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Aus: Ausgabe vom 21.03.2024, Seite 5 / Inland
Verkehrspolitik

Chronischer Betriebsunfall

»Alternativer Geschäftsbericht 2023« zur Bahn: Fiasko »Generalsanierung«
Von Ralf Wurzbacher
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Liegt am Boden: Infrastruktur der Bahn. Vielerorts ist sie verschlissen, auch an Verkehrsknotenpunkten (Duisburg, 18.8.2022)

Heute legt die Deutsche Bahn (DB) die Jahresabschlusszahlen für 2023 vor. Egal, wie schlecht oder gut sie ausfallen werden, zur Beschreibung des desolaten Zustands des Staatskonzerns und des Systems Schiene in der Bundesrepublik taugen sie kaum bis gar nicht. Da gibt es besseren Lesestoff. Am Mittwoch präsentierte die Initiative »Bürgerbahn« (ehemals »Bürgerbahn statt Börsenbahn«) wie jedes Jahr am Vortag der offiziellen Bilanzpressekonferenz ihren »Alternativen Geschäftsbericht«.

Der Report ist eine krachende Abrechnung mit einer Unternehmenspolitik, die in drei Jahrzehnten aus einer einst bestens funktionierenden Bahn einen chronischen Betriebsunfall gemacht hat. »DB AG. Weiterhin ein Generalsanierungsfall«, lautet der Titel der Textsammlung. Sie handelt auf 160 Seiten und mit knapp 50 Einzelbeiträgen eine Vielzahl an Baustellen ab: irrwitzige Prestigeprojekte, verschlissene Infrastruktur, gierige Vorstände, teure Auslandsaktivitäten, Hochgeschwindigkeitswahn, hausgemachter Personalmangel.

Stichwort »Generalsanierung«: Dafür sieht auch die Bahn die Zeit gekommen, allerdings verspricht diese eine mindestens sechsjährige Dauerstörung. Dabei schaffte die DB erst im Vorjahr einen neuen Negativrekord in puncto Unpünktlichkeit. Von den Fernzügen trafen im Schnitt 36 Prozent zu spät ein, also mindestens 5,59 Minuten überm Soll. Das wird bestimmt bald getoppt. Um das marode Netz in Schuss zu bringen, sollen ab diesem Jahr bis 2030 über drei Dutzend Hochleistungskorridore mithin für Monate gesperrt werden.

Anderorts, etwa bei den Eidgenossen, ist es üblich, solche Arbeiten »unterm laufenden Rad« zu erledigen. Diese »Kunst der Erhaltung der Infrastruktur« ohne Betriebseinschränkungen habe die Bahn »verlernt«, konstatiert Mitautor Benedikt Weibel, einst langjähriger Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). An anderer Stelle hatte er die Pläne als »selbstmörderisch« und »Abgewöhnungsprogramm für Bahnkunden« bezeichnet, Bürgerbahn erwartet ein »Fiasko«.

Das Vorhaben provoziert weitere Absurditäten. Wie Joachim Holstein schreibt, bezieht die DB von Siemens Mobility mehr neue ICE-4-Einheiten, als angesichts der künftigen Streckenblockaden gebraucht werden. Deshalb rangiert sie eifrig alte Lokomotiven und Zuggarnituren aus, die eigentlich noch fahrtüchtig sind. Bevorzugt werden diese ins Ausland verkauft, nur damit sie nicht der einheimischen Konkurrenz in die Hände fallen.

Weil das Rollmaterial nicht selten über Umwege doch wieder auf dem deutschen Markt landet, tut der Konzern inzwischen so, als habe er gar nichts im Angebot und lässt Interessenten abblitzen. Statt also die Fahrzeuge entweder aufzurüsten oder gewinnbringend zu veräußern, lässt man sie lieber vergammeln und verschrotten. »Mit Nachhaltigkeit und schonendem Umgang mit Ressourcen hat das alles nichts zu tun«, so Holstein. Dafür passt der Name, unter dem der Geschäftszweig firmiert: »Stillstandsmanagement.«

Einer »Sanierung« bedürfe es insbesondere im Bereich des Managements, fordert Bürgerbahn. Den meisten Vorständen fehlten die nötigen eisenbahntechnischen und verkehrskonzeptionellen Qualifikationen. Kritisiert wird einmal mehr die einseitige Verteilung der viel zu knappen Investitionen auf wenige überteuerte Groß- und unsinnige Immobilienprojekte, während der ländliche Raum einer »dramatischen Vernachlässigung« anheimfalle und Hunderte wichtiger Reaktivierungen nicht vorankämen. Dagegen explodierten bei »Tunnelorgien« wie »Stuttgart 21« die Kosten und Bauzeiten – zudem werde unnötig viel CO2 freigesetzt. »S21 macht aus einem gut funktionierenden Bahnknoten einen schlimmen Kapazitätsengpass.«

Die Initiative plädiert für das Prinzip »Takt vor Tempo« und verlangt, dass der vorwiegend für den Nahverkehr initiierte »Deutschlandtakt« nicht auf den Sanktnimmerleinstag verschoben wird. Vor einem Jahr hatte der Bundesschienenverkehrsbeauftragte Michael Theurer (FDP) die Taktrealisierung auf das Jahr 2070 datiert. »Manche reden sogar angesichts von Mittelkürzungen für die Bahn schon von 2090«, heißt es im Alternativbericht. Faktisch würden damit die Klimaziele der Ampelregierung im Bereich Schiene bis 2030 ebenso aufgegeben wie die in der DB-Konzernstrategie »Starke Schiene« genannten Mengenziele.

Bürgerbahn/Heiner Monheim (Hg.): DB AG. Weiterhin ein Generalsanierungsfall. Alternativer Geschäftsbericht Deutsche Bahn 2023. Kasseedorf-Stendorf 2024, 160 Seiten, kostenlos

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