Leserbrief zum Artikel Historiker Ernst Nolte gestorben
vom 19.08.2016:
Antiquierter Relativierer
Die Antiquiertheit des Nolteschen Unterfangens, die deutsche Vergangenheit mittels Relativierung der Greueltaten der Hitlerfaschisten zu entsorgen, zeigt sich angesichts der bewaffneten Geopolitik, die das deutsche Marktwirtschaftsimperium heutzutage praktiziert. Der apologetische Faschismusforscher namens Ernst Nolte konstruierte 1986 eine faktenresistente Notwehrtheorie, indem er schrieb, aus Angst vor dem Vernichtungswillen der sowjetischen Bolschewiki, hinter denen er fälschlich »das Judentum« als Drahtzieher gesehen habe, sei Hitler sozusagen vorbeugend zur Vernichtung der Juden und der Bolschewiki geschritten. Regierungshistoriker wie Stürmer und Hildebrand instrumentalisierten Noltes Präventivkriegslegende flugs für die staatspolitische Aufgabe, Kanzler Kohls Deutschland aus dem Schatten des »Dritten Reiches« heraustreten zu lassen (…). Um endgültig aus dem Dunstkreis Hitlerdeutschlands zu treten und unbefangen im imperialistischen Konkurrenzkampf sich zu behaupten, bedurfte es jedoch einer offensiven Geschichtspolitik: Der deutsche Staatsapparat unter Kanzler Schröders Führung distanzierte sich von seiner faschistischen Vergangenheit, indem er die Verfehlungen des Hitlerstaates nicht relativierte, sondern kritisierte. Ein Exemplum für die Tauglichkeit der neuen Memorialkultur sind die Bomben auf Belgrad, welche die Kriegsherren Schröder und Fischer Anno Domini 1999 durch den expliziten Verweis auf die Brutalität des »serbischen Faschismus« zu legitimieren wussten. Seither ist der deutsche Imperialismus stets zur Stelle, wenn es gilt, »humanitäre Katastrophen« durch militärisches Dreinschlagen zu bekämpfen und sich auf diese Weise in der Konkurrenz der imperialistischen Staatsgewalten Vorteile zu verschaffen.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 25.08.2016.