ein Ermittlungsverfahren in der DDR. Der Generalstaatsanwalt erlässt einen Haftbefehl und schickt ihn an das Bonner Justizministerium. Er bekommt nicht mal eine Antwort. Justizminister war Gustav Heinemann.

    Aus dem Terror gegen die führenden Köpfe des radikalen Flügels der revolutionären Bewegung wird 1919 binnen weniger Wochen ein Massenterror. Anfang März bäumt sich in Berlin die im Januar niedergeschlagene Massenbewegung in einem Generalstreik noch einmal auf. Und da reagiert die gleiche Kombination aus rechter Sozialdemokratie und Freikorps mit einer Gewaltorgie, die einigermaßen beispiellos ist und lange Zeit zu den fast ganz vergessenen Episoden der Revolution von 1918/19 gehörte. Ihr zentrales Dokument ist der Schießbefehl Noskes vom 9. März 1919. Sie haben mal geschrieben, dass der sogar noch Jahrzehnte später einem Verfassungsrechtler mit Nazivergangenheit wie Ernst Rudolf Huber »den Atem geraubt« habe. Was ist denn dessen außergewöhnliche Qualität?

    Das ist ein Befehl zur Gefangenentötung, der über alles hinausgeht, was es im Kaiserreich je an Befehlen und Gesetzen gab. Das hatte auch nichts mehr mit dem Belagerungszustand und dem Standrecht zu tun. Das war ein Befehl, der die Schleusen geöffnet hat: Jeder konnte abgeknallt werden, der verdächtig war, ein Roter zu sein. Sogar Frauen, Jugendliche, Kinder wurden getötet. Das war die Einführung des Massenterrors in die Innenpolitik Deutschlands – unter einem Sozialdemokraten. Der Anlass war eine Zeitungsente, dass die Spartakisten 60, dann wurden es 150, 200, Polizeibeamte umgebracht hätten. Dann legt Pabst Noske diesen Befehl vor. 1907 gab es schon einmal etwas Ähnliches: Da hat der preußische Generalstab Pläne für den Umgang mit »insurgenten« Städten entworfen. Auch da gab es den Vorschlag, alle Zivilisten zu erschießen, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen werden. Das waren aber geheime Spielereien. Die SPD hat davon erfahren. 1911 war es ausgerechnet Gustav Noske, der das öffentlich gegeißelt hat. 1919 hat er diesen Befehl erlassen, und Tausende Menschen sind deswegen in Berlin, in München, im Ruhrgebiet umgebracht worden. Noske hat das als Zeuge in mehreren Gerichtsverfahren immer verteidigt.

    Wenn man diesen Terror mal auf seinen Kern, also seine Praxis reduziert, kann man da von einer faschistischen Qualität sprechen? In Lichtenberg sind im März 1919 Leute erschossen worden, weil sie ein Parteibuch der USPD oder einen Gewerkschaftsausweis im Schrank hatten. Die verantwortlichen Offiziere waren meist Bürgersöhne, die endlich einmal in einem Arbeiterviertel aufräumen wollten.

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    Protest gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Zeitungen der internationalen Arbeiterbewegung

    Für mich ist Noske eine präfaschistische Figur. Aber der stand nicht allein. Ebert hat es akzeptiert, der Vorstand der SPD hat das gebilligt. Der preußische SPD-Justizminister Wolfgang Heine hat es befürwortet. Es gibt da schon einen Zug hin zum Faschismus.

    Ist das Abbiegen bzw. die Niederschlagung der – im weitesten Sinne – sozialistischen oder, wenn man so will, radikaldemokratischen Massenbewegung von 1918/19 die entscheidende Weichenstellung der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert gewesen? Und damit auch der folgenreichste Auftritt der SPD?

    Es ist einer der folgenreichsten. Der August 1914 zählt dazu, auch der Kapp-Putsch 1920. Da wurden die rechten Sozialdemokraten von den Arbeitern noch einmal gerettet und haben dann ihre Retter umbringen lassen. Kurz bevor der Faschismus kam, gab es dann im Juli 1932 den sogenannten Preußenschlag Papens. Da haben sie sich einfach so aus der preußischen Regierung schmeißen lassen. Linke Revolutionäre haben sie erschießen lassen, aber gegenüber den Rechten wurde immer sofort der Schreibtisch geräumt.

    Auffällig ist, dass die rechte Politik der Parteiführung die SPD schon zwischen 1919 und 1920 in eine Existenzkrise geführt hat. Im Januar 1919 wurde die Partei von Millionen Arbeitern in der Annahme gewählt, damit etwas für den Sozialismus zu tun. Viele von denen votierten dann bei der Reichstagswahl im Juni 1920 für die USPD, die zusammen mit der KPD ungefähr auf die Stimmenzahl der SPD kam.

