Mit halber Kraft
Von Emre ŞahinZweifellos gehört das westasiatische Neujahrsfest Newroz zu den aufregendsten Ereignissen im kurdischen Jahreskalender: Dem Mythos zufolge stürzte an diesem Tag der Schmied Kawa den tyrannischen Herrscher Dehak von seinem Thron und befreite das unterdrückte Volk. Heute kämpfen die Kurden noch immer für ihre Unabhängigkeit, und der 21. März – der Tag, an dem Newroz begangen wird – steht symbolisch für dieses Ziel.
Im von der Türkei kontrollierten Nordkurdistan rief die Partei der Emanzipation und Demokratie der Völker (Dem) – ehemals »HDP« abgekürzt – unter dem Motto »Dies ist die Zeit der Freiheit und des Sieges! Steht auf!« zu den Feierlichkeiten auf. Alljährliches Highlight ist dabei das Fest in Diyarbakir, das am Donnerstag von Hunderttausenden besucht wurde. Das Programm begann mit einer Schweigeminute im Gedenken an alle, die im Kampf für Freiheit ihr Leben ließen, so wie Kemal Kurkut, ein junger Kurde, der 2017 beim Newroz-Fest von türkischen Polizisten getötet worden war.
Die diesjährigen politischen Forderungen griff der Dem-Kovorsitzende Tuncer Bakırhan in seiner Rede auf: Er forderte ein Ende der Kriegspolitik der Türkei, einen gerechten Frieden und ein Zusammenkommen der Opposition, die bezüglich der Kurden endlich »mutig« sein solle. Ebenso insistierte er auf rechtliche Anerkennung und rief die kurdischen Parteien zur nationalen Einheit auf.
Für die Dem war es ein Glücksfall, dass die Neujahrsfeierlichkeiten während des Wahlkampfs für die Kommunalwahlen am 31. März stattfanden. So konnte sie ein wenig Schwung in ihre Kampagne bringen, woran es vor dem Fest gefehlt hatte. Die kurdischen Wähler haben wenig Neues zu erwarten: Wie bereits seit acht Jahren dürften auch diesmal gewählte Bürgermeister der Dem kurz nach der Abstimmung von der Regierung abgesetzt und durch staatliche Treuhänder ersetzt werden.
Die Partei wollte sich jedoch nicht demotivieren lassen und ließ mittels Vorwahlen die Kandidaten bestimmen, um eine stärkere Bindung zur Basis herzustellen. Diese Beziehung war zuletzt bei den Parlamentswahlen schwächer geworden – auch, weil auf den Listen Kandidaten gelandet waren, die nicht aus der Region kommen und die Lebensrealitäten vor Ort nicht kennen. Im großen und ganzen liefen die Vorwahlen ohne Probleme ab, zeigten aber auch Schwächen – so etwa in Bitlis und Bingöl, wo sich lange Zeit keine einzige Frau bewerben wollte.
In Istanbul hatte die Dem vor fünf Jahren noch den siegreichen Kandidaten der kemalistischen Oppositionspartei CHP, Ekrem İmamoğlu unterstützt. Der zeigte sich kaum dankbar, gilt im Vergleich mit der Regierungspartei AKP aber dennoch als bessere Option. Zwar geht die Dem in diesem Jahr in Istanbul mit eigenen Kandidaten ins Rennen, doch das hat mehr den Charakter einer gesichtswahrenden Lösung: Die zunächst angedachte Kandidatin Başak Demirtaş – Ehefrau des politischen Gefangenen Selahattin Demirtaş – war plötzlich kein Thema mehr – wohl auch aus Sorge, sie könne der CHP zu viele Stimmen abgraben. Mit den Kandidaten Murat Çepni und Meral Danış Beştaş steht die Dem zwar auf dem Wahlzettel, wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihr volles Wahlpotential in Istanbul abschöpfen können, so dass İmamoğlu etwas mitunterstützt werden wird.
Zu schaffen machen der Partei 54.000 Neuwähler. Anfang März veröffentlichte die Dem eine Liste, die alle neu hinzugezogenen Wähler nach Bezirken auflistet. Darunter finden sich zahlreiche Orte, in denen die AKP nur knapp verloren hatte. Dagegen vorzugehen ist indes unmöglich: Die neu Zugezogenen sind zumeist Polizisten und Militärs und offiziell aus »Sicherheitsgründen« vor Ort.
Langfristig gedacht ist die staatliche Unterstützung für die kurdisch-islamistische Partei Hüda Par. Während die Dem mit Repressionen zu kämpfen hat, Redebeiträge schnell zu Verurteilungen führen können und Demonstrationen für sie untersagt sind, konnte die Hüda Par in Batman ohne weiteres für die »Anerkennung des Kurdischen« demonstrieren. Ihr Vorsitzender Zekeriya Yapıcıoğlu forderte kürzlich sogar, dass es möglich sein müsse, über eine Autonomie für Kurdistan zu diskutieren. So soll eine staatsnahe Partei enttäuschte Wähler auffangen und die Region nach AKP-Vorstellungen islamisieren.
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