4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 20.04.2024, Seite 6 / Ausland
Besetzte Westbank

Von der Landkarte getilgt

Besetzte Westbank: Lemkin-Institut spricht von Völkermord in ganz Palästina, Human Rights Watch dokumentiert Gewalt und Vertreibung
Von Anne Herbst, Ramallah
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Alltag unter israelischer Besatzung: Festnahme eines Palästinensers am Sonnabend nahe Duma

Die israelischen Besatzer schrauben die Gewaltspirale hoch. Der Slogan »Dein Dorf soll brennen!«, der seit Jahren auf Demonstrationen der ultrarechten Siedlerbewegung zu hören ist und auf T-Shirts Verbreitung findet, wird seit dem 7. Oktober praktisch umgesetzt wie selten zuvor. Der noch nicht aufgeklärte mutmaßliche Mord an dem israelischen Hirtenjungen Benjamin Achimeir aus Malachi Hashalom, einem illegalen Siedleraußenposten, ist offenbar willkommener Anlass, um die Gewaltorgien in der Westbank auf einen neuen Höhepunkt zu treiben. »Sie haben versucht, unser Haus mit Benzin anzuzünden und niederzubrennen«, erzählt ein Palästinenser in dem südöstlich von Nablus gelegenen Dorf Duma, der sich mit seinen zwei kleinen Töchtern in dem Gebäude befand – sie kamen knapp mit dem Leben davon. Dass der Terror kein Ende findet, zeigen jüngste Übergriffe auf Dörfer wie Bitello westlich von Ramallah, wo Siedler in Wohngebiete schossen.

Neue Quantität

Der israelische Verteidigungsminister Joaw Gallant hatte zwar vor Selbstjustiz gewarnt. Aber der kahanistische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir rief zur »Ausweitung jüdischer Siedlungen« auf – ein Freibrief nicht nur für den paramilitärisch organisierten Lynchmob: Wie zahlreiche Videos belegen, flankieren reguläre Armee-Einheiten die Ausschreitungen der Siedler oder beteiligen sich aktiv daran. Statt die Täter zu verfolgen, wurde eine Verhaftungswelle in palästinensischen Städten und Flüchtlingslagern wie Nablus, Hebron, Al-Bira, Schuafat in Ostjerusalem und Ain Sultan in Jericho ausgelöst: Laut lokalen Medien sind bereits mehr als 50 Menschen, darunter Kinder, betroffen. Heimliche Aufnahmen zeigen israelische Soldaten, die in Kalandia und in der an Ramallah grenzenden Stadt Beitunia Jugendliche auf der Straße zusammenschlagen, bevor sie sie verschleppen. Andere Orte, etwa Tulkarm, ein Zentrum des palästinensischen Widerstands, werden von israelischen Truppen gestürmt, Soldaten dringen in Häuser ein, lassen Hunde auf Verdächtige los, zerstören die Infrastruktur und feuern Gasgranaten auf die Bevölkerung ab.

Die Komplizenschaft der israelischen Streitkräfte mit dem rechten Terror hat eine neue Quantität erreicht. »Israelische Siedler haben Palästinenser angegriffen, gefoltert und sexualisierte Gewalt gegen sie verübt, ihre Telefone, Autos und ihr Vieh gestohlen, gedroht, sie zu töten, wenn sie nicht endgültig gingen, ihre Häuser und Schulen zerstört«, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Report von Human Rights Watch. »Berichten zufolge wurde die israelische Polizei, die für die Strafverfolgung zuständig ist, angewiesen, das Gesetz nicht gegen gewalttätige Siedler durchzusetzen.« Weiter hat die Menschenrechtsorganisation ermittelt, dass bei fast der Hälfte der mehr als 700 Siedlerangriffe, die die UNO in den vergangenen sechs Monaten registriert hat, Soldaten in Uniform dabei waren. Omar Shakir, Leiter von Human Rights Watch Israel und Palästina, veröffentlichte am selben Tag eine noch finsterere Lageanalyse: »Während die Aufmerksamkeit der Welt auf Gaza gerichtet ist, tilgen israelische Siedler und Soldaten palästinensische Gemeinden buchstäblich von der Landkarte«, so Shakir. »Palästinenser aus 20 Gemeinden wurden vertrieben – mindestens sieben davon völlig entwurzelt. Große Gebiete im Westjordanland wurden innerhalb weniger Monate entvölkert.«

Das Lemkin Institute for Genocide Prevention (LIGP) – benannt nach dem polnischen Friedensforscher, Juristen und Urheber des Genozidbegriffs Raphael Lemkin (1900–1959) –, das der »Operation Al-Aksa-Flut« der Hamas eine »völkermörderische Dimension« bescheinigt hatte, schlug schon einige Tage vor der Großoffensive der Siedler Alarm: Die sich auf der Westbank und in Ostjerusalem vollziehenden »Prozesse sind alle Teil eines überwältigenden Vorstoßes seitens der israelischen Regierung, die Palästinenser aus ihrem verbliebenen angestammten Land zu vertreiben. Mit anderen Worten: Israel begeht in ganz Palästina Völkermord an Palästinensern« – und nicht nur in Gaza, erklärte die in den USA ansässige NGO.

Die Mainstreampresse des Westens habe es versäumt, diesen Zusammenhang aufzuzeigen, kritisiert LIPG und betont, dass die Übergriffe im Westjordanland bereits vor dem 7. Oktober »auf dem besten Weg waren, die Gewalt aller anderen Jahre in der Geschichte zu übertreffen«. Es finde schon seit Jahrzehnten »ein langsamer, struktureller Völkermord an den Palästinensern im Westjordanland« statt – »nun eskaliert er«, so LIPG weiter. Mit der »Entvölkerung palästinensischer Städte und Dörfer und der Ersetzung palästinensischer Ortschaften durch ausschließlich jüdische Gemeinden« werde das Ziel verfolgt, »dauerhaft eine jüdische Mehrheit zu schaffen, vom Fluss bis zum Meer«, paraphrasiert LIPG die Kernaussage der Großisrael-Agenda, die Benjamin Netanjahus Likud-Partei 1977 zu ihrer Gründung verabschiedet hatte.

Francesca Albanese, Sonderberichterstatterin zur Menschenrechtssituation in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, schätzt die Lage offenbar ähnlich dramatisch ein. Sie forderte die Vereinten Nationen dazu auf, »den Einsatz einer Schutzpräsenz in den besetzten palästinensischen Gebieten zu genehmigen, mit dem ausdrücklichen Auftrag, Angriffe auf Zivilisten zu verhindern«.

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