    Und die SPD fliegt aus der Regierung. Und stellt erst 1928 wieder einen Reichskanzler.

    Warum hat die Führungsgruppe diesen Kurs dann nicht grundsätzlich revidiert? Die haben doch gesehen, dass sie die Partei in die Krise führen. Wie kann man das erklären?

    Ich dachte mir jahrelang: Verrat, das greift zu kurz. Und nahm an, es sei die Verbürgerlichung. Die hatten Ämter und Funktionen, haben Einkommen bezogen von der Partei, haben sich arrangiert. Aber man muss noch weiter gehen: Die waren verpreußt oder besser: deutschnational. Haben nur noch vom Volk gesprochen und von der Nation. 1919 spricht Ebert von der Volksgemeinschaft. Die Arbeiter haben sie nicht mehr interessiert, nur noch das Volk.

    Der Begriff Volksgemeinschaft ist ja maßgeblich von der sozialdemokratischen Rechten während der Kriegsjahre entwickelt worden. Auch das war keine Eigenleistung der radikalen Rechten. Die haben sich das später in der Form einer feindlichen Übernahme angeeignet. Wobei zu klären bliebe, wie feindlich die Übernahme eigentlich war.

    Ja. Die meisten führenden Sozialdemokraten waren Anhänger des preußisch-deutschen Militärstaates. Der rechte Rand der Partei, der ja auch an der Spitze saß, war in gewissem Sinne völkisch. Erst als 1922 die USPD zurückkam, wurde die Idee der Volksgemeinschaft wieder gestrichen. Die rechten Sozialdemokraten waren total an den Staat und den Gedanken der Nation angepasst.

    Wenn man einen Strich darunter zieht: Was ließe sich abschließend über die Revolution von 1918/19 sagen? Alles verweht, alles umsonst? Oder ist irgend etwas gedanklich oder praktisch Greifbares geblieben, an das eine Linke heute anschließen kann?

    Die Räte sind wichtig. Ein Überbleibsel gibt es ja noch, die Betriebsräte. Das Frauenwahlrecht. Die basisdemokratischen Bestrebungen auch jenseits der politischen Rätebewegung. Die sind völlig vergessen und verschüttet. Aber vielleicht kann man sie wieder ausgraben.

  • · Interviews

    »Linke könnte diesen Zauber leicht beenden«

    Zuviel Parlament, zu wenig Straße? Über falsche Alternativen, neue Bewegungen und rechte Erfolge. Ein Gespräch mit Ulrich Maurer
    Jan Greve
    September 2018
    Raus aus den bequemen Büros: Politiker von Die Linke bei der Auftaktdemonstration der Kampagne »Bezahlbare Miete statt fetter Rendite« (September 2018)

    Sie waren viele Jahre Landesvorsitzender der SPD in Baden-Württemberg, dann Mitglied der WASG und Bundestagsabgeordneter für Die Linke. Sie kennen den politischen Betrieb also relativ gut …

    Das kann man wohl sagen.

    Mit Blick auf ein vermutlich erneut politisch turbulentes Jahr: Ist Die Linke gut für die Herausforderungen gerüstet?

    Nein, das ist sie ohne Zweifel nicht. Sie muss Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit zurückgewinnen.

    Was bedeutet, dass diese der Partei abhanden gekommen sind.

    Ja, das sehe ich so. Viele von uns sind sehr in der Routine des Parlamentsbetriebs versackt.

    In der Zeit, als die PDS sich 2005 in Linkspartei/PDS umbenannte, hat es starken Protest auf den Straßen gegeben, etwa gegen die Hartz-IV-Politik. Kann man Ihrer Partei vorwerfen, dass es die Bewegungen heute nicht in dieser Form gibt?

    Ich denke, dass wir es da mit einer Wechselwirkung zu tun haben. Nach dem Dahinsiechen der »Occupy«-Bewegung hat es sicher einige Frustrationen gegeben. Auf der anderen Seite hätten wir auch heute jede Menge Möglichkeiten für Aktionen, die schlicht zu wenig genutzt werden. Ich denke etwa an die Katastrophe auf dem Wohnungsmarkt.

    Im April 2018 hat es zum Beispiel in Berlin eine Großdemonstration gegen explodierende Mieten gegeben. Haben wir es hier mit einem Grundproblem zu tun, dass Die Linke bei Protest auf der Straße gegen ihre eigene Regierungspolitik opponieren müsste? Kann ein solcher Spagat zwischen Parlament und Straße überhaupt gelingen?

    Das ist Unfug, eine solche Alternative gibt es für eine linke Partei nicht. Ihre Parlamentsfraktionen müssen sich als Sprachrohr von politischen Bewegungen in der Gesellschaft verstehen. Von daher ist die Frage, ob Die Linke bei öffentlichen Protesten entscheidend beteiligt ist, eine wesentliche für ihre Zukunft.

    Am Sonnabend werden Sie bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz mit anderen über die Frage diskutieren, wie Klassenpolitik heute funktioniert. Sehen Sie derzeit eine politische Partei oder Organisation, die eine Antwort darauf hat?

    Wir stehen erst am Beginn dieser Debatte. Immerhin, sie hat mittlerweile angefangen. Die aktuellen Probleme lassen sich überall in Europa aufzeigen. Die »Gelbwesten« in Frankreich sind ein relativ unkoordinierter, anarchischer Ausdruck von Protest und geben damit ein typisches Bild von sich entwickelnden Bewegungen ab. In der Bundesrepublik haben wir nicht einmal diesen Punkt bislang erreicht. Hier sehe ich höchstens zarte Anfänge von Debatten. Ich finde zum Beispiel bemerkenswert, dass der Berliner Landesverband von Die Linke die Kampagne »Deutsche Wohnen enteignen« unterstützt. Daran lässt sich verdeutlichen, dass Bewegungen auf der Straße und in den Parlamenten auch zusammen agieren können. Nach vielen Jahren des Stillstandes ist hier aber noch einiges zu tun.

    Wie stehen Sie zu der These, dass die soziale Frage heute erfolgreich von rechten Kräften wie der AfD besetzt worden ist?

    Wenn Sie sich das Wohnungsprogramm der AfD anschauen, werden Sie feststellen, dass es an reaktionärer Ausrichtung kaum noch zu überbieten ist. Mit linken Positionen hat das nichts zu tun. Das Problem ist ein anderes: Zu viele Menschen sind orientierungslos und wählen diese Partei aus Protest, ohne das mit fundierten Kenntnissen über ihre politischen Inhalte zu verbinden. Wir haben es mit einer gewissen Denkzettel-Mentalität zu tun. Dazu kommen Rassismus und Nationalismus, die in der gesamten Gesellschaft verbreitetet sind. Eine Linke, die an der Spitze politischer Protestbewegungen stünde, könnte diesen Zauber leicht beenden.

    In diesen Tagen wird viel zurückgeschaut auf die Ereignisse vor 100 Jahren. Welche Lehre ziehen Sie aus den damaligen Kämpfen?

    Der Hass aufeinander hat den Linken vielmehr geschadet als jeder rechte Umtrieb. Gerade deswegen wäre es in diesen Tagen wichtig, würde die SPD ihre eigene Vergangenheit ehrlich aufarbeiten. Darauf kann man nur hoffen.

  • · Interviews

    »Eine der schönsten Formen politischer Arbeit«

    »Rote Peperoni« gestalten Kinderprogramm auf diesjähriger Rosa-Luxemburg-Konferenz. Ein Gespräch mit Cedric Sommer
    Jan Greve
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    Sommerferienlager der Roten Peperoni aus der Vogelperspektive

    Am 12. Januar findet die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin statt. Dort wird mit verschiedenen, auch internationalen Gästen über politische und soziale Herausforderungen debattiert. Ist der Termin auch für Kinder interessant?

    Die Vorträge und Diskussionen richten sich sicherlich an Jugendliche und Erwachsene, allerdings organisieren wir als Rote Peperoni für Kinder ein paralleles Programm. Es wird verschiedene Spiele geben, ebenso wie Möglichkeiten zum Basteln.

    Die »Roten Peperoni« bezeichnen sich als »sozialistische Kinderorganisation«. Was kann man sich darunter vorstellen?

    Wir sind eine Organisation für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Unser politischer Anspruch findet sich in der Bezeichnung sozialistisch wieder: Wir sind mit der Welt so, wie sie ist, nicht zufrieden. Gleichzeitig wissen wir, dass sich von alleine nichts ändern wird. Deswegen wollen wir etwas tun, und zwar gemeinsam mit Kindern.

    Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz sind?

    Zum einen veranstalten wir Freizeiten, wie etwa unser zweiwöchiges Sommerferienlager. Es gibt auch ein Pfingstcamp und Herbstfreizeiten. Dabei geht es einerseits natürlich darum, Spaß zu haben und eine schöne Zeit zu verbringen. Andererseits beschäftigen wir uns auch mit unserem jeweiligen Jahresthema. 2018 lautete dies »Bunt statt braun«, in diesem Jahr: »Wir haben nur diese eine Welt«. Wir werden uns also mit Fragen der Nachhaltigkeit und der Umweltzerstörung beschäftigen.

    Zum anderen veranstalten wir Kindergruppennachmittage. Am regelmäßigsten finden die in Stuttgart statt – wir haben einen Schwerpunkt in Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren gibt es aber auch einen sehr aktiven Kreis im Saarland. Das Alter der teilnehmenden Kinder ist unterschiedlich. Bei den Ferienlagern liegt es zwischen neun und 14 Jahren, bei den Pfingstcamps oder den Gruppennachmittagen sind auch Kinder ab sechs Jahren dabei.

    Ist die politische Arbeit mit Kindern anstrengend?

    Nein, das ist sie aus meiner Sicht überhaupt nicht. Vielmehr ist es eine der schönsten Formen politischer Arbeit. Kinder nehmen unsere Angebote in dem Sinne aber auch gar nicht als politisch wahr. Für sie geht es vielmehr darum, den Zustand der Welt, in der sie leben, zu hinterfragen. Und es geht darum, zu überlegen, in was für einer Welt man selber leben möchte und wie man sich einmischen kann.

    Die Roten Peperoni formulieren das Ziel einer »kinderfreundlichen Welt«, in der es weder Krieg noch Rassismus gibt. Muss man Kindern solidarisches Verhalten beibringen?

    Das klingt nach der Frage, wie Kinder von Natur aus sind. Das kann ich nicht beantworten. Meinem Eindruck nach ist aber beispielsweise Rassismus etwas, was sich Kinder von anderen abschauen. Von sich aus machen sie keine Unterschiede, wie sie zum Beispiel Erwachsene aufgrund von äußeren Merkmalen sehen. Klar ist natürlich, dass auch sie in unserer kapitalistischen Welt leben und von Konkurrenzsituationen geprägt werden. Dem möchten wir ein solidarisches Miteinander entgegensetzen.

    Welche Stellung haben die Roten Peperoni im Vergleich zu anderen Freizeitangeboten für Kinder?

    In meiner Wahrnehmung sind wir mit unserem explizit politischen Anspruch einzigartig. Bei der Jugendarbeit sieht es da sicherlich anders aus. Es ist sehr wichtig, mit politischer Arbeit nicht erst ab einem gewissen Alter zu beginnen und Kinder damit davon abzutrennen. Auch sie haben ein Bewusstsein für gesellschaftliche Fragen.

    Worauf können sich Interessierte in diesem Jahr freuen, neben Ihrem Programm bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz?

    Es wird nicht so viele Highlights geben wie im vergangenen Jubiläumsjahr, in dem unsere Organisation ihr 25jähriges Bestehen gefeiert hat. Das Ferienlager vom 27. Juli bis 10. August ist aber definitiv etwas, auf das man sich schon jetzt freuen kann.

  • · Interviews

    »Die Kapitalisten sind zu weit gegangen«

    In der Euro-Zone stehen die Zeichen auf Rezession. Ein Gespräch mit Vladimiro Giacché
    Simon Zeise
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    Protest während der Vertrauensabstimmung über den Haushalt im italienischen Parlament (Rom, 29.12.2018)

    Was sind die Ursachen der Euro-Krise?

    Die Probleme, die in der Krise 2009/10 und in den folgenden Jahren zum Vorschein kamen, sind nicht gelöst worden. Das heißt, es gibt eine tiefe Spaltung zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Ungleichheit ist noch größer geworden. Ich glaube, dass die neoliberale EU an ihre Grenzen stößt. Der Wettbewerb zwischen den Staaten beruht auf einem Wettrennen der Löhne und der Unternehmensbesteuerung nach unten. So steht es in den EU-Verträgen. Das Ergebnis sehen wir heute: Es gibt ein tiefes Unbehagen nicht nur im Süden, sondern auch in Frankreich und Deutschland. Wenn wir betrachten, was in den vergangenen zehn Jahren passiert ist, sehen wir, dass die gesamte Europäische Union mehr oder weniger in ein großes Deutschland transformiert worden ist. Ein großer Wirtschaftsraum wurde auf Merkantilismus ausgerichtet. Dessen Kern ist Lohndeflation.

    Sie leben in Italien. Die dortige Regierung hat sich ein langes Scharmützel mit der EU-Kommission um die Ausweitung des Haushaltsdefizits geliefert. Wie bewerten Sie die Einigung?

    Die italienische Regierung hatte zunächst die Neuverschuldung des Haushalts auf 2,4 Prozent des BIP angesetzt. Rausgekommen sind 2,04 Prozent. Für eine expansive Wirtschaftspolitik wären fünf Prozent notwendig. EU-Wirtschaftskommissar Pierre Mos­covici sagte: Die Maßnahmen sind nicht optimal, aber immerhin ist das Defizit reduziert worden. Es werde keine Sanktionen gegen Italien geben. Leider werde das Wachstum in Italien aber dadurch niedriger ausfallen. Das ist paradox. Natürlich ist das Wachstum niedriger, weil die expansive Wirtschaftspolitik gestoppt wurde – von der EU.

    Die italienische Verfassung steht im direkten Widerspruch zu den EU-Verträgen. Sie sieht den Kampf gegen Arbeitslosigkeit vor. Die EU-Verträge stellen hingegen die Preisstabilität an die erste Stelle. Es handelt sich hierbei nicht um verschiedene, sondern um sich widersprechende Werte. Das ist sehr wichtig zu betonen. Um Preisstabilität, also geringe Inflation, zu gewährleisten, bedarf es hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Löhne.

    Wann wird die nächste Krise in der Euro-Zone offen ausbrechen?

    Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass 2019/20 eine Rezession einsetzt. Das hängt davon ab, wie sich die inneren Widersprüche der EU entwickeln. Es hängt auch davon ab, wie schnell im Fall einer Krise alle gegenwärtigen Regeln in der EU gebrochen werden können. Wenn die Kapitalvorschriften, wie sie etwa in der sogenannten Bankenunion gelten, beibehalten werden, wird die Krise schlimmer ausfallen und schwieriger zu behandeln sein. 2009 wurden die Regeln, die Staatshilfen untersagen, über Nacht stillschweigend außer Kraft gesetzt. Das hat die enorme Sozialisierung der Verluste aus dem Bankenwesen ermöglicht. Man hätte unter den bestehenden Regeln nicht 259 Milliarden Euro für die Banken ausgeben können. In der EU wurde versucht, die Regeln auf europäischer Ebene zu harmonisieren, wie man zu sagen pflegt. Für die großen Konzerne war das zweifellos ein Vorteil. Aber ich glaube, die Kapitalisten sind zu weit gegangen.

  • · Interviews

    »Kommunistische Partei, was denn sonst?«

    Über historisches Interesse von Linken, Sichdrücken vor Lenin und den Zusammenschluss von Ausgebeuteten und Kriegsgegnern. Ein Gespräch mit Dietmar Dath
    Interview: Arnold Schölzel
    Erscheinungsdatum des Plakats unbekannt
    Erscheinungsdatum des Plakats unbekannt

    Sollten sich heutige Linke mit der KPD-Gründung befassen? Wenn ja, womit besonders?

    Von denjenigen Linken, die von der Geschichte nichts wissen wollen, will die Geschichte nichts wissen. An der KPD interessiert historisch ganz besonders der Zeitpunkt ihrer Gründung – geschah sie zu früh? Zu spät? Gerade richtig? –, ihre Verankerung in den Klassenkämpfen des Sprachraums, mit dem sie reden musste. Die war anfangs gewährt, dummerweise eher nicht durch Verankerung überall vor Ort, sondern durch ihre prominentesten Leute, die diese Klassenkämpfe nicht losgelassen hatten, als die SPD 1914 ihren ersten unverzeihlichen praktischen und etwa zehnten theoretischen Verrat beging. Ihre auf Kenntnis beruhende Vernetzung mit dem Weltkommunismus – zuerst noch beklagenswert niedrig – und ihr hohes theoretisches Niveau, verbürgt wiederum durch die berühmten Leute in ihren Reihen, darunter die Berühmteste: Rosa Luxemburg.

    In der Reihe Basisbiographien erschien bei Suhrkamp 2010 Ihre Arbeit über Rosa Luxemburg. Darin schreiben Sie: »Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuelle Schriften der weltweiten, sich gerade erst von schwersten Niederlagen erholenden Linken studiert, begegnet überall Luxemburgs Denken.« Und: »Die Gejagte zum Schweigen zu bringen, das ist den Jägern missglückt.« Rosa Luxemburg hat neben Karl Liebknecht maßgeblich den Gründungsparteitag der KPD und deren erstes Programm geprägt. Warum spielt das bei vielen, die sich heute auf sie berufen, keine Rolle?

    Weil viele, die sich heute auf sie berufen, das tun, um in Schönheit und Reinheit zu sterben oder bei Gelegenheit sagen zu können: Für den Kommunismus arbeiten, das ist zu schwer, man sieht ja, man verliert nur, selbst Rosa Luxemburg ist den Schweinen unterlegen usw. – also: als Ausrede für das seit mehr als hundert Jahren bei jenen »vielen« sehr beliebte Sichdrücken um den Leninismus.

    Sehen Sie Unterschiede zu Lenins Parteiauffassung?

    Ich möchte sehr davor warnen, die Weltgeschichte als einen Kampf von Ideen und Auffassungen zu sehen. Sie besteht aus Streit von Interessen, und nicht einmal die Partei, welche die eigenen ungeschickt – oder mit zuwenig Theorie oder zuviel Theorie oder falscher Theorie verfolgt –, verliert unbedingt immer – es ist lustigerweise sogar vorgekommen, dass die Dummen mal die Stärkeren waren. Das passiert zum Beispiel, weil die Klügeren nachgeben oder wo umgekehrt die Dummen aus Zufall oder Laune in einem wichtigen Moment die Flexibleren sind, wo die Klugen zu stur bleiben usw. – also: die bürgerliche, vor allem die linksbürgerliche Geschichtsbetrachtung begeistert sich gern für Rosa Luxemburgs Text »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« (1906), wo von Spontaneität und breitem Aufruhr die Rede ist und die Partei eher eine Art wichtiger Randbedingung des Umsturzes darstellt, so etwas wie eine Art Unterschrift unter den gesalzenen Brief, den die Massenaktion der herrschenden Klasse schreibt, damit sie das Feld räumt.

    Bei Lenin in »Was tun?« (1902) dagegen ist die Partei dagegen das Brennglas, durch das die Sonnenstrahlen der Theorie auf einen schlechten Zustand scheinen und davon gebündelt werden, bis der Zustand brennt. Was sich aber mehr unterschied bei den beiden als diese Auskünfte der Lehre war der reale Instrumentalismus, die unterschiedliche Geschicklichkeit. Es gibt Leute, die sagen, Lenin hat seine Arbeitszusammenhänge früher von den rechten Sozialdemokraten getrennt und war also spaltungswilliger, daher erfolgreicher. Beides war er zwar im entscheidenden Moment wirklich, aber man darf nicht vergessen, dass er deswegen noch lange kein Sektierer war, sondern im Gegenteil selbst den sogenannten Sozialrevolutionären, so etwas wie dem zeitgenössischen Pendant der abscheulichen Grünen, gelegentlich entgegenkam, wenn sie eine gute Idee hatten – wodurch ihm unter anderem gelang, der aufmerksamen Mehrheit des wachen Publikums zu demonstrieren, dass er die guten Ideen der Konkurrenz oft genug viel ernster nahm als diese selbst.

    Vor allem aber tat Lenin, was immer er in Parteidingen tat, nicht aus dem Impuls, einer Theorie zu folgen, sondern aus dem viel wichtigeren, nur oberflächlich ähnlichen, den noch Unwissenden die Wahrheit dieser Theorie zu demonstrieren. Er machte mit Parteipolitik den Marxismus bekannt und mächtig, seine Beweise standen als Nachrichten in der Zeitung, die von Rosa Luxemburg eher als Überlegungen in Büchern. Dafür konnte sie wenig; die Umstände waren ihr ungünstiger, die Sozialdemokratie im deutschsprachigen Raum war besonders abgefeimt und schon viel zu trainiert im Heucheln, im Zermürben der Besten in ihren Reihen, im Opportunismus und Revisionismus, als Rosa Luxemburg zu ihr stieß. Da blieb ihr wenig mehr, als zu argumentieren, und das ist halt leider immer die ohnmächtigste Form der Praxis.

    Rosa Luxemburg hielt eine kommunistische Partei für ein unerlässliches Instrument im Kampf gegen den imperialistischen Krieg. War das zu sehr der Zeit verhaftet? Was bedeutet es für heute?

    Wie nennt man einen Zusammenschluss, in dem alle – sowohl die Berufssoldatin wie der deklassierte Intellektuelle wie die Friseuse wie der Müllfahrer wie die Ärztin wie der arbeitslose Zahntechniker wie der selbstausbeutende Journalist – Kontakt mit den Klassenkämpfen aller anderen in dieser Aufzählung halten können und dann, wenn die nationalen und übernationalen Verabredungen und Antagonismen zwischen den verschiedenen Abteilungen des Feindes, der Ausbeuterklasse, wieder mal einen Krieg anzetteln, mit einer Idee von einer besseren Gesellschaft im Kopf diesem Krieg widerstehen? Sicher nicht Gewerkschaft, denn ganz offensichtlich passen nicht alle Genannten in dieselbe. Sicher aber auch nicht »Bewegung«, denn diese Menschen werden sich, ihre so unterschiedlichen konkreten Probleme – welche alle ja ein bis drei abstrakte Gesamtprobleme vermitteln – vorausgesetzt, nicht synchron und also schlagkräftig »bewegen« können, wenn das nicht sehr arbeitsaufwendig koordiniert wird. Also, man nenne das, was die alle brauchen, wie man will, aber es ist doch eine kommunistische Partei, was denn sonst?

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    »Luxemburg hat Entwicklungen bereits aufgezeigt«

    Rosa-Luxemburg-Konferenz 2019 mit neuer Moderatorin: Über Inszenierungen, Lektüre und kapitalistische Krisen. Ein Gespräch mit Anja Panse
    Jan Greve
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    Rosa Luxemburg auf der Theaterbühne: Regisseurin Anja Panse (rechts) und Schauspielerin Susanne Jansen (Berlin, 22.5.2017)

    Als Schauspielerin und Regisseurin sind Sie auf vielen Theaterbühnen zu Hause. Was erwarten Sie, wenn Sie im Januar auf der Bühne der Rosa-Luxemburg-Konferenz die Moderation übernehmen?

    Es ist auf jeden Fall eine ganz andere Herausforderung. Dort kann ich mich nicht hinter einer Rolle verstecken, sondern werde da als die Person stehen, die ich bin. Ich freue mich sehr auf diese große Aufgabe. Mit meinem Theaterstück »Rosa – Trotz alledem« war ich bereits Teil der letzten Konferenz im Januar 2018. Von daher weiß ich ungefähr, wie viele Leute aus aller Welt da sein werden. Das ist auch etwas aufregend.

    Sie haben in diversen Städten gespielt, unter anderem in Rostock, Göttingen, Weimar, Berlin, auch in Polen sind Sie gewesen. Wie würden Sie Ihren Werdegang beschreiben?

    Angefangen habe ich mit einem Schauspielstudium in Rostock. In der Stadt habe ich zwölf Jahre gespielt, auf unterschiedlichen Bühnen. 2007 ergab sich für mich erstmals die Möglichkeit, ein Stück zu inszenieren. Die habe ich genutzt und dabei gemerkt, dass mir diese Arbeit sehr liegt. Von da an habe ich in jeder Spielzeit eine Inszenierung machen dürfen. 2009 entschied ich mich dann, die Seiten zu wechseln und verstärkt Regie zu machen. Auf diese Weise kann ich meine eigene Vision vom Theater besser verwirklichen. Daran hat sich bis heute wenig geändert, hauptsächlich arbeite ich als Regisseurin.

    Kann man von Ihnen als Moderatorin auch eine entsprechende Inszenierung der Rosa-Luxemburg-Konferenz erwarten? Hat Sie diese Aussicht dazu motiviert, die Aufgabe zu übernehmen?

    Das kann man so nicht sagen. Die Entscheidung, dort zu moderieren, hatte andere Gründe. Ich habe bereits im Vorfeld schon viel mit der jungen Welt zusammengearbeitet. In der Ladengalerie in Berlin habe ich zum Beispiel schon verschiedene Lesungen gemacht. Dann wurde ich seitens der jungen Welt gefragt, ob ich die Moderation übernehmen würde. So ist das gelaufen.

    In der Rezension Ihres Theaterstücks »Rosa – Trotz alledem« war vor gut einem Jahr in der jungen Welt zu lesen: »Regisseurin Anja Panse kennt sich sehr gut mit Rosa Luxemburgs Politik und Leben aus.« Ist dem so?

    Ja, das stimmt. Ich habe sehr viel gelesen, ihre Briefe aus dem Gefängnis, ihre politischen Schriften, auch Biographien über sie. Nach wie vor bin ich sehr beeindruckt von dieser Persönlichkeit. Ich habe das Theaterstück unter anderem deswegen gemacht, weil ich so viele Parallelen zu unserem heutigen Leben erkannt habe. Was Luxemburg damals gesagt hat, ist auch heute noch von großer Relevanz für uns.

    Zwischen politischen Gedanken und künstlerischen Ausdrucksformen besteht aus Ihrer Sicht eine Verbindung?

    Unbedingt. Zusammenhänge vernünftig und klar darzulegen ist das eine, die sinnliche Erfahrung das andere. Die Erkenntnis, dass wir uns in einer Krise befinden, lässt sich auch über Emotionen wahrnehmen. Auch Rosa Luxemburg muss die Leute früher bei Kundgebungen begeistert haben, sie hatte eine große Leidenschaftlichkeit.

    Der Titel der anstehenden Konferenz lautet »Sozialismus oder Barbarei«. Sie sprachen von einer Krise, in der wir uns aktuell befinden. Wo genau stehen wir?

    Wir können sehen, dass überall aufgerüstet wird. Globale Probleme nehmen zu, was wir unter anderem an wachsenden Fluchtbewegungen wahrnehmen können. In der »Akkumulation des Kapitals« hat Luxemburg diese Entwicklungen bereits aufgezeigt: Solange das Kapital herrscht, werden Aufrüstungen und Kriege niemals aufhören, weil der Kapitalismus die Krise braucht. Das zeigt sich heute mehr denn je. Bislang war Umweltzerstörung zum Beispiel für viele ein abstraktes Thema – heute sehen wir, was es bedeutet. Es gibt eine unheilvolle Stimmung, zumal viele sich ohnmächtig fühlen. Um so wichtiger ist es, zusammenzukommen und darüber zu diskutieren, was wir tun können – gerade in einer internationalen Runde.

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    »USA wollen sich Monopolrenten sichern«

    Kriege, Sanktionen, Austeritätspolitik: Die Vereinigten Staaten sind die imperialistische Hauptmacht. Ein Gespräch mit Michael Hudson
    Simon Zeise
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    Auf einer Anzeigetafel in Nigeria wird der aktuelle Dollar-Kurs ausgewiesen (Lagos, 15.5.2018)

    Imperialismus bedeutet Krieg …

    Nein, Krieg ist nur ein Mittel, mit dem der Imperialismus seine Ziele durchsetzt. Imperialismus bedeutet, sich die Einkommen und das Eigentum anderer Länder anzueignen; deren Politik zu bestimmen, sie abhängig von der imperialen Macht zu machen. Der Imperialismus schafft ein internationales System, dass unmittelbar vom Zentrum regiert wird.

    Wie wichtig ist der Dollar für den US-Imperialismus?

    Seit 1971, als die USA den Goldstandard aufgaben, ist der Dollar bis heute das Mittel, um sich das Geld anderer Länder anzueignen. Die Zentralbanken anderer Länder halten ihre Ersparnisse zum Großteil in Form von Krediten der USA, in US-Staatsanleihen oder anderen Investitionen in den Vereinigten Staaten. Allerdings hat sich in den vergangenen Monaten einiges verändert. Der russische Präsident Wladimir Putin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die US-Regierung andere Länder aus dem Dollar-Währungsgebiet treibt. China, Russland und andere Staaten sind verunsichert, ob sie ihr Geld in Dollar anlegen sollen, weil es ganz einfach beschlagnahmt werden kann. Hinzu kommt, dass sich diese Staaten darüber im klaren sind, durch den Erwerb von US-Staatsanleihen ihre eigene militärische Umzingelung zu finanzieren. Darauf sind sie selbstverständlich nicht besonders erpicht, weshalb sie mehr und mehr Geld in Gold und Euros investieren. Sie wollen nicht mit ihren Rücklagen den US-Rüstungshaushalt finanzieren.

    Wie setzen die USA ihre Interessen durch?

    Indem sie ihre eigenen Regeln schaffen. Die USA haben Sanktionen gegen Iran verhängt. Jedes Land, das eine Bank nutzt, um Handel mit Iran zu treiben, kann mit Milliardenstrafen belegt oder dessen Bürger können verhaftet werden. So ist es Anfang Dezember geschehen, als die Finanzchefin des chinesischen Technologiekonzerns Huawei, Meng Wanzhou, in Kanada festgesetzt wurde.

    Jedes Gesetz, das in den USA verabschiedet wird, muss in der Peripherie angewendet werden. Der Imperialismus hat eine totalitär geplante Wirtschaft geschaffen. Die Wirtschaft in der Peripherie wird vom ökonomischen Zentrum gelenkt. Die wesentlichen Akteure sind dabei die Vertreter der Wall Street und des Militärs.

    Auf militärischem Gebiet nehmen die USA für sich in Anspruch, jedes Land angreifen zu können. Kein Staat darf über ein militärisches Verteidigungssystem verfügen, das einer Intervention standhalten kann. Deshalb ist Washington das russische Verteidigungssystem ein so großer Dorn im Auge. Die Aufgabe der NATO ist es, sicherzustellen, dass ein eskalierender Konflikt zwischen Russland und den USA in erster Linie auf europäischem Boden ausgetragen wird.

    Welches Ziel verfolgt die US-Regierung in dem Handelskrieg mit China?

    Alle Industriekonzerne, die Monopolrenten abwerfen, sollen von den USA kontrolliert werden. Besonders mit neuen Informationstechniken können hohe Wachstumsraten erzielt werden. Die Vereinigten Staaten können nicht länger als ein produzierendes Land handeln, weil die sogenannten Arbeitskosten zu hoch sind. Washington hat die Absicht, die chinesische Ökonomie zum Erliegen zu bringen. Die Kommandohöhen der Wirtschaft, die chinesischen Monopole, Banken, das Finanzsystem sollen von der Wall Street und nicht von Beijing befehligt werden.

    Setzt US-Präsident Donald Trump außenpolitisch auf einen anderen Kurs als sein Amtsvorgänger Barack Obama?

    Nein, Trumps Politik wird genauso von den Leuten des sogenannten tiefen Staates betrieben, Vertretern der Geheimdienste NSA und CIA. In militärischen Fragen hält er sich an die alten Kalten Krieger, die einen militärischen Konflikt in der Ukraine heraufbeschwören wollen, der sich in Europa ausbreiten soll. Nicht zu vergessen, dass Trump die Europäer auffordert, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär auszugeben. Unter den geltenden EU-Verträgen bedeutet das, wenn Länder mehr Geld für Waffen ausgeben wollen, müssen sie bei Sozialprogrammen sparen. Das heißt also: Wenn Trump fordert, mehr Geld für Waffen auszugeben, fordert er gleichzeitig, Sozialleistungen zu kürzen. Das Resultat ist Austeritätspolitik. Dies ist ein Nebenprodukt des Imperialismus: Kürzungsprogramme werden in der Peripherie durchgesetzt, damit die Vermögen in den USA steigen.