Leserbrief zum Artikel 500 Menschen randalieren in Stuttgart
vom 22.06.2020:
Offene Augen und Ohren
Berlin, Dresden, Leipzig und nun gar Stuttgart: Politik und Medien geben sich fassungslos und überrascht. Die erste Onlinemeldung wusste sofort, die linke Szene sei verantwortlich, was bekanntlich nie falsch sein kann. Dann wurde schnell korrigiert, dementiert. Weder links noch rechts sei Ursache. Es bleibt Ratlosigkeit, allgemeines Unverständnis, von der »hässlichen Seite« ist zu hören. Für Politik und Wirtschaft ist nicht vorstellbar, was (…) an Stimmungen erzeugt wird. Die sprachlosen Eliten sollten über Ursachen nachdenken, vielleicht auch politische Motivationen erkennen, sich in Sozialarbeit mehr umsehen, dafür Geld ausgeben. Es ist keine neue Wahrheit, dass in angeheizter Atmosphäre der kleinste Funke als Auslöser reicht. Die Straße, rebellierende Jugend bis hin zu den berühmten Wutbürgern, spiegelt nichts anderes wider als die Unfähigkeit der Politik, das, was der Bevölkerung zugemutet wird, was sich Eliten selbst leisten und vormachen, und die Ohnmacht dem gegenüber, was in den Mitteln Ausdruck findet. Zerstörung, Gewalt, Plündern sind keine Mittel – wer fragt mal, wem welche Mittel bleiben, wenn ignoriert, weg- und schöngeredet wird, sich nichts ändert? Es geht also um Schuldigensuche. Werden aber auch dort Schuldige gesucht, wo die Verantwortung liegt? Wer wird wie durch die Krise kommen? Die Straße hat Gespür, wenn auch meist keine Erklärung und keinen Verstand. Von Amthor über die Lufthansa bis zu Tönnies (...) – das verstehen alle allein mit zwei Augen und Ohren.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 25.06.2020